Dein Leben liegt in deiner Hand. Dzigar Kongtrul

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hören oder daran denken,

      Nach und nach Schüler von all euch Buddhas werden,

      Und – indem sie das zweifache Ziel spontan erreichen – vollkommene Erleuchtung erlangen.

       Geschrieben von Dzigar Kongtrül JigméNamgyel. Mangalam!

       Aus dem Tibetischen ins Englische übersetztvonjohn Canti

      Einleitung

      Das Verlangen nach Glück ist universell. Und abgesehen davon, dass wir in unserem Leben Glück und Sinn finden möchten, wollen die meisten von uns auch gute, anständige Menschen sein. Gut, glücklich und anständig sein zu wollen, ist nicht nur ein vernünftiger Wunsch, sondern auch ein edler. Ironischerweise kämpfen wir die meiste Zeit damit, wie wir das am besten erreichen könnten. Wir haben eine Vorstellung davon, wie wir sein wollen, aber wir stellen fest, dass wir wieder und wieder über unsere eigenen Zweifel, Ängste und Unsicherheiten stolpern.

      Auf dem spirituellen Weg sprechen wir von Erleuchtung.1 Aber wie bringen wir den Erleuchtungs-Gedanken mit unserem Anblick im Spiegel in Einklang? Wenn wir nach Erleuchtung suchen, während wir uns bemühen, unsere Verwirrung zu umschiffen, trennen wir unsere Praxis von unserer unmittelbaren Erfahrung ab. Wenn wir uns dagegen nur auf unsere Gewohnheitsmuster konzentrieren, sind wir nur mit uns selbst beschäftigt und bleiben in unserem Schmerz stecken.

      Der Versuch, unsere Vorstellung von Erleuchtung mit unserer Verwirrung in Einklang zu bringen, ist genau der richtige Ausgangspunkt für den Pfad. Es ist ein Ausdruck unseres tiefen Verlangens nach Freiheit und Glück, und dieses Verlangen ist an sich bereits ein Indikator für das große Potenzial des Geistes, das wir alle besitzen. Die Tatsache, dass wir über dieses weitreichende Potenzial verfügen, bedeutet jedoch nicht, dass wir von Haus aus vollständig erleuchtet oder edel sind. Vielleicht sind wir durcheinander. Aber anstatt zu versuchen, diese Verwirrung entweder links liegen zu lassen oder gegen sie anzukämpfen, könnten wir sie gut nutzen. Es erfordert eine gewisse Reife zu lernen, sowohl unser größeres Potenzial als auch unsere Neurosen anzunehmen. Diese Reife können wir durch die Praxis der Selbst-Erkenntnis entwickeln.

      Selbst-Erkenntnis ist die Geisteshaltung und die Praxis, ehrlich anzuschauen, was auch immer in unserer Erfahrung auftaucht – ohne zu beurteilen. Das fällt uns schwer, denn es ist gegen unsere Gewohnheit. Wir neigen dazu, unliebsame Erfahrungen loswerden und angenehmen Erfahrungen nachjagen zu wollen. Das außerordentlich Schöne und Liebevolle in der Praxis der Selbst-Erkenntnis liegt darin, dass sie nicht von uns verlangt, irgendetwas anderes zu erleben als das, was wir gerade erleben. Wenn wir unvoreingenommen hinschauen, kann die in uns wohnende Klugheit sowohl das großartige Potenzial unseres Geistes als auch unsere Verwirrung erhellen. Damit verändern wir den alten Kampf mit unserem eigenen Geist und verwandeln genau dies damit in den Ausgangspunkt für unseren Weg zur Erleuchtung.

      Selbst-Erkenntnis ist der gemeinsame Nenner jeder buddhistischen Praxis – gleich welcher Traditionsrichtung. Sie bewahrt uns davor, Praxis als eine bloße weitere Unternehmung zu betrachten, denn sie haucht den Lehren Leben ein und lässt sie zur lebendigen Erfahrung werden.

       Erster Teil

      Die Praxis der Selbst-Erkenntnis

      1Der Blick in den Spiegel

      Wenn wir in den Spiegel blicken, dann ist das, was wir am allerwenigsten sehen wollen, ein ganz normaler Mensch. Wir möchten lieber jemand Besonderen sehen. Ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht _ wir sind einfach nicht damit zufrieden, einen ganz normalen Menschen mit Neurosen, Schwierigkeiten und Problemen zu erblicken.

      Wir wollen einen glücklichen Menschen sehen, aber stattdessen sehen wir jemanden, der sich abmüht. Wir würden uns gerne für mitfühlend halten, aber stattdessen erblicken wir einen Egoisten. Wir sehnen uns danach, eine elegante Erscheinung abzugeben, aber unsere Arroganz macht uns grob. Und statt eines starken oder unsterblichen Menschen erblicken wir jemanden, der anfällig ist für die vier Strömungen im Lauf der Zeit: Geburt, Alter, Krankheit und Tod. Der Widerspruch zwischen dem, was wir sehen und dem, was wir sehen wollen, tut uns enorm weh.

      Die Qual der Selbstsucht

      Was uns in dieser Qual gefangen hält, ist unser Gefühl, etwas Besonderes zu sein, oder unser Drang nach „Selbst-Geltung“ 2 Diese Selbst-Geltung ist unser unterschwelliges Klammern an „ich, ich, ich, mich, mich, mich, mein, mein, mein“, und das färbt all unsere Erfahrungen. Wenn wir genau hinsehen, entdecken wir einen großen Anteil an Selbst-Sucht in allem, was wir denken, sagen oder tun. „Wie kann es mir gut gehen? Was werden die anderen denken? Was bringt mir etwas? Was verliere ich dabei?“ All diese Fragen haben ihre Wurzeln in unserer Selbstsucht. Sogar unser Gefühl, der Vorstellung unseres Selbst nicht gerecht zu werden, ist eine Form von Selbstsucht oder Selbst-Geltung.

      Wir möchten uns gerne als stark ansehen und alles im Griff haben, aber in Wahrheit sind wir so zerbrechlich wie eine Eierschale. Wir fühlen uns zutiefst verletzlich, und zwar in unguter Weise. Dieses verwundbare Selbst verlangt nach Schutz, nach einem Panzer, nach der Aufstellung von Truppen und dem Hochziehen von Mauern. Und schon sitzen wir in der Falle, mit all unserer Qual. Wir fürchten uns mehr und mehr davor loszulassen, die Dinge so sein zu lassen, wie sie sind. Wir werden immer unsicherer, ob alles so laufen wird, wie wir uns das wünschen.

      Es erfordert Mut, Selbst-Gefälligkeit zu überwinden und zu sehen, wer wir wirklich sind – aber genau das ist unser Weg. Ob explizit oder indirekt: Alle buddhistischen Lehren zielen darauf ab, Selbstsucht zu vermindern und Raum zu schaffen für die Wahrheit. Dieser Prozess beginnt mit Selbst-Erkenntnis.

      Ein fragender Geist

      Der große indische Gelehrte Aryadeva3 hat gesagt, dass bereits das bloße Hinterfragen, ob die Dinge wirklich so sind wie sie scheinen, das ganze Fundament des gewohnheitsmäßigen Festhaltens erschüttern kann. Diese hinterfragende Geisteshaltung ist der Ausgangspunkt der Selbst-Erkenntnis. Könnte es sein, dass dieses engmaschige Ich-Bewusstsein gar nicht so ist, wie es scheint? Müssen wir wirklich alles so angestrengt zusammen halten, und können wir das überhaupt? Gibt es ein Leben jenseits unseres Geltungstriebs? Mit dieser Art von Fragen öffnen wir das Tor zur Erforschung der wahren Ursachen für unseren Schmerz.

      Die Praxis der Selbst-Erkenntnis erfordert, dass wir einen Schritt zurücktreten, unsere Erfahrungen untersuchen und nicht der Eigendynamik unserer Gewohnheitsmuster nachgeben. Dies erlaubt uns, all das anzuschauen was auftaucht, ohne es gleich zu bewerten, und damit bürsten wir direkt gegen den Strich unserer Selbst-Gefälligkeit.

      Selbst-Erkenntnis ist der gemeinsame Nenner aller Traditionen und Linien buddhistischer Praxis. Sie führt uns auch über die Grenzen formeller Praxis hinaus. Wir können die hinterfragende Geisteshaltung der Selbst-Erkenntnis auf jede Situation anwenden, zu jeder Zeit. Selbst-Erkenntnis ist eine Geisteshaltung, eine Methode und eine Praxis. Auf den Punkt gebracht: Sie ist ein Weg, die Praxis für uns persönlich lebendig werden zu lassen.

      Unser wahres Gesicht

      Wenn wir unsere üblichen Geisteshaltungen und Gewohnheitsmuster ganz ohne Maske oder Werturteil betrachten, blicken wir durch sie hindurch – und sehen, wer wir wirklich sind. Jenseits des „Ichs“ und seiner Wünsche und Abneigungen, jenseits des Selbst, das ständig kämpft und an der Welt zerrt, liegt unser echtes Wesen und wahres Antlitz.

      Dies ist das Angesicht unseres natürlichen Zustandes – frei von dem Streben, etwas zu werden, was wir nicht sind. Es ist das Antlitz eines potentiell erleuchteten Wesens, dessen Weisheit, Qualitäten, und Mut keine Grenzen kennen. Indem wir unser tieferes Potenzial und alles was uns behindert, erkennen, beginnen wir die Ursachen für unser Leid zu verstehen – und wir können beginnen etwas daran zu ändern.

      Wenn wir Selbst-Erkenntnis praktizieren, nehmen wir unsere Befreiung in die eigene Hand. Dieser kompromisslose Pfad verlangt echten Mut und Furchtlosigkeit. Wenn wir den gewohnten Rahmen unseres Ichs sprengen, führt uns dies direkt zu der Wahrheit unserer Buddha-Natur, unseres wahren Antlitzes, und damit zur Freiheit von Leid.

      Der Spuk unseres Ego-Geistes

      Das Festhalten an der üblichen


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