Gestalt - Präsenz - Gewahrsein- Verantwortung:. Claudio Naranjo

Gestalt - Präsenz - Gewahrsein- Verantwortung: - Claudio Naranjo


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Sammlung von Essays einen kürzeren persönlichen Beitrag: der grundlegende transpersonale Aspekt von Gestalt, eine Kritik der „Löcher“ in dem Ansatz dieser Therapieform, einige Erläuterungen meiner späteren klinischen Arbeit, eine Schilderung meiner Einstellung bezüglich therapeutischer und ausbildungsbezogener Übungen einschließlich einiger besonderer Einblicke in meine persönliche „Trickkiste“ sowie Überlegungen zu Übereinstimmungen zwischen Gestalt und einigen spirituellen Traditionen. Die ersten drei dieser Aufsätze sind bereits im The Gestalt Journal erschienen (der zweite ist ein überarbeitetes Transkript der Eröffnungsansprache der Baltimore Conference 1981). Zwei weitere gehen aus Vorträgen hervor, die ich auf der Zweiten Internationalen Gestaltkonferenz in Madrid 1987 gehalten habe, während das Kapitel über Gestaltübungen – meine besondere Spezialität – eigens für dieses Buch geschrieben wurde. Kurz vor Drucklegung entschloß ich mich, ein weiteres Kapitel hinzuzufügen: Gestalt nach Fritz, das sich mit der Geschichte der Gestaltbewegung auseinandersetzt. Es beruht auf einem Vortrag, den ich auf der Vierten Internationalen Gestaltkonferenz in Siena 1991 hielt, und bedarf keiner weiteren Erläuterung.

      Trotz dieser Ergänzungen gibt es jedoch noch ein Thema, das in diesem Buch fehlt: In meiner Besprechung der Lebensphilosophie, die der Gestalttherapie zugrundeliegt, habe ich es versäumt, das Vertrauen in die Selbstregulierungskräfte des Organismus zu erwähnen. Ich habe gesagt, daß Gestalt (von Seiten des Patienten) aus fünfzig Prozent Aufmerksamkeit und fünfzig Prozent Spontaneität besteht. In dem Kapitel „Integrationstechniken“ habe ich jedoch mehr das Gewahrsein als die Spontaneität betont.

      Fritz Perls’ Vertrauen auf die Selbstregulierung des einzelnen ist für die moderne Psychotherapie von ähnlich wichtiger Bedeutung wie Rogers’ Vertrauen auf die Selbstregulierung von Gruppen: Beider Haltung war unabhängig von den Abgrenzungen verschiedener Strömungen und hat die psychotherapeutische Praxis durch ihren Einfluß, der verschiedene Ansätze vereinigte, nachhaltig geprägt.

      Ich habe eine umfangreiche Textsuche nach dem Ausdruck „organismische Selbstregulierung“ in den Titeln und Abhandlungen von zweihundert psychologischen und medizinischen Zeitschriften angestellt, die seit 1966 erschienen sind, und es erscheint mir sehr kennzeichnend, daß die Formulierung kein einziges Mal auftaucht. Es war sicherlich Fritz Perls, der den Ausdruck populär machte, und er gebrauchte ihn auf eine Weise, die den Eindruck erweckte, als handele es sich um einen bekannten Begriff. Ich glaube, ich war nicht der einzige seiner Zuhörer, der sich in dem Glauben befand, er zitiere Sherrington oder Goldstein. Sicherlich war der Begriff seinen Hörern bekannt, und trotzdem war die unterschwellige Verwendung des Begriffs „Selbstregulierung“ im Sinne eines durch wissenschaftliche Autorität sanktionierten Konzeptes eher ein schamanistischer Taschenspielertrick. Das Vertrauen auf die Selbstregulierung des Organismus ist in der Gestalttherapie als Vertrauen auf die Spontaneität verkörpert – und diese wiederum geht Hand in Hand mit dem, was ich als „humanistischen Hedonismus“ bezeichnet habe. Das ist nichts anderes als eine biologische Übertragung des existentiellen Begriffs, „man selbst“ zu sein. In beiden Fällen ist ein Leben gemeint, das von innen heraus gelebt wird, im Gegensatz zu einem äußerlich orientierten Leben aus Gehorsam, Pflichtgefühl oder Sorge darum, wie man vor anderen erscheint. Die Ideale der Spontaneität und Authentizität beinhalten ein Vertrauen, das der innenwohnenden Vollkommenheit im Mahayana Buddismus und anderen spirituellen Traditionen ähnelt.

      Es ist kennzeichnend, daß der Ort, an dem Fritz Perls die Blüte seiner Jahre erlebte und als der bekannt wurde, der er wirklich war – völlig losgelöst und fernab aller Konventionen –, das Esalen Institute war, ein Zentrum, das teilweise durch Alan Watts’ Hilfe und Unterstützung entstand und zu dessen ersten Bewohnern Gia-Fu-Feng gehörte, der damals viele Wände mit seinen wunderschönen Kalligraphien verzierte, Tai-Chi lehrte und uns später eine der zeitgemäßen Übertragungen von LaoTse schenkte. Diese äußeren Umstände kamen einer Vorliebe von Fritz für taoistische Ideen sehr entgegen, die sich in seinem Leben und Werk widerspiegeln. Wenn Fritz von „organismischer Selbstregulierung“ sprach, dann meinte er damit auch das „Tao“ zumindest im Sinne des „Tao des Menschen“, das die Taoisten vom überindividuellen „Tao des Himmels“ unterscheiden. Das „Tao des Menschen“ bezeichnet ein angemessenes, von Intuition, statt von Vernunft bestimmtes Handeln, das zudem eher dionysisch auf Vorlieben abzielt, statt im Sartreschen Sinne auf Gelegenheiten zu warten.

      In seinem Festhalten an der Vorstellung von einer Selbstregulierung des Organismus stellte sich Perls nicht nur in die Nachfolge Freuds, der erstmals die schädlichen Folgen der Triebunterdrückung aufzeigte, sondern auch in die Wilhelm Reichs (seines Analytikers), der als erster mehr auf den Instinkt als auf die zeitgenössische Zivilisation vertraute. Anstelle eines eigenen Kapitels über die organismische Selbstregulierung in diesem Buch möchte ich die Thematik in dieser Einleitung umreißen, bevor ich auf das Thema Gewahrsein eingehe – ein Begriff, der für die innere Haltung der Gestalttherapie eine wichtige Rolle spielt und der vorwiegend dionysischen Qualität ihrer Ethik entspricht.

      Ich habe unter der Rubrik „Theorie“ meine Aussagen über die Betonung der inneren Haltung im Gegensatz zu den Techniken der Gestalttherapie sowie meine Anmerkungen zur Gegenwartsbezogenheit zusammengestellt. Trotzdem habe ich es von Anfang an bewußt vermieden, dieses Buch „Theorie und Praxis der Gestalttherapie“ zu nennen. Die Wortwahl „Grundhaltung und Praxis“ beruht auf meiner Überzeugung, daß die Gestalttherapie nicht als die Anwendung eines theoretischen Lehrgebäudes entstanden ist, das man als ihre Grundlage bezeichnen könnte, sondern vielmehr mit einer bestimmten Weise des Daseins in der Welt zu tun hat.

      Es ist in erster Linie Fritz Perls’ psychologische Perspektive, die mich interessiert, und natürlich könnten wir seine Sichtweise in allen Einzelheiten darstellen und darin – wie in Das Ich, der Hunger und die Aggression5 dargelegt – eine bestimmte Sichtweise des Ego als internem Störfaktor sowie als „Identifikationsfunktion“ entdecken. Wir würden darüber hinaus bestimmte Vorstellungen über das Selbst und seine Beziehungen finden, neben der Sicht des Organismus als offenes System innerhalb seiner Umwelt und dem ganzheitlichen Ansatz der Gestalttherapie. Obwohl wir all dies und mehr finden können, empfinde ich die psychologischen Vorstellungen Fritz Perls’ eher als den Kontext seiner Arbeit und weniger als die Grundlage, als Erläuterung, nicht als Skelett. Daher vermied ich bei der Darstellung Esalens und Herbert Ottos in I and Thou Here and Now (Ich und du hier und jetzt) Mitte der sechziger Jahre jegliche Begriffsdefinition (was von einem Kritiker in Etc.: The Journal of General Semantics besonders bemerkt wurde), indem ich die Gestalttherapie einfach als den „Ansatz, der seinen Ursprung in der Arbeit Fritz Perls’ hat“6, bezeichnete.

      Als ich in den späten sechziger Jahren nach einem besseren Verständnis der „theoretischen Grundlagen“ der Gestalttherapie suchte, wendete ich mich an Gene Sagan (über den Fritz in den frühen Sechzigern sehr begeistert war und der dessen Verbindung zum Esalen Institut hergestellt hatte). Überraschenderweise sagte er mir, daß er der Meinung sei, daß die Gestalttherapie mehr mit der Stanislawski-Schule des Schauspiels zu tun habe als mit der Gestaltpsychologie. Ich stimme in dieser Beziehung noch immer mit ihm überein. Ebenso vertrat ich auf der Konferenz in Baltimore die Auffassung, daß Fritz eine wissenschaftliche Untermauerung der Gestalttherapie erst dann suchte, als er sie gegen akademische Kreise verteidigen mußte.

      Ich bin weit davon entfernt, theoriefeindlich eingestellt zu sein, und habe erhebliche Einwände gegen die anti-intellektuelle Einstellung Fritz Perls’, die von vielen anderen übernommen wurde. Wenn die Gestalttherapie überhaupt eine Theorie braucht, dann ist sie nicht in einer Sammlung von Fritz Perls’ persönlichen Auffassungen zu finden, wie etwa: „Angst ist Erregung minus Atem“ oder: „zu sterben und wiedergeboren zu werden ist nicht einfach“, so tiefschürfend diese auch sein mögen. Der Psychotherapeut kann einen weitaus größeren Nutzen aus einem Verständnis der Psyche und des Wachstumsprozesses ziehen, als aus einer trockenen, spezifischen Gestalttheorie. Zumindest persönlich bin ich eher an einer Theorie von Gesundheit und Krankheit interessiert (um es anspruchsvoller auszudrücken: eine Theorie von Erleuchtung und Verdunkelung), die nicht nur die Inspirationen der Gestaltpsychologie zusammenbringen würde, sondern auch all das, was wir über Prägung, Psychodynamik und darüber hinaus über die Einflüsse der östlichen spirituellen Traditionen wissen.

      Weniger


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