Dein Leben heilen. Paul Ferrini
Du versuchst, deinen Schatten hinter der Maske zu verbergen, was aber nicht funktioniert; und zwar deshalb nicht, weil du deine unbewussten Schattenanteile nach außen auf andere projizierst. Sie reagieren auf deine unbewussten wundgesteuerten Worte und Verhaltensweisen, und du reagierst wiederum auf ihre. Auf diese Weise bleibt dein Schatten (und ihrer) nicht verborgen, sondern wird dir durch andere gespiegelt. Andere Menschen zeigen dir deine niederen, ungeheilten Aspekte auf, derer du dir nicht bewusst bist und die du lernen musst zu erkennen, zu lieben und zu akzeptieren.
Projektion und Trigger
Zwangsläufig siehst du in anderen das, was du bei dir selbst nicht sehen oder dir nicht eingestehen willst. Wenn du nicht bereit bist, dem Schatten zu begegnen, indem du nach innen schaust, wirst du ihn außerhalb von dir entdecken. Er wird dir durch andere zurückgespiegelt werden.
Du willst den Schatten nicht anschauen, aber du hast keine andere Wahl. Alles, was in dir ungeheilt ist, wird nach außen gerichtet, und du wirst es in den Worten und Taten anderer Menschen sehen, die dich triggern.
Demzufolge besteht dein Schmerz nicht nur aus deiner Angst und deiner Scham, die du dir in deiner Kindheit angeeignet hast, sondern auch in deinen fortwährenden Urteilen über andere (projizierte Scham) und in deiner Wut auf andere (projizierte Angst). Aus diesem Grund muss jedes deiner Urteile und jeder Ausdruck deiner Angst Vergebung finden. Du kannst nicht heil werden, wenn du nicht vergeben kannst.
Als Jesus sagte: »Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet«, sprach er eine wichtige Wahrheit. Denn jedes Mal, wenn wir an einem anderen etwas auszusetzen haben, machen wir uns schuldig. Jeder von uns ist Richter, Geschworener und Henker in einem.
Das spirituelle Gesetz der Gleichheit (siehe mein Buch »Die Gesetze der Liebe«) besagt, dass du niemanden verletzen kannst, ohne dich gleichzeitig selbst zu verletzen. Das ist nicht nur im übertragenen Sinne gemeint, sondern auch wörtlich. Du behandelst dich immer so, wie du andere behandelst. Wenn du Liebe bekundest, kommt Liebe zu dir zurück. Wenn du aber Kritik oder Ablehnung äußerst, werden auch diese zu dir zurückkommen. Wie du gibst, so empfängst du. Das ist das Gesetz des Lebens.
Es ist ein Fehler, zu denken, dass du oder jemand anderer gedeihen kann, indem er lügt, betrügt, kritisiert oder sich auf unfaire Weise Vorteile verschafft. Das Leben ist ein Karussell. Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. Das ist einfach so. Wenn du das jetzt noch nicht weißt, wirst du es früher oder später herausfinden.
Warum solltest du noch damit warten, ein spirituelles Prinzip in deinem Leben einzusetzen? Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu. Gib so, wie du empfangen möchtest. Diene so, wie du möchtest, dass man dir dient. Liebe so, wie du geliebt werden möchtest, frei und bedingungslos.
Warum es so schwerfällt, andere zu lieben
Viele von uns haben die besten Absichten. Wir versuchen wirklich, andere zu lieben. Oft gelingt es uns, Menschen zu lieben, die unsere Wertvorstellungen teilen und nett zu uns sind. Sobald aber jemand in unser Energiefeld kommt und uns herausfordert, uns verurteilt und missbilligend anschaut, rasten wir aus. Die Wut, die zutage tritt, wenn wir getriggert werden, schockiert uns. Woher kommt diese Wut?
Die Antwort ist nicht schwer. Die Wut kommt aus der Angst und Scham, der Basis unseres Schattens. Unterm Strich: Wir befürchten, dass jemand uns verletzen (Angst) oder schlechtmachen (Scham) könnte. Angst und Scham haben ihre Wurzeln in unserer Kindheit. Wir hatten alle Angst vor unseren Eltern und anderen Autoritäts-figuren. Sie waren größer und stärker als wir. Und sie waren ebenfalls voller Angst. Wenn sie in die Angst gingen, folgten wir ihnen mit voller Kraft. Wenn sie uns verurteilten oder kritisierten, verinnerlichten wir die Botschaft.
In uns haben sich zunehmend Schichten aus Angst und Scham abgelagert, die wir mit uns herumtragen. Wenn Angst und Scham durch eine elterliche oder sonstige Autoritätsfiguren getriggert werden, rasten wir total aus. All unsere Wut und unser Selbsthass, die wir seit unserer Kindheit im Inneren aufgestaut haben, kommen hoch. Oder wir machen emotional dicht oder versinken in eine Depression, wenn uns beigebracht wurde, unsere Wut zu verdrängen und zu verleugnen.
Wir lernen also früh, dass es nicht einfach ist, andere Menschen zu lieben. Tatsächlich scheint es manchmal eine unmögliche Aufgabe zu sein. Vielleicht sind wir in der Lage, manche Menschen zu lieben, aber andere hassen wir. Wir sehen uns genötigt, sie anzugreifen, abzulehnen oder zu verlassen. Darauf sind wir zwar nicht stolz, wissen aber einfach nicht, wie wir dem eine andere Richtung geben können. Wir wissen nicht, wie wir andere bedingungslos lieben können.
Den Schatten lieben und akzeptieren
Die Wahrheit ist, dass wir niemals in der Lage sein werden, jemanden bedingungslos zu lieben, sofern und solange wir nicht in der Lage sind, uns selbst bedingungslos zu lieben. Das bedeutet, dass wir lernen müssen, unsere dunkle Seite zu akzeptieren und sie mit Mitgefühl zu halten. Wir müssen unsere Angst, unsere Scham, unsere Wut und unsere Urteile, unsere Süchte und Zwangshandlungen, unsere Vergehen gegen andere mit Verständnis und Akzeptanz sehen. Wir müssen uns unsere Wunden und die Wunden unserer Eltern mit Mitgefühl anschauen. Wir müssen erkennen, wie die Kette des Missbrauchs von Generation zu Generation weitergegeben wird.
Wir tun dies nicht, um uns in unserem Schmerz zu suhlen, sondern um seinen Ursprung zu verstehen. Wenn wir einmal Mitgefühl für das verletzte Innere Kind spüren, wenn wir einmal gelernt haben, das Kind in unsere Arme zu schließen und ihm die Liebe und Akzeptanz zu schenken, die es sich so verzweifelt wünscht, beginnen wir, unser Leben von innen nach außen zu transformieren. Der Schattenanteil beginnt sich zu integrieren, und die Spaltung in der Psyche beginnt zu heilen.
Indem wir mit unserem Schatten Frieden schließen, werden wir nicht mehr so leicht von der Schattenseite anderer getriggert. Wir reagieren nicht auf ihre Verurteilung, Kritik, Beschämung oder Beschuldigung. Wir wissen, dass diese von ihren Wunden herrühren. Das ist ihr Schmerz, nicht unserer. Darauf müssen wir uns nicht einlassen. Wir können es aber verstehen und einen Raum für sie halten, weil wir gelernt haben, den Raum für uns selbst zu halten.
Die Liebe und Akzeptanz unseres Schattens ist das Tor zur bedingungslosen Liebe anderen gegenüber. Das geschieht nicht über Nacht. Es erfordert große Geduld und großen Mut. Es erfordert jahrelange spirituelle Praxis, auf liebevolle Weise für uns selbst einzustehen. Wenn wir aber einmal damit begonnen haben, fällt es nicht schwer, für andere da zu sein.
Der Punkt ist, dass wir den Karren nicht vors Pferd spannen können. Wir können nicht versuchen, andere zu lieben, bevor wir gelernt haben, uns selbst zu lieben. Selbstliebe ist der Motor der Transformation. Und Schattenarbeit steht auf dem Lehrplan.
Die Projektion unserer Angst und Scham auf andere zieht uns in das Drama der Welt. Dort fließt all unsere Kraft in das Überleben und den Selbstschutz. Dort werden unsere Angst und Beklemmung verstärkt. Dennoch können wir uns nie sicher fühlen, egal, wie viele Schutzwälle wir um uns herum errichten.
Echte Sicherheit finden wir nur, indem wir Frieden mit unserem Schatten schließen. Dann ziehen wir die Schattenenergie anderer nicht an. Wir ruhen in unserem Herzen. Wir lernen, andere zu lieben, selbst wenn sie uns nicht lieben. Wenn andere versuchen, uns zu beschämen und zu beschuldigen, halten wir die andere Wange hin. Wir laden sie dazu ein, uns zu sehen, wie wir wirklich sind, als einen gleichwertigen Bruder oder eine gleichwertige Schwester.
Vom Schatten lernen
Wenn du dem Schatten eines Mitmenschen mit seiner wundgesteuerten Energie der Beschämung und Beschuldigung begegnest, hast du die Möglichkeit, eine ernsthafte spirituelle Übung zu absolvieren. Kannst du seine Unschuld hinter dem Schatten erkennen? Kannst du deine eigene Unschuld sehen und verstehen, auch wenn du beschuldigt wirst?
Wenn Menschen dich beschämen und beschuldigen, erkennst du dann, dass sie dir nur ihren eigenen Selbsthass und ihre Schuldgefühle zeigen? Würden sie dich angreifen, wenn sie sich selbst liebten und wüssten, dass sie unschuldig sind? Wahrscheinlich nicht!
Niemand