Gefangen im Gezeitenstrom. Robert S. Bolli

Gefangen im Gezeitenstrom - Robert S. Bolli


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Sonnenlicht wird plötzlich weniger. Wie im Kino, wenn das Licht langsam heruntergedimmt wird. Aber ganz dunkel wird es nicht. Eher wie bei Vollmond, obwohl nirgends einer zu sehen ist. Die schwarzen Silhouetten der Bäume und die Konturen der Hügel ringsum sind sehr gut zu erkennen und für einen Augenblick glaube ich zu wissen, wo ich mich gerade befinde.

      Für weitere Gedanken reicht meine Zeit jedoch nicht, denn plötzlich höre ich gurgelnde oder eher saugende Geräusche, vielleicht einhundert Meter vor mir; und die Strömung wird immer schneller. Dann sehe ich in diesem merkwürdigen Licht- und Schattenspiel das sich leicht kräuselnde Wasser und im nächsten Augenblick den riesigen Wirbel, der beinahe die ganze Flussbreite einzunehmen scheint.

      Helle Panik ergreift mich, als mir schlagartig bewusst wird, dass ich nicht mehr ans rettende Ufer schwimmen kann. Mein Herz rast und ich versuche mit wilden Schwimmbewegungen meinem Schicksal zu entrinnen. Alles zu spät. Ich werde vom Wirbel erfasst. In schneller werdender Rotation zieht es mich hin zum Zentrum, wo die ganze Wassermasse in einem abgrundtiefen Trichter verschwindet. Grauenhaft widerliche Saug- und Schmatzgeräusche begleiten meinen Untergang, bevor ich gänzlich in den Sog gerissen werde …

      Ich weiß nicht, ob ich geschrien habe. Ich erwachte tropfnass geschwitzt mit rasendem Puls und völlig außer Atem. Finsternis umhüllte mich. Ich richtete mich auf und tastete nach dem Lichtschalter. Ich knipste die Nachttischlampe an, zog mein feuchtes T-Shirt aus und rieb damit Brust und Gesicht trocken. Dabei ließ ich meinen Blick mit müden, zusammengekniffenen Augen im Zimmer umherschweifen und augenblicklich begann sich alles zu drehen. Dabei hatte ich am Vorabend gar keinen Alkohol getrunken. Ich sank ins Kissen zurück, ließ jedoch das Licht an. Ich hatte Angst. Angst davor, nochmals einzuschlafen. Ich fühlte mich matt. Trotzdem war ich nicht nur hellwach, nein, ich fühlte mich regelrecht aufgekratzt. Ich wollte nicht mehr einschlafen. Denn ich wusste, meine übelsten Albträume können eine brillante Fortsetzung entwickeln. Darin bin ich ein wahrer Profi.

      Eine Weile lang zermarterte ich meinen Kopf mit dem Versuch, etwas über die Bedeutung des Traumes herauszufinden. Jedoch – da war nichts, das einen Sinn ergeben hätte. Lediglich ein riesengroßes Scheiße quälte sich durch meine Hirnwindungen, aber mein Mund fühlte sich an wie trockenes Leder und war viel zu faul, um irgendetwas, das für meine Psyche von Nutzen gewesen wäre, von sich zu geben.

      Mürrisch stand ich auf, schlich lautlos die Treppe nach unten in die Küche und trank ein großes Glas Wasser.

      Irgendwann war ich dann doch wieder eingeschlafen, denn mein Wecker schreckte mich frühmorgens unerbittlich und mit brutaler Allmacht aus süßestem Schlummer. Diesmal war mein Mund schneller und stieß ein deutlich hörbares „Scheiße!“ hervor. Ich begab mich ins Bad. Im Spiegel betrachtete ich mit müden Augen dieses zerknautschte Etwas, das abends zuvor einmal mein Gesicht gewesen sein musste, aber gegenwärtig eher an eine Symbiose zwischen einer Figur aus der Muppetshow und einer misslungenen Karikatur von Honoré Daumier erinnerte. Und ich hätte darauf wetten können: In meinem tiefsten Unterbewusstsein habe ich geahnt, dass der Tag genauso beschissen enden würde.

       6

      Ich habe mich mit ein paar Beuteln Snacks eingedeckt. Irgendetwas mit Käsearoma und Paprika. Ein weiterer Schultag am Zentrum für Berufsbildung neigt sich dem Ende zu. Mittwochabend. Zirka dreizehn Stunden später werde ich schon wieder auf dem Bau sein. Eigentumswohnungen – gehobener Standard. Plattenbau für diejenigen, die es geschafft haben. Schattenlage, aber Aussicht über die Stadt und Balkone so groß, dass man darauf zu viert Tischtennis spielen kann. Am Kiosk schreite ich zielstrebig zum Kühlregal und schnappe mir eine Dose Energydrink als Stärkung für unterwegs. Damit gehe ich langsam zur Kasse, wo weitere Kunden auf Bedienung warten. Ungeduldig trete ich von einem Bein auf das andere. Dann endlich bin ich an der Reihe. Ein unsicheres „Hi!“ kommt über meine Lippen, als ich das Mädchen sehe.

      Ein gleichgültiges, abgehacktes „Hi!“ wirft sie mir entgegen, aber mit einer anmutigen Bewegung nimmt sie die Dose und zieht sie über den Scanner. „Ein Franken“, sagt sie im gleichen Tonfall.

      Mir schießt das Blut heiß bis in die Ohren. Mein Kopf scheint zu glühen, als sie kurz zu mir hochschaut. Ich stehe wie versteinert da. Sie muss etwa in meinem Alter sein. Vermutlich ist sie eine Schulabgängerin und hat hier kürzlich eine Ausbildung angetreten. Vielleicht auch zehntes Schuljahr, Berufswahlklasse. Schnupperlehre. Jedenfalls etwas, das doch nicht so ganz ihren Erwartungen zu entsprechen scheint.

      „Was ist? Hast du kein Geld dabei?“, fragt sie nun etwas ungeduldig.

      „Äh, ja … doch … natürlich!“, stottere ich und klaube umständlich ein Frankenstück aus meinem Geldbeutel, das ich ihr mit zitternden Fingern über die Theke reiche.

      „Danke“, sagt sie und wirft das Geldstück mit einer gleichgültigen Geste in die Kassenschublade.

      Sie sieht wirklich verdammt gut aus. Ihre schulterlangen schwarzen Haare geben den Rahmen für ein wunderschönes, makelloses Gesicht. Auf ihren dunkelbraunen, vollen Lippen hat sie lediglich etwas metallisch glänzendes Lipgloss aufgetragen und an der rechten Augenbraue trägt sie ein Piercing. Dann entdecke ich das Tattoo, das die Innenseite ihres rechten Unterarmes ziert. In der Eile kann ich das Motiv nur flüchtig erkennen. Aber es durchzuckt mich wie ein Blitz. Etwas in der Art eines chinesischen Drachens. Ein anerkennendes „Wow!“ zischt durch meine Gedanken, aber für mehr reicht es nicht. Hinter mir wartet bereits wieder eine ungeduldige Menge Kundschaft. Ein flüchtiges „Tschüss“ gebe ich von mir und schlendere dem Ausgang zu.

      Unschlüssig bummle ich über den Platz und biege in die Vorstadt ein. Der Abend ist noch jung und ich habe genügend Zeit, in meinem Plattenladen vorbeizuschauen. Meine linke Hand steckt in der Gesäßtasche, mit der rechten wühle ich mich durch die alphabetisch geordneten CDs. Ich suche keine besondere Scheibe. Ich will auch keine kaufen. Ich brauche nur etwas Zerstreuung. Mit meinen Gedanken schweife ich immer wieder woanders hin – zu dem Mädchen vom Kiosk. Diese Lippen. Das Tattoo. Die anmutige Bewegung mit diesen feinen Händen! Alles an ihr fasziniert mich. In meinem Bauch beginnt es zu kribbeln und ich kann an nichts anderes mehr denken. Nur eines weiß ich: Ich muss sie unbedingt wiedersehen. Ich verlasse den CD-Shop und peile die Bahnhofstraße an, wo ich den Trolleybus nehme, der mich nach Hause bringt.

      „Hallo zusammen!“, rufe ich in den Hausflur hinein, als ich die Eingangstür aufstoße und eintrete. Anstelle eines Grußes dringt das Gequassel des viel zu laut aufgedrehten Fernsehers an meine Ohren. Irgendeine Doku-Soap mit Haustieren flimmert über den Bildschirm. Mein Opa hat sich auf dem Sofa hingelümmelt und starrt wie gebannt auf den TV, als irgendein Tierarzt in irgendeiner durchgestylten Klinik für die Viecher der Schicki-Micki-Elite einem potthässlichen Designerköter ohne Fell, dafür mit spitzen Ohren, aus denen graue Haarbüschel hervorsprießen, eine Spritze mit einem Antirheumatikum verpasst. In China hätte man einem solchen Ding längst eins über die Rübe gezogen und es in die Pfanne gehauen. Soll angeblich vorzüglich schmecken, so an einer braunen Soße, mit Bratkartoffeln, Karotten und Zwiebelringen. Aber das ist nur so eine Vermutung.

      „Auf der A4 im Weinland hat es schon wieder gekracht“, lässt nun der Opa als Gruß vernehmen. „So ein Volltrottel hat es doch geschafft, die falsche Auffahrt zu nehmen. Dann gab’s einen Frontalen! – Hast du gehört?“

      „Jaah“, sage ich ziemlich gleichgültig.

      Offenbar sind das die einzigen Themen, die meinen Großvater interessieren. Menschen und Tiere im TV. Dann kann er sich wenigstens noch einbilden, irgendwie mit der Außenwelt in Verbindung zu stehen. Egal, es soll ja auch Leute geben, die sich wochenlang Big Brother reinziehen. Das ist doch echt krank.

      „Mutter kommt später nach Hause. Sie ist noch für die Büroreinigung weg. In der Pfanne auf dem Herd liegt ein Stück Fleischkäse. Du sollst es dir warm machen, mit einem Spiegelei zusammen, hat sie gesagt.“

      Ich bin echt begeistert.

      Kürzlich hat sich Mum für einen Job als Putzfrau am Hauptsitz der Regionalbank beworben. Angeblich, um ihr Taschengeld aufzubessern. Sie hat ihn tatsächlich bekommen.


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