Gestalt - Präsenz - Gewahrsein- Verantwortung:. Claudio Naranjo
Buch auch all jenen dienen möge (wie Abe Levitsky in seinem großherzigen Vorwort vorwegnimmt), die an Therapie allgemein interessiert sind, einschließlich derer, die weder Experten noch Berufspsychologen sind. Insbesondere hoffe ich, daß es all jene inspirieren und stimulieren möge, die mit dem wachsenden Netzwerk psychologisch fundierter Hilfs- und Begleittherapiegruppen zu tun haben.
CLAUDIO NARANJO
Berkeley, Kalifornien
1992
Einleitung des Autors
Es war 1966, als Michael Murphy auf der Wiese vor dem Hauptgebäude des Esalen Instituts auf mich zukam und mich bat, einen Artikel über Gestalttherapie zu schreiben, den er als Esalen-Monographie herausgeben wollte, was er schließlich auch tat. Er hatte vorher bereits Fritz Perls darum gebeten, der jedoch vorschlug, daß er statt dessen mich ansprechen sollte. Ich hatte damals an einigen seiner Seminare teilgenommen, und er würdigte meine Teilnahme unter anderem dadurch, daß er mir ein Dauerstipendium für seine Arbeit in Esalen gewährte. Ich nahm dieses Angebot freudig an, und das Ergebnis war meine erste englischsprachige Veröffentlichung. Dies war für mich ein besonderer Segen, denn ich entdeckte, daß ich mich in dieser Sprache leichter ausdrücken konnte, als ich vermutet hatte.
Zu jener Zeit gab es so gut wie keine Veröffentlichungen zum Thema Gestalttherapie, außer zwei von Fritz Perls’ frühen Büchern, einigen seiner Artikel und einer kurzen Erklärung von Van Dusen, in der er feststellte, daß die Gestalttherapie die schlüssigste therapeutische Anwendung der Phänomenologie sei. Darüber hinaus zirkulierten in der Zeit, in der ich an Perls’ und Simkins erstem professionellem Ausbildungsseminar in Esalen teilnahm, zwei weitere Aufsätze in vervielfältigter Manuskriptform: einer von Simkin selbst und ein anderer von John Enright. (Beide sind mittlerweile in chronologisch richtiger Reihenfolge in Stephensons Gestalt Therapy Primer1 erschienen.)
Diese mir zugeteilte Aufgabe war eine echte Herausforderung, denn ich war mir sehr bewußt, wie schwierig es ist, sich von der Lektüre von Perls’ beiden ersten Büchern, die Gestalttherapie in der Praxis vorzustellen. Durch eine Laune des Schicksals zählte ich zu den ersten, die Perls’ frühestes Buch über Gestalttherapie lesen durften, denn mein Onkel Ben Cohen, einer der Mitbegründer der Vereinten Nationen, erhielt, als Julian Press es in den fünfziger Jahren herausbrachte, vom Verlag ein druckfrisches Exemplar zur Ansicht zugesandt. Mein Onkel war damals für die Presse- und Informationsabteilung der Vereinten Nationen zuständig, und auf seinem Schreibtisch stapelten sich die verschiedensten Bücher aus den unterschiedlichsten Quellen. Daher reichte er gelegentlich Titel, von denen er annahm, daß ich ein besonderes Interesse an ihnen hatte, an mich weiter. Insbesondere bei Perls’ Buch stellte sich heraus, daß es einen erheblichen Einfluß auf meine spätere berufliche Laufbahn haben sollte – weniger in meiner Eigenschaft als Therapeut, sondern mehr als Forscher und Lehrer. Dennoch muß ich sagen, daß ich mir Perls aufgrund seiner Schriften – trotz der Übungen am Anfang des besagten Buches – als einen jungen Intellektuellen vorstellte und nicht als einen alten erfahrenen Praktiker. Ebensoweit war ich offenbar von der Realität entfernt, wenn ich mir die Praxis der Gestalttherapie vorzustellen versuchte. Jetzt erscheint es mir, daß Fritz hinsichtlich der therapeutischen Interaktion genial veranlagt, als Theoretiker jedoch weder begabt noch angemessen ausgebildet war. In seinen frühen Jahren verließ er sich daher weitgehend auf Kollegen mit eher theoretischen Neigungen, die seinen therapeutischen Ansatz in akademischen Kreisen vorstellten, in denen die Psychoanalyse die vorherrschende Doktrin war. Dennoch bin ich der Meinung, daß die Gestalttherapie von Anfang an ihre theoretischen Formulierungen bei weitem übertraf. Sie fand jedoch erst dann wirklich zu sich selbst, als Fritz sich später in seinem Leben vollkommen von dem „elephant shit“ der Theoretiker sowie von der Notwendigkeit befreite, seine Praxis durch akademische Rationalisierungen zu rechtfertigen.
Wahrscheinlich sah Fritz Perls in meinem Artikel eine bessere Darstellung seiner Arbeit als in seinen eigenen frühen Veröffentlichungen, denn ich sah ihn in den gesamten Jahren unserer Freundschaft niemals glücklicher als damals, als er mir erzählte, wie sehr er diesen Aufsatz schätzte – nicht einmal während jenes denkwürdigen Esalen-Meetings, bei dem er das Gefühl hatte, über Maslow gesiegt zu haben, und Abraham Levitsky ins Bein biß.
Als Fritz sich seinem siebzigsten Geburtstag näherte und Jim Simkin Beiträge für eine Festschrift ihm zu Ehren sammelte, verfaßte ich einen Aufsatz mit dem Titel: Present Centeredness – Technique, Prescription and Ideal (Zentriertheit in der Gegenwart – Technik, Anwendung und Ideal)2. Nachdem Fritz den Artikel gelesen hatte, machte er den Vorschlag, die beiden Aufsätze sowie weitere Beiträge in Form eines Buches zusammenzufügen. Trotz meiner Begeisterung für Arnold Beissers Theory of Paradoxical Intention (Theorie der paradoxen Intention) und Bob Resnicks Chicken Soup is Poison (Hühnersuppe ist Gift) ging die Verwirklichung des Projekts nur langsam voran. Als ich Fritz nach etwa einem Jahr in Chile wiedertraf, berichtete er mir, daß er mittlerweile den „Miami Girls“ (Fagan und Shepherd) vorgeschlagen hatte, eine solche Sammlung zu veröffentlichen, und ich entschloß mich, selbst ein Buch über die Gestalttherapie zu schreiben.
Ich glaube nicht, daß ich ohne diese Anregung dieses Buch überhaupt geschrieben hätte. Für das Werk eines fremden Autors zu schreiben, hätte bedeutet, weniger Zeit für die Beschreibung meiner eigenen persönlichen Arbeit zu haben. Auch hatte ich das Gefühl, daß alles, was ich über das, was ich bereits geschrieben hatte, hinaus hätte sagen können, zu offensichtlich erschien. Im Laufe der Jahre jedoch – nachdem ich gelesen hatte, was seit Fagan und Shepherds Gestalt Therapy Now geschrieben wurde – bekam ich den Eindruck, daß das, was mir offensichtlich erschien, für andere keineswegs so offensichtlich war.
Außer den ersten zwei Kapiteln wurde das vorliegende Buch in den Wochen verfaßt, die auf den Tod von Fritz Perls im Jahre 1970 folgten. Da mein einziger Sohn in den Big Sur Hills tödlich mit dem Auto verunglückte, während ich auf Fritz’ Beerdigung war, wurde dieses Buch in einer Zeit tiefer Trauer verfaßt. Die Tatsache, daß ich dieses Buch überhaupt in Angriff nahm, zeigt, wie wichtig es für mich in jener Zeit war, dieses „unerledigte Kapitel“ in meinem Leben zu Ende zu bringen. In erster Linie war dies eine Zeit, in der ich mich für eine Reise bereit machte, die, wie ich in der Einleitung zu Die Reise zum Ich erläuterte, eine Reise ohne Wiederkehr werden sollte. Ich hatte mich entschlossen, mich in einer Haltung vollkommener Hingabe, einem spirituellen Lehrer anzuvertrauen. Es schien mir, daß ich noch eine Schuld an meiner Vergangenheit zu begleichen hatte, bevor ich mich auf eine neue Stufe meines Lebens begeben konnte, frei von allen Lebensplänen und Verpflichtungen. Das Gestalttherapiebuch war eines meiner unvollendeten Projekte, und die Zeit nach Fritz Perls’ Tod schien mir geeignet zu sein, es in Angriff zu nehmen.
Obwohl die Reise, die ich 1970 in die chilenische Wüste unternahm, in einem gewissen, inneren Sinne tatsächlich als eine Reise ohne Wiederkehr erschien, kam ich 1971 zurück nach Berkeley und bot Stuart Miller, der damals die Esalen-Buchreihe des Viking Verlages betreute, das Gestalttherapiebuch an. Der Verlag hatte bereits einige meiner früheren Titel, The One Quest und Die Psychologie der Meditation3 veröffentlicht. Das Manuskript wäre auch längst gedruckt worden, wenn es nicht in einem Kopierladen verlorengegangen wäre. Seither war mein Leben sowohl innerlich als auch äußerlich so geschäftig, daß überhaupt nicht daran zu denken war, in alten Aktenordnern nach den Originalen zu kramen, aus denen das Buch wieder hätte zusammengesetzt werden können. Nur ein Teil des Buches wurde unter dem Titel Techniken der Gestalttherapie veröffentlicht, zuerst nur für meine Studenten in Berkeley, dann als Bestandteil von Hatcher und Himelsteins Handbook of Gestalt Therapy4 und schließlich im The Gestalt Journal.
Dennoch ist nun die Zeit gekommen, dieses so häufig unterbrochene und verschobene Werk vor dem Hintergrund anderer Projekte Wirklichkeit werden zu lassen. Es ist wieder einmal, wie damals 1969 und 1970, Zeit, die Früchte meiner Arbeit zu ernten, wobei ich nicht nur damit beschäftigt bin, neue Bücher zu schreiben, sondern auch damit, alte fertigzustellen.
Neben den Kapiteln, die zu der früheren Version von Die Grundhaltung und Praxis der Gestalt Therapie gehören, stelle ich unter dem Titel Gestalt Therapie in neuem Licht eine Reihe von Statements vor, die in die Zeit einer Rückkehr zur Psychotherapie gehören,