Buddhas Tausend Gesichter. Fred von Allmen
nahe. Es ist der Prinz Siddhartha, der zukünftige Buddha.9
Prinz Siddhartha sucht nun einen Lehrer. So zieht er im ganzen Land umher, bis er die besten Meister seiner Zeit findet. Er ist ein schneller und gelehriger Schüler, und es dauert nicht lange, da hat er alles gemeistert, was ihm diese Lehrer beizubringen vermögen. Zuerst verbringt er einige Zeit bei Alara Kalama, einem bekannten Meister, der die Meditation der sieben Versenkungsstufen (jhana/dhyana) lehrt. Als Siddhartha diese verwirklicht hat, lädt ihn der Meister ein, an seiner Seite zu lehren. Obschon diese Meditationszustände gewaltige Höhen und Weiten des Seins eröffnen, obschon Zustände höchster Glückseligkeit und Einheit erfahren werden, spürt der Prinz-Asket, dass er noch nicht die endgültige innere Befreiung erlangt hat. Er zieht weiter.
Als Nächstes sucht er Uddaka Ramaputta auf. Von diesem Weisen heißt es, dass er eine weitere, die achte Versenkungsstufe beherrscht: den Zustand der »Weder-Wahrnehmung-noch-Nicht-Wahrnehmung«, den Gipfel aller möglichen Erfahrungen innerhalb des bedingten Seins. Auch diese Stufe meistert der Prinz. Doch auch jetzt ist in ihm die Gewissheit, das Ende seines Weges und seiner Suche noch nicht erreicht zu haben.
Nicht nur zu jener Zeit, sondern auch heute noch, gibt es spirituelle Traditionen, in denen die Meditation des »gesammelten und ruhevollen Verweilens« (samatha/shamata) und die Verwirklichung der bereits erwähnten Stufen der Versenkung, als letztendlicher Weg der Befreiung gesehen werden. Obschon diese Sammlungs- und Versenkungsstufen außerordentlich tiefe, reinigende und klärende Zustände von Herz und Geist sind, die unserer Meditation erst die Festigkeit und Tiefe verleihen, ohne die wir immer wieder mit Unklarheit und Zerstreuung kämpfen müssen, haben sie nicht die Kraft, Herz und Geist endgültig von der Macht der täuschenden und quälenden Zustände (kilesa/klesha), zu befreien und somit das Ende allen Leidens zu ermöglichen.
Prinz Siddhartha hat nicht nur die innere Klarheit, dies zu erkennen, sondern auch die Ehrlichkeit und den Mut, einmal mehr die Konsequenz daraus zu ziehen: Obwohl seine Lehrer, die größten Meister der Zeit, ihn einladen, an ihrer Seite zu lehren – ein sicher verlockendes Angebot, das Reputation und hohen spirituellen Status verspricht und das nicht nur damals etliche vermutlich gerne angenommen hätten –, macht er sich auf den Weg, um weiter zu suchen.
Der Buddha wird später immer wieder nach Kriterien gefragt, nach denen man beurteilen könne, ob ein Weg, eine Praxis hilfreich und befreiend sei oder nicht. Zu jener Zeit, wie heute, sind zahlreiche Gurus unterwegs, die behaupten, den wirklich befreienden, den einzigen oder zumindest den schnellsten Weg zu lehren. Der Buddha schlägt vor, man solle das, was gelehrt wird, nicht einfach glauben, weil es aus einer alten Tradition stammt oder weil die lehrende Person eine Autorität zu sein scheint oder weil ihre Rede ergreifend und überzeugend klingt.
Vielmehr solle man so vorgehen wie beim Prüfen von Gold: Dieses muss gekratzt, gerieben und durch Säure und Feuer getestet werden. Was letztlich all den Prüfungen standhält, kann als echt angesehen werden. Das bedeutet, dass wir selbst ernsthaft und gründlich überprüfen müssen, was für uns stimmt, indem wir das Gehörte anwenden und herausfinden, ob es heilsam ist und zu Segen und Wohl führt. Dies ist eine Aufforderung zur Selbstverantwortung und verlangt Interesse, Mut, Unabhängigkeit, Selbstvertrauen und große Ehrlichkeit, vor allem sich selbst gegenüber. Natürlich verlangt es von uns mehr als das Anhören von ein paar Belehrungen oder die Teilnahme an einigen Meditationsabenden. Wir müssen uns wirklich mit der Praxis auseinandersetzen und sie über längere Zeit konsequent üben. Dann werden wir selbst wissen, ob sie uns dahin führen kann, wo wir hingehen möchten. Genau das hat der zukünftige Buddha getan, er hat praktiziert und geprüft – und dann seine ersten Lehrer verlassen, um seine Suche fortzusetzen.
Der Weg der Askese
Die Unbeirrbarkeit, mit der sich Prinz Siddhartha der weiteren Praxis widmet, die Entschlossenheit, mit der er die Tiefen seines eigenen Wesens erforscht, um klar zu sehen, ist äußerst beeindruckend. Nachdem er seine beiden Lehrer verlassen hat, wendet er sich auf der Suche nach endgültiger Befreiung den damals weit verbreiteten Methoden der extremen Askese zu. Selbst-Kasteiung der härtesten Art gilt damals als bestes Mittel, die Kräfte des Verlangens und der Begierde zu überwinden und somit innere Befreiung und unerschütterlichen Frieden zu verwirklichen.
Eine der Methoden, die er kennenlernt, um das innere Getriebenwerden, das Verlangen nach Sein, die Begierde in Geist und Herz zum Versiegen zu bringen, besteht darin, den Atem zu stoppen. Der Buddha beschreibt später, wie er sich darin geübt hat, den Atem anzuhalten, bis die Luft durch die Ohren, dann sogar durch die Augen herausbirst, und wie er den Atem schließlich völlig anhalten kann, bis er ohnmächtig umfällt und man ihn für tot hält. Doch nach einer Zeit kommt er auch bei dieser Methode zu dem Schluss, dass er dadurch vollständigen inneren Frieden nicht finden wird.
Prinz Siddhartha praktiziert auch das Überwinden der Angst. In den Dschungeln Indiens gibt es Gründe genug, sich zu fürchten. Tiger, Elefanten und Kobras leben in diesen damals über weite Strecken menschenleeren Gebieten. Der zukünftige Buddha sitzt mit gekreuzten Beinen in Meditationshaltung unter den Bäumen oder übt Gehmeditation. Dabei nimmt er sich vor, immer dann, wenn Angst ihn zu überwältigen droht, die Position beizubehalten, die er in dem Moment gerade innehat, wenn Angst in ihm aufsteigt. Wenn er da sitzt und in der Ferne – oder gar in der Nähe – einen Tiger hört, bleibt er so lange sitzen, bis die aufgekommene Angst wieder vergangen ist. Wenn er Gehmeditation übt und die Angst kommt, geht er so lange weiter, bis die Angst verschwunden ist. Wenn er sich niedergelegt hat und die Angst ihn packt, bleibt er so lange liegen, bis die Angst sich wieder aufgelöst hat.
Seine Begierde sucht er zu überwinden, indem er sich in extremem Fasten übt. Seine täglich einzige Mahlzeit reduziert er zunächst auf eine Handvoll Reis, dann isst er nur eine Handvoll Reis pro Woche und dann noch weniger – bis er schließlich ein einziges Reiskorn und dann ein einziges Sesamkörnchen pro Woche zu sich nimmt. Als er seinen Magen anfassen will, berührt er dabei die Wirbelsäule.
Letztlich muss er aber feststellen, dass keine dieser asketischen Praktiken ein Weg zur Befreiung ist. Zwar hat er – nach sechs Jahren der Askese – die Befreiung noch nicht verwirklicht, doch er hat unendliche Geduld und Ausdauer entwickelt. Und auch wenn den meisten von uns eine solch radikale asketische Praxis sehr fern sein mag, so sind die dabei kultivierten inneren Qualitäten und Eigenschaften auch für uns von Bedeutung, denn auf diesem Weg braucht es unendliche Geduld. Sind wir bereit, diese Praxis unser ganzes Leben lang zu üben – mindestens in diesem Leben? Wir können, ja, wir müssen alles in die Praxis hineinlegen, uns ihr hundertprozentig verschreiben. Und trotzdem geht es nur so schnell vorwärts, wie es eben geht. Es gibt keine Instant-Spiritualität, wie es Fertigmahlzeiten oder Instant-Kaffee gibt. Auch wenn man uns das immer wieder mal glauben machen möchte, aber so funktioniert es nicht. Vielmehr handelt es sich um ein immer tieferes Schauen und ein allmähliches Sich-Entfalten.
Einer meiner Lehrer erzählte, wie er als Junge im Garten Karotten gepflanzt hatte. Als nach einiger Zeit grüne Blätter zu sprießen begannen, wollte er wissen, ob unter den Schösslingen auch wirklich Karotten wachsen. Doch der ganze Wachstumsprozess dauerte ihm zu lange. Deshalb beschloss er, an den grünen Blättchen zu ziehen, um so das Wachstum zu beschleunigen. Dass diese Methode nicht funktioniert und sogar kontraproduktiv ist, wissen wir. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Praxis: Was wir brauchen, ist viel Geduld und Ausdauer. Wir brauchen Zeit – aber auch das unentwegte Bemühen, gegenwärtig zu sein, wach zu sein, zu schauen und zu lernen.
Amma Syncletica, eine christliche »Wüstenmutter«, schreibt über die Praxis: »Am Anfang ist es schwierig und braucht viel Arbeit (…) Dann aber folgt unbeschreibliche Freude. Es ist wie wenn man ein Feuer entfacht: Zuerst gibt’s viel Rauch und die Augen tränen, aber später kommt das erwünschte Resultat. So müssen wir das göttliche Feuer in uns entzünden – mit Tränen und Anstrengung.«10
Jeder und jede von uns muss den Weg selbst gehen. Um aber klar und tief sehen zu können, sind optimale innere Bedingungen Voraussetzung. Dazu brauchen wir einen »lang-ausdauernden« Geist. Der chinesische Meister Hsu Yün ist ein gutes Beispiel für diese außerordentliche Eigenschaft des Herzens. Mit 14 Jahren tritt er in ein taoistisches Kloster ein, später wird er als