Gefangen im Gezeitenstrom. Robert S. Bolli

Gefangen im Gezeitenstrom - Robert S. Bolli


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zahlreich wie die Charaktere sind, die er kreiert hat. Ja, Gott hätte wissen müssen, dass es Menschen gibt, die Dinge kritisch hinterfragen und manchmal Wege beschreiten, die für andere nicht nachvollziehbar sind. Menschen sind darum Menschen, weil sie oftmals Dinge tun, für die das Prädikat Vernunft nie zutreffen wird, aber dennoch zum Erreichen eines persönlichen Zieles von Vorteil sind. So betrachtet erscheint es als völlig normal, alles für vernünftig zu erklären, was wir begehren. Die Sache mit der Entscheidungsfreiheit ist auch immer mit der Frage des persönlichen Standpunktes verbunden. Im Grunde ist es das Gleiche, ob ich meinen Ehepartner mit einem Seitensprung betrüge oder ob ich den roten Knopf drücke und so einen nuklearen Genozid auslöse. Grundmotiv kann in solchen Fällen nie Vernunft sein, sondern einzig und allein die Aussicht auf persönlichen Gewinn. Das allein erklärt die Frage, warum Milliarden für die Aufrüstung der Armeen ausgegeben, aber kaum Gelder zur Bekämpfung des Hungers in der Welt zur Verfügung gestellt werden. Wie wir mit solchen Missständen umgehen, liegt ebenfalls in der Natur des Menschen. Es ist jedem einzelnen gegeben, damit glücklich zu leben oder daran zu zerbrechen. Vielleicht liegt es auch in unseren Genen – oder es ist eine Eigenschaft unseres Charakters, für welche Wege wir uns entscheiden, unser Seelenheil zu erlangen. Auch daran hätte Gott denken müssen.

      Dennoch habe ich dem Pfarrer die Bibel hingeschmissen und gesagt, dass ich mich in keiner Weise einer dieser Volksgruppen weder verpflichtet noch sonst wie angehörig fühle. Nur, dass ich mit dem Pech gesegnet bin, Teil einer sogenannten Familie zu sein, wo Begriffe wie Treue, Gemeinsamkeit, Fürsorge, Geborgenheit, aber auch Kreativität, Begeisterung, Zuneigung, Lust, Liebe, Ekstase nicht nur Fremdworte sind – nein, solche Dinge sind bei uns schlicht inexistent!

      In diesem Milieu also, zwischen bürgerlich-religiösem Mief und anrüchigem nachpubertärem Rebellentum, bin ich aufgewachsen. Und diese Verhältnisse widern mich noch heute an. Es ist zum Kotzen. Eines Tages wird diese Atmosphäre in blanken Hass umschlagen, wenn sich nicht bald etwas ändert. Nicht meine Alten mit ihren eigenwilligen, oft bizarren Lebensstilen hasse ich – nein, vielmehr hasse ich dieses verkappte System Familie. Für mich ist sie lediglich ein Apparat, dafür vorgesehen, jegliche Gefühle im Keim zu ersticken.

      Eigentlich hätte ich unter diesen Bedingungen alle Freiheiten der Welt haben können, jedoch habe ich sie wie Treibholz im Fluss ungenutzt davonziehen lassen. Vermutlich bin ich einfach ein wenig zu scheu und habe es eben nie richtig gelernt, in gewissen Situationen nicht nur selbstsicher, sondern richtig forsch aufzutreten. Eigentlich hätte ich längst abhauen müssen. Aber ich weiß nicht so richtig wie und wohin. Letztlich kenne ich niemanden außerhalb der Stadt.

      Erschwerend kommt dazu, dass ich als Kind, aufgrund meiner dürren, schon fast kränklich wirkenden Gestalt, nahezu pausenlos gepiesackt wurde, entweder von den Mitschülern, weil ich in deren Augen einer war, der zu nichts taugt, schon gar nicht zu sportlichen Anlässen, oder dann von den Lehrern, die in mir nur einen schüchternen und dummen Jungen sahen, bei dem sowieso Hopfen und Malz verloren schien.

      Mit anderen Worten: Ich war damals auf dem besten Weg, ein völliger Versager, ein Verlierer zu werden, der später einmal zu nichts zu gebrauchen wäre und der Leistungsgesellschaft nur im Weg herumstünde.

       4

      Ich schlenderte über den großen verkehrsfreien Platz und steuerte den Supermarkt auf der gegenüberliegenden Seite an. Ich hatte mir das zur Gewohnheit gemacht. Schon während meiner Schulzeit: Nach Feierabend mit Kameraden noch schnell beim Mac eine Cola oder einen Smoothie zu genießen oder später, so ab dem achten Schuljahr und erst recht mit Beginn der Berufsausbildung, mit Charly ein Dosenbier aus dem Tankstellenshop zu trinken oder sonst wie in der Stadt herumzubummeln und durch trendige Modeboutiquen zu stöbern. Auf jeden Fall: bloß nicht sofort nach Hause gehen!

      Ich hatte zwar selten genügend Taschengeld. Mein Opa hielt es für wichtig, jeden Cent zweimal umzudrehen, und darum hielt er mich stets auf Sparflamme, und meine Mum zelebrierte sowieso die lebenslänglichen Hungerspiele. Sie war lange Zeit Stammkundin des Brockenhauses der Heilsarmee, kochte jeden Teebeutel zweimal aus und gelegentlich gab es schon mal etwas zwischen die Zähne mit Fristverfall. Dann konnte sie gnadenlos etwas auftischen, wo zuvor bereits ein paar graue Sporenfäden Fuß gefasst hatten. Das kam oft dann vor, wenn sie es versäumt hatte, Essensreste rechtzeitig in den Kühlschrank zu stellen. Sie schüttete einfach noch etwas Salz dazu und behauptete ganz cool, was uns nicht umbringt, das stärkt uns! Okay, offenbar hat es mich gestärkt, und Opa hat von all dem eh nichts mitgekriegt. Möglicherweise haben die verschiedenen Arten von Schimmelpilzen seiner Demenz Vorschub geleistet. Anyway.

      Aber so ein Shoppingbummel durch die Boutiquen kann enorm vom Alltag ablenken und wirkt extrem inspirierend, auch wenn man gar nichts einkauft. Wenn ich trotzdem einmal etwas haben musste – zum Beispiel ein cooles Paar Freizeittreter – und ich wieder einmal nicht bei Kasse war, genügte ein kurzer Hinweis – meist reichte die Ausrede, dass ich das Geld für ein Geburtstagsgeschenk für einen Klassenkameraden brauche – und schon steckte mir Mum einen roten oder einen grünen Schein zu.

      Ich hatte die Schnauze gestrichen voll von all den gut gemeinten Spartipps und Ratschlägen meiner Alten und den Billigklamotten aus dem Second-Hand-Laden beziehungsweise aus dem Textildiscounter unweit der Grenze, in der deutschen Nachbarschaft. Ich hatte es einfach satt, immer im Abseits zu stehen. Ich wollte dazugehören. Und ich versuchte dies, indem ich gelegentlich CDs und DVDs kaufte, die ich dann voller Stolz meinen Mitschülern auslieh, die sich solche Dinge nicht leisten konnten oder wollten, und ich ergänzte meine Garderobe mit poppig-trendigen Klamotten, nicht unbedingt mit siebzigfränkigen Tommy Hilfiger-T-Shirts, aber doch solchen Sachen, womit man sich durchaus in der Öffentlichkeit sehen lassen konnte. Jedoch hatten all meine Bemühungen nicht verhindern können, dass ich ein Außenseiter blieb. Wie gesagt, diese schmerzliche und zutiefst verletzende Erfahrung musste ich bereits als Schüler machen, aber das hing möglicherweise auch von anderen Faktoren ab, die ich damals noch nicht vollständig auf die Reihe kriegte.

      Dann geschah etwas, das für mich für die folgenden Jahre von besonderer Bedeutung war. Ich war damals gerade vierzehn Jahre alt geworden, als ich unfreiwillig Zeuge einer Schlägerei auf dem Pausenhof meiner Schule wurde. Und das kam so:

      Da war dieser kräftige, ungehobelte Bursche, der sich gelegentlich auf unserem Schulhof herumtrieb, obwohl er gar nicht aus unserem Quartier stammte und den darum niemand so richtig kannte. Ich wusste nur, dass er Häuptling genannt wurde. Die meisten von uns bezeichneten ihn jedoch nur als der Kanake. Aber niemand wusste, von wo er genau herkam. Niemand wusste Bescheid, weder über die Herkunft seiner Familie, noch über die Art und Weise, wie seine Eltern den Lebensunterhalt bestritten. Eines Tages waren sie einfach einmal da. Mit Sack und Pack, Kind und Kegel. Sie lebten anfänglich zurückgezogen in einer kleinen Sozialwohnung am Stadtrand. Den Jungen steckte man kurzerhand in eine altersgerechte Primarschulklasse. Sprachprobleme? Ach was, bei einem Ausländeranteil von achtzig Prozent genau die richtige explosive Mischung von Döner-Englisch und Pseudo-Schweizerdeutsch mit kanakischem Akzent.

      Was soll’s? Er war eben einer dieser Typen, die längst nicht mehr auffallen, wenn sie dem Unterricht fernbleiben. Im Gegenteil: Die Klassenlehrer und ihre braven Minderheiten mit dem eingebrannten Schweizerkreuzchen auf der Stirn, die Angepassten, die jeden vorgekauten Schrott dankbar aufnehmen und nachplappern, ohne zuvor den eigenen Verstand eingeschaltet zu haben, die Wendehälse, die ich verächtlich als Windsäcke bezeichne, weil sie nach dem jeweiligen Wind flattern, der gerade weht, die Mit-dem-Strom-Schwimmer, weil es eben bequemer ist, als gegen etwas anzukämpfen, die Abwartenden, die gar nichts tun, und die Berechnenden, die wirklich nicht den kleinsten Finger krümmen, ohne zuvor gründlich ihre Risiken kalkuliert zu haben, die vielleicht gerade deswegen erfolgreich durchs Leben schreiten, weil sie niemals ihr Tun und Lassen auf etwaige Folgen für ihr Umfeld hinterfragen, von den übrigen Klassenkameraden geringschätzig als die Anderen bezeichnet, sind sogar froh darüber. Ein Störfaktor weniger.

      Wenn es ums nackte Überleben geht, sind der Satz des Pythagoras und Schillers Gedicht von der Glocke schlechte Hilfen. Diese Erfahrung hat der Häuptling wohl schon in frühester Kindheit mit auf den Weg bekommen.

      Einer


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