Jenseits von Ego und Selbst. Bernadette Roberts

Jenseits von Ego und Selbst - Bernadette Roberts


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      Damals machte sich allmählich eine Verlagerung in diesem Sehen bemerkbar. War es anfangs verschwommen und allgemein, so merkte ich bald, daß, wenn ich meinen Blick auf eine Blume, ein Tier, eine andere Person oder ein bestimmtes Ding richtete, sich das Bestimmte langsam in eine verschwommene Einheit zurückzog und sich mir die Besonderheit des Dinges entzog. Rein optisch änderte sich natürlich nichts. Die Veränderung lag lediglich in der Art der Wahrnehmung. Bis dahin war mir nie bewußt, wie sehr ich die Besonderheit aller visuellen Objekte als gegeben hingenommen hatte. Doch mit der 3D-Brille war es nun nicht mehr möglich, Objekte als Einzeldinge wahrzunehmen oder im Bewußtsein zu halten, weil sie entweder verblaßten oder etwas anderem Platz machten oder ich durch sie hindurch sah – ich weiß nicht, was am ehesten zutrifft. Ich möchte hinzufügen, daß ich den Mechanismus der Wahrnehmungsveränderung nicht verstehe, sie aber als eines der wichtigsten Geschehnisse der ganzen Reise betrachte. Sie blieb nicht nur auf Dauer und unumkehrbar Bestandteil der Wahrnehmung, sondern schien auch das notwendige Vehikel zu sein, das mich schließlich zum endgültigen „Sehen“ brachte.

      Wie das geschieht, ist wirklich wunderbar – eine Art Erfahrung, die ohnegleichen ist. Ich wiederhole jedoch, das Wunder liegt nicht im Verlust der Besonderheit des betrachteten Objekts, sondern vielmehr in dem, wozu das Objekt übergeht und worin es sich schließlich auflöst. Ich nannte das zunächst das „Eine“ – und natürlich auch „Gott“.

      Jedesmal zögere ich, das Wort „Gott“ zu gebrauchen, weil anscheinend jeder seine eigenen schalen Bilder und Definitionen mit sich herumträgt und, darin eingenebelt, unfähig wird, aus dem eigenen engen Bezugsrahmen herauszutreten. Falls wir irgendeine Auffassung von dem haben, was Gott ist, sollte sie sich sicherlich wandeln und erweitern, so wie wir selbst uns wandeln und wachsen. Das ist ja das Wesen jeder Lebensregung: zu wachsen, sich zu öffnen und aufzublühen. Den Blumen gleich, die sich völlig umdrehen und dem Licht zuwenden, müssen auch wir uns manchmal ganz herumdrehen, um das zu erkennen, was IST. Da wir nicht wissen, in welche Richtung, müssen wir wie die Blume die Morgensonne abwarten und uns dann mühelos und ohne Widerstand vom Licht anziehen lassen. Welchen Namen wir der höchsten Wirklichkeit auch geben, wir können sie nicht definieren oder zuordnen, weil das Gehirn zur Verarbeitung solcher Daten nicht fähig ist. Worte sind immer nur Beschreibungen der Erfahrung, deren Wesensinhalt wir nicht wirklich kennen. In meinem Falle offenbarte sich durch die Öffnung all dessen, auf das ich schaute, eine Wirklichkeit, die stets dieselbe blieb, unabhängig davon, ob das Objekt belebt war oder nicht. Deshalb nannte ich sie Das Eine. Sollte jemand eine andere Bezeichnung vorziehen, soll mir das recht sein. Die „Schau“ DESSEN ist es, worauf es ankommt.

      Das Mysteriöse an dieser Art des Sehens war, daß ich meinen Blick zwar auf Dinge der Umgebung richten konnte, aber außerstande war, mich selbst zu betrachten. Das war genauso unmöglich, wie ohne Spiegel die eigenen Augen zu sehen. Und so fühlte ich mich wie ein außenstehender Beobachter dieses Einen, das alles mit einschloß außer mir selbst. Es war so, als wäre ich gar nicht Teil dieses Einen, ja nicht einmal Teil des Weltalls. Vom Körper abgesehen war dieses Sehen alles, was noch geblieben war. Doch genaugenommen gehörte nicht einmal das zu mir, weil es nirgends in mir lokalisiert war, sondern sich stattdessen oben auf meinem Kopf befand, oder etwas darüber – eher vorn über der Stirn. Obwohl ich es weiterhin als meine wunderbare Brille bezeichnete – wegen der extradimensionalen Wirkung – lag dieses Sehen sicher ebenso außerhalb des gewohnten Denkens wie auch außerhalb des physischen Körpers.

      Während ich versuchte, mir über die Natur dieses Sehens klar zu werden, half mir die Vorstellung vom ursprünglichen Bewußtsein des Menschen, der Art Bewußtsein, die wir alle von Anfang an besitzen. Als ehemalige Studierende der Kindesentwicklung wußte ich, daß beim Kleinkind das Bewußtsein nicht-relativ ist. Das Kleinkind unterscheidet nicht zwischen Subjekt (sich selbst) und Objekt, folglich hat es keine Vorstellung eines Selbst. Wie wir weiterhin wissen, denkt das Kleinkind nicht, da sein Bewußtsein noch keinen Inhalt hat – es hat auch noch nichts zum Erinnern. Wir sind somit alle ohne einen reflexiven selbstbewußten Geist zur Welt gekommen, und das ist für mich eine gute Definition des „Sehens“. Sehen mag also beim Erwachsenen eine Art Rückkehr zum Bewußtsein in seiner ursprünglichen Form sein, das die Verrichtungen des praktischen Alltags überraschenderweise nicht beeinträchtigt. Wenn wir also zu unserem ursprünglichen Bewußtsein zurückkehren wollen, ist es notwendig, zu lernen, wie wir ohne jegliches Selbstbewußtsein – das sich vielleicht ein Leben lang aufgebaut hat – leben können, was keine leichte Anpassung ist. Doch schon der Gedanke, daß wir es überhaupt zuwege bringen könnten, ist umso aufregender, wenn wir uns vorstellen, was geschehen würde, wenn jeder Mensch so leben könnte, wie es ihm ursprünglich bestimmt ist.

      Eine Zeitlang schien die Idee vom ursprünglichen Bewußtsein des Menschen das Wesen dieses Sehens zu erklären, doch eines Tages entdeckte ich eine Lücke in dieser Schlußfolgerung. Zwar steckt in diesem Sehen vielleicht kein Selbstbewußtsein, aber das Sehen stellt an sich schon eine Art Subjekt dar, ebenso wie das gesehene Einssein ein Objekt ist. Der Unterschied zwischen dem Sehen und dem Einssein war deutlich und ließ nicht zu, beide für identisch zu halten. In dem Fall ist das Sehen (Beobachten) also nicht identisch mit dem Gesehenem (dem Beobachteten) und schon fand ich mich auf einer rein relativen Existenzebene wieder – auch ohne ein Selbst, das sieht. Daher könnte das Bewußtsein beim Kleinkind durchaus relativ sein, auch wenn es sich selbst nicht reflektiert. Wie dem auch sei, ich konnte keine Beziehung zwischen dem Sehen und dem Einssein herstellen, weil sie, wie gesagt, stets etwas völlig verschiedenes und eigenes waren.

      Monate später tauchte dieselbe Frage nach der Beziehung in einem Gespräch auf, und während ich noch nach einer Antwort suchte, schienen die Vorstellungen vom ursprünglichen Bewußtsein, Sehen und Einssein aus dem Fenster zu schweben, den Hang hinunter, um schließlich irgendwo über dem Ozean aus dem Blickfeld zu entschwinden. Somit gab es zum Problem der Beziehung von Seher und Gesehenem keine Lösung. Zu der Zeit aber, von der hier die Rede ist, beschäftigten mich diese Fragen, weil ich volle neun Monate mit der wunderbaren Brille lebte, die immer nur auf das Eine gerichtet war, das überall zu sehen war, und was mich betraf, war das das Ende des Weges.

      Trotzdem ist, was das Kleinkind eigentlich sieht und weiß, bevor sein Bewußtsein konditioniert ist, immer noch von Interesse. Auch könnten wir über die tierische Art des Wissens nachdenken, über die Möglichkeit, daß Tiere etwas wissen und sehen können, das der Mensch in seinem nie endenden Kampf um das Überleben des Selbst verloren hat. Und wer weiß, welch große Intelligenz in den Elementen verborgen sein mag, die den Menschen und das Weltall ausmachen – eine Intelligenz ohne jegliches Bewußtsein? Eines ist sicher: Wir werden solche Fragen niemals mit dem rationalen Verstand lösen, weil der Verstand als das beschränkte Werkzeug, das er ist, derart in den Dienst des Selbst eingespannt ist, daß er nicht darüber hinaus reichen kann.

      Während ich danach suchte, wer oder was das Eine nun eigentlich sah, war da auch die noch immer ungelöste Frage, was bleibt, wenn das Selbst verschwindet. Wer oder was ist das, das da geht und redet und des Blickes auf das Eine gewahr ist? Obwohl es so offensichtlich war, konnte ich ein solches Mysterium nicht begreifen und zu keiner befriedigenden Erklärung kommen. Die Identität des Einen war erkannt, doch weder das Auge, das sah, noch das, was nach dem Wegfall des Selbst blieb, ließen sich identifizieren. Somit schien es zwischen dem Einen, dem Auge und dem Sein ohne Selbst keine echte Beziehung zu geben.

      Ich erkannte schließlich, daß die einzige Antwort auf die vielen aufkommenden Fragen in der Zeit liegt. Zeit ist Wandlung, und im Prozeß der Wandlung änderten sich meine ursprünglichen Fragen oder lösten sich auf oder wurden nach und nach beantwortet. Ich hatte bereits gelernt, daß das Denken nie Wandlung herbeiführte. Folglich war bei Fragen, die unvermeidlich auftauchten, jedes Nachdenken nutzlos. Ich sah bald ein, wie wichtig es war, mich nicht voreilig auf Antworten festzulegen.

      Ähnlich ging es mit meinen Erfahrungen. Ich fand heraus, daß, sobald ich ihnen irgendeinen Wert, Bedeutung oder Zweck beimaß, die „kostbare Perle“ durch meine voreiligen Schlüsse verlorenging. Nur wenn ich dem Erlebten keine Bedeutung beimaß, war ich imstande, seine Wahrheit oder Unwahrheit zu erkennen. Was falsch ist, ist niemals von Dauer und zerfällt von selbst. Das Wahre hingegen bleibt – die Wahrheit kennt kein Kommen und Gehen, sie ist immer da. Solange Erlebnisse kommen und gehen und wenn wir sie


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