Dein Leben heilen. Paul Ferrini
Macht abgegeben und anderen erlaubt haben, Entscheidungen für uns zu treffen, oder wie wir uns als Aufseher oder Kontrollfreak gezeigt haben, indem wir anderen ihre Macht entzogen und unangemessenerweise für sie Entscheidungen trafen.
Wir sind gefordert, den ganzen generationsübergreifenden Kreislauf des Missbrauchs zu erkennen, zu verstehen, wie Opfer zu Tätern werden und wie wir zu Mutter oder Vater werden und die Verletzungen, die wir von ihnen empfangen haben, an unsere Kinder weitergeben.
Was wir da zu sehen bekommen, ist nicht gerade angenehm oder hübsch anzuschauen. Das ist der Grund, warum die meisten Menschen sich nicht auf diese Reise begeben, oder wenn doch, treten sie wieder den Rückweg an, bevor sie das Licht am Ende des Tunnels sehen.
Es braucht viel Mut, deine Kernwunde zu fühlen und zu transformieren. Als Kind warst du dazu nicht in der Lage. Es war zu beängstigend und übermächtig. Du hattest nicht die Ich-Stärke oder das Selbstbewusstsein, um dem ins Auge zu sehen. Du hattest die Unterstützung anderer nicht. Es war eine einsame Zeit, und du hast getan, was wir alle tun: Du hast sie verdrängt, verleugnet, versteckt, begraben: aus den Augen, aus dem Sinn. Das ist in Ordnung. Was hättest du sonst tun sollen?
Obwohl du sie eine Zeit lang los warst, kommen sie zwangsläufig wieder. Deine Verletzungen und die Muster des Selbstbetrugs kommen in jeder engen Beziehung, die du eingehst, erneut hoch.
Deine Kinder, deine Eltern, deine Geschwister und deine Mitarbeiter, selbst Fremde, denen du begegnest, bringen dich auf die Palme. Du wirst getriggert, wenn du es am wenigsten erwartest. Trotz deines Versuchs, deine Gefühle hinter deiner Maske zu verbergen, kann Wut (bis zur Raserei) hervorbrechen. Oder du lässt es vielleicht zu, dass du emotional oder physisch missbraucht wirst. All das ereignet sich in deinem Leben oder im Leben eines Menschen, der dir nahesteht. Das ist die Normalität. Trotzdem will niemand darüber reden.
Es gibt da offensichtlich ein Komplott des Schweigens. Niemand will sich damit auseinandersetzen. Und dann wundern sich die Menschen, warum jemand losgeht, ein Maschinengewehr kauft und zehn Menschen am Arbeitsplatz oder in der Schule erschießt oder seinen Ehepartner oder seine Kinder umbringt. Das sind schreckliche Ereignisse. Wenn man sich darum nicht kümmert, wenn man sich dem nicht stellt und es heilt, fördert das den Zyklus der Gewalt.
Gewalt beginnt in unseren Herzen und in unserem Geist. Sie dehnt sich auf unsere Familien und Gemeinschaften aus. Sie führt zu Krieg und Völkermord. Sie durchdringt das kollektive Bewusstsein. Die Menschen möchten das töten, was sie nicht verstehen oder akzeptieren können. Sie möchten ihren Schatten in Gestalt der anderen zerstören. Sie dämonisieren einander, damit sie den Schmerz ihrer Überschreitungen nicht wahrnehmen müssen. Sie denken, sie töten dreckigen Abschaum oder Teufel, nicht andere Menschen. In Wahrheit aber töten sie ihre Mütter und Väter. Sie töten ihre eigenen Kinder. Sie bringen ihre Brüder und Schwestern um. All das nur deshalb, weil sie sich selbst hassen. All das geschieht, weil sie nicht in der Lage waren, ihrem eigenen Schatten mit Mitgefühl zu begegnen. Nur weil sie nie gelernt haben, ihrem verwundeten Inneren Kind Liebe ent-gegenzubringen.
Das verletzte Innere Kind heilen
In Phase zwei lernen wir, die zurückgewiesenen Aspekte unseres Selbst zurückzuholen. Wir schauen uns an, was wir nicht leiden können, wofür wir uns schämen. Wir nutzen den Spiegel, den andere Menschen uns vorhalten, um zu erkennen, was wir an uns selbst verurteilen. Wir lernen, unser verletztes Inneres Kind, den Teil, der sich abgelehnt und unwert fühlt, den Teil, der sich fühlt, als ob er nicht einmal das Recht hätte, Luft zu atmen, anzuschauen und für ihn da zu sein. Für den Teil von uns, der glaubt, schlecht, böse, schmutzig, hässlich und nicht liebenswert zu sein. Wir lernen, bei dem Kind zu sitzen, während es schreit und tobt. Wir lernen, ihm geduldig zu folgen, wenn es wegrennt und sich versteckt. Wir lernen, es auf den Arm zu nehmen, wenn es versucht, sich an unsere Füße zu klammern.
Ganz egal, wie schwer das ist, und ganz egal, wie lange es braucht: Wir lernen, für dieses kleine Kind da zu sein und es in unsere Arme zu schließen. Wir lernen, ihm zu sagen: »Ich werde dich nicht mehr ablehnen oder verlassen. Ich werde dir keine Schuld zuweisen, dich nicht kritisieren oder an dir irgendetwas auszusetzen haben. Ich werde dir weder all das antun, was Mama oder Papa dir angetan haben, noch werde ich dir das zufügen, was ihr Beispiel mich lehrte. Ich werde niemand sein, der dich angreift. Ich werde hier bei dir bleiben und lernen, dein Freund zu sein. Ich werde dich akzeptieren, den Raum für dich halten, werde lernen, dich zu lieben, damit dein Schmerz heilen kann, damit du erwachsen werden und deine Gaben zum Ausdruck bringen kannst. Ich werde die mitfühlende Mutter und der mitfühlende Vater sein, die du nie hattest.«
Es versteht sich von selbst, dass dies ein tiefgreifender Heilungsprozess ist, der sich nicht von jetzt auf gleich vollzieht.
Es braucht viel Geduld und Überzeugung, für dich selbst in dieser Weise einzustehen. Es wir aber nichts anderes nützen. Du bist der Bote der Liebe für deine eigene Erfahrung. Kein anderer kann dir das abnehmen. Nicht Mama und nicht Papa. Nicht dein Mann oder deine Frau. Du bist die Person, die lernen muss, dir Liebe zu schenken. Einzig deine eigene Liebe wird deine Verletzung heilen.
Viele versuchen, den Weg der Heilung abzukürzen, doch diese Abkürzungen sind immer eine Form der Verleugnung. Sie versuchen, den Schmerz wegzukriegen. Sie laden ihn nicht ein, um seine transformierende Botschaft hören zu können.
Abkürzungen beschuldigen und bestrafen das Kind immer wieder von Neuem. Sie vermitteln ihm: »Du bist nicht spirituell, sonst wärst du schon längst geheilt. Du musst dieses oder jenes tun oder sagen.« Das ist zwar alles nur Hokuspokus, aber das Kind glaubt es, weil es sich für so etwas hält wie beschädigte Ware, die repariert werden muss. Allzu gern stimmt es einem weiteren Rettungsplan zu.
Natürlich wird keiner dieser Pläne je gelingen. Sie sind allesamt zum Scheitern verurteilt – und wenn sie dann scheitern, verschlimmern sie nur die Verletzungen des Kindes und verstärken den Glauben daran, dass es einfach nicht in der Lage ist, etwas richtig zu machen.
Das Einzige, was hilft, sind Liebe und Akzeptanz. Durch Liebe und Annahme bauen wir eine vertrauensvolle Beziehung zu dem Kind in uns auf; und mit der Zeit wird es allmählich neu geprägt und wächst geheilt und innerlich gestärkt auf. Es ist ein Prozess, der Jahre braucht, nicht etwa nur Tage oder Wochen oder Monate.
Diese Tatsache sollte dich nicht davon abbringen, dich darauf einzulassen. Wenn du echte Heilung und wahres Glück willst, wird das Zeit, Geduld und Einsatz erfordern. Wenn du das erkannt hast, wirst du gut gerüstet sein und Erfolg haben.
Wahre Heilung und Transformation
Erfolg auf der Heilungsreise geht mit wahrer Transformation einher, nicht nur mit einer kosmetischen Verschönerung. Wahre Heilung vollzieht sich von innen nach außen, und sie erstreckt sich auf jeden deiner Lebensbereiche. In Phase drei dieses Wegweisers dreht sich alles um Selbstermächtigung und konkrete Ergebnisse.
Deine Beziehung hat sich gewandelt, weil du gelernt hast, dem Kind in deinem Inneren Liebe zu geben. Du hast gelernt, mit ihm in Verbindung zu bleiben, ihm aufrichtig deine Gefühle zu zeigen und dementsprechend zu handeln. Wenn Angst hochkommt, weißt du, wie du sie mitfühlend halten kannst. Wenn Urteile in dir entstehen, hältst du sie behutsam und gibst dem Teil von dir Liebe, der sich unsicher oder wertlos fühlt. Weil du eine liebevolle Beziehung zu dir selbst aufgebaut hast, ist wahres Glück im Beruf und in den zwischenmenschlichen Beziehungen möglich. Du bist in der Lage, deine schöpferischen Gaben zu erkennen, zu nähren und zum Ausdruck zu bringen. Du kannst dich mit deinem Herzenswunsch verbinden und das tun, was du zu tun liebst, wobei du anderen Inspiration und Freude bereitest. Du bist in der Lage, eine liebevolle, gleichberechtigte Beziehung mit einem Partner anzuziehen, der sein Leben mit dir teilt und dich auf deiner Heilungsreise begleitet.
Du lernst, die Stimme der inneren Führung zu hören und ihr zu vertrauen, du lernst, angemessene Risiken einzugehen und durch die offenen Türen in deinem Leben zu gehen. Du kannst fühlen, wie sich dein Leben von innen nach außen entfaltet. Die Menschen, die du treffen sollst, werden in dein Leben gezogen. Die Mittel und die Unterstützung, die du brauchst, fallen dir ohne großes Nachdenken und ohne Anstrengung