Gestalt - Präsenz - Gewahrsein- Verantwortung:. Claudio Naranjo
notwendig sein, daß ein Mensch, der sich einer bestimmten Praxis widmet, eine Haltung der „Offenheit“ einnimmt, daß er „losläßt“, empfänglich, hingebungsvoll, gelassen, vertrauensvoll, gläubig, voller Sehnsucht und so weiter wird. Selbst in einer Praxis, die dem aktiven Tun so abhold ist wie die Zen-Meditation, versucht der Meditationslehrer zu vermitteln, wie die Technik in die Praxis umgesetzt werden muß, um wirksam zu sein. Obwohl die äußeren Aspekte des Nicht-Handelns klar sein mögen, „umfaßt das bloße Sitzen alle Koans“, wie Shunryo Suzuki feststellte.
Um nicht nur ein Vorführer von Techniken zu sein, sondern jemand, der sich auch darum kümmert, daß sie ihre Funktion erfüllen können, muß der Therapeut, ebenso wie der spirituelle Lehrer einer bestimmten Tradition, ein Experte für das Wie der Techniken sein. Man könnte ihn mit dem Uhrmacher vergleichen, der eine beträchtliche Summe für einen Fausthieb auf eine kaputte Uhr berechnet. „Soviel Geld für einen Schlag auf die Uhr?“, wäre die natürliche Reaktion des Kunden, obwohl er zugeben müßte, daß die Uhr nun einwandfrei funktionierte. „Keineswegs. Der Schlag hat nur zehn Pfennige gekostet, der Rest ist für das „Gewußt Wo“ wäre die Antwort. Ein Großteil der ausführlichen Literatur über psychotherapeutische Systeme befaßt sich mit den Techniken, und dennoch geht es – ebenso wie in der Geschichte mit dem Uhrmacher – nicht eigentlich um die Techniken. Techniken, so könnte man sagen, sind – sowohl für den Patienten als auch für den Therapeuten – eine Gelegenheit zum Ausdruck der inneren Haltung, welche die wirkliche Arbeit ausmacht. Sie bestehen aus einer Reihe von Handlungen, die in einem bestimmten Geist vollführt werden müssen, und der Therapeut ist derjenige, der diesen Geist bis zu einem gewissen Grad repräsentiert. Sein Wissen, was zu tun ist und wie man sich zu verhalten hat, beruht nicht in erster Linie auf komplizierten Formeln, sondern auf einem umfassenden Verständnis dafür, wie es um den Patienten bestellt ist – ein Verständnis, das er nicht unbedingt in Worten ausdrücken können muß. Darüber hinaus braucht sein implizites Verständnis – das er durch Lebenserfahrung und Ausbildung entwickelt hat – nicht unbedingt an sein theoretisches Niveau geknüpft zu sein.
Die Gestalttherapie ist unter den großen Schulen der Psychotherapie einzigartig wegen des Ausmaßes, zu dem dieses System auf intuitivem Verständnis, statt auf Theorie beruht. Das heißt jedoch nicht, daß die Intuition für die kreative Arbeit von Freud, Jung oder anderen nicht wichtig war. Wahrscheinlich beruht jedes wirksame System zu einem gewissen Grad auf persönlichen Erkenntnissen. Ebensowenig bedeutet es, daß die Intuition nicht auch Bestandteil des psychotherapeutischen Prozesses im allgemeinen ist. Die Einzigartigkeit der Gestalttherapie liegt jedoch in der Tatsache, daß die direkte Verwurzelung der Praxis in der Intuition und in einem lebendigen Verständnis niemals durch eine Grundlage theoretischer Voraussetzungen ersetzt wurde. Ideen sind sicherlich Teil des Systems, doch sind Ideen die Blüten und nicht die Wurzeln. Darüber hinaus besteht das Wesen dieser Ideen im allgemeinen aus einer Erläuterung der Einstellungen, statt auf theoretischen Konstrukten. Es sind Ideen, die auf Erfahrung beruhen, statt auf Spekulation, und nicht zur Unterstützung der therapeutischen Aktivität dienen, sondern zu dieser eine alternative Ausdrucksform bilden.
Perls vertrat die Auffassung, daß ein Psychotherapeut ganz er selbst zu sein hat und daß umgekehrt jeder Mensch, der ganz er selbst ist, zu einem gewissen Grad über therapeutische Fähigkeiten verfügt. Er entwickelte und verwendete Techniken (ebenso wie man Stifte zum Schreiben und Besteck zum Essen verwendet), aber warnte uns vor „Requisiten“ – Prozessen, die in der Erwartung angewendet werden, daß sie etwas ausrichten, während wir uns zurücklehnen und untätig sein können. In seinem Denken gab es keine Trennung zwischen seinem Leben und seiner Arbeit. Das, was er „lehrte“, wenn er Psychotherapeuten „ausbildete“, bestand im wesentlich darin, daß er sie dazu brachte, sie selbst zu sein. Er vertraute darauf, daß das Sein ansteckend war und daß das für das intrinsische Erlernen der Psychotherapie ausreichend sei. Zu sein bedeutete für ihn, hier und jetzt zu sein, geistesgegenwärtig und verantwortungsvoll – das heißt, hinter all seinen Handlungen und Gefühlen zu stehen.
Diese drei Dinge – die Präsenz, das Gewahrsein und die Verantwortung – stellen den Kern der Grundhaltung der Gestalttherapie dar. Obwohl dies äußerlich drei völlig verschiedene Einstellungen sind, sind es doch nur Aspekte oder Facetten eines einzigen Seinsmodus in der Welt. Verantwortlich zu sein, das heißt, angemessen auf die aktuelle Situation antworten zu können, und beinhaltet, daß man präsent ist, hier und jetzt. Und wirklich präsent zu sein heißt, sich der Gegenwart gewahr zu sein. Gewahrsein wiederum ist auch Präsenz – Realität –, unvereinbar mit der Illusion der Unverantwortlichkeit, durch die wir unserem Leben aus dem Wege gehen. Es ist das Wissen, daß wir in Illusionen leben, ganz gleich, was wir auch denken mögen.
Die Philosophie der Gestalttherapie
Die grundlegende Haltung des Aufgeschlossenseins für die gegenwärtige Realität, des Gewahrseins und der Verantwortung wird in einer Reihe spezifischer Haltungen deutlich, die Gestalttherapeuten in ihrer Ausbildung erlernen und in ihrer Arbeit weitergeben, ohne jedoch andere missionieren zu wollen. Diese spezifischen Haltungen können als die natürlichen Folgen der Aufgeschlossenheit, des Gewahrseins und der Verantwortung gesehen werden. Ich bin der Meinung, daß diese Haltungen zusammen mit ihrer dreifachen Grundlage die eigentliche Tradition der Gestalttherapie bilden, während die Techniken nur die praktischen Mittel zum Ausdruck und zur Weitergabe ihres Verständnisses sind. Um einige Beispiele zu nennen:
1. In der Gestalttherapie gibt es eine Haltung des Respekts vor der Krankheit eines Menschen, statt des Versuchs, einen Wandel zu bewirken. Es ist paradox zu sagen, daß psychotherapeutisches Handeln, das wir natürlich als auf Wandel gerichtet sehen, in diesem Fall darauf beruht, die Person so zu akzeptieren, wie sie ist. Auf der anderen Seite kennen wir aus allen Richtungen der Psychotherapie das Phänomen, daß in der Tat, wenngleich auch nicht in der Theorie, Akzeptanz (als Annahme des Selbst, die manchmal durch aufrichtige Hilfe von außen erleichtert wird) zu Wachstum führt und nicht zu Stagnation. Das Leben ist ein Prozeß, und es bedarf nichts weiter, als es zu leben, um seinen Fluß aufrechtzuerhalten. Aus Sicht der Gestalttherapie ist es eine Art, nicht zu leben, wenn man neben dem Leben steht und sich sagt, was man tun und was man lassen sollte. Durch das „Sollte“ verstärken wir nicht etwa unser Sein, sondern verlieren aus dem Blick, was wir sind. Die Gestalttherapie hebt sich in dieser Beziehung besonders dadurch ab, was sie nicht tut. Sie geht davon aus, daß Gewahrsein allein ausreichend ist, daß es zum Wandel nichts weiter bedarf als der Präsenz, des Gewahrseins, der Verantwortung. Dr. Arnold Beisser nannte dies „die paradoxe Theorie des Wandels“. Ich habe jedoch wegen der experimentellen Grundlage dieser Haltung Bedenken gegen den Begriff „Theorie“ in diesem Zusammenhang. Im besten Fall ist es nicht die intellektuelle Einstellung: „Ich weiß, daß er sich verändern wird, sobald er aufhört, sich zu bemühen. Ich werde auf diese Theorie vertrauen und ihn aus seinem Teufelskreis heraustricksen.“ Es ist vielmehr ein echtes Interesse daran, daß der Patient der sein kann, der er ist (oder ein Desinteresse daran, ihn zu verändern). Wenn ein Therapeut überhaupt einen Wandel will, dann will er mehr von dem, was bereits da ist. Er will, daß der Patient stärker präsent ist, verantwortlicher für das, was er ist, und geistesgegenwärtiger. Der Patient, der „sich ändern“ will, will sowenig wie möglich von sich selbst und fängt an zu vermeiden, zu lügen, vorzuspiegeln und so weiter. Und doch wird er eines Tages durch die bloße Erfahrung des Seins lernen, daß er nichts anzustreben braucht, was er nicht ist.
2. Ein weiterer Ausdruck dessen, was ich die „Grundhaltung der Gestalttherapie“ nenne, ist jene besondere Einstellung, die Dr. Resnick in seinem Aufsatz „Chicken Soup is Poison“ (Hühnersuppe ist Gift) vorgestellt hat. Wenn unser Sein (Präsenz, Gewahrsein, Verantwortung) alles ist, was wir brauchen, ist es doch nicht alles, was wir wollen. Aus der Sicht der Gestalttherapie basieren viele unserer Wünsche nicht auf Bedürfnissen, sondern sind Gelüste auf materielle Ersatzbefriedigungen für das, was uns in unserem Sein ermangelt. Perls verstand unter persönlicher Reife den Übergang von der Unterstützung durch die Umwelt zur Unterstützung durch das Selbst. Gestalttherapeuten sind sich der doppelten Auswirkungen bewußt, die Unterstützung im therapeutischen Zusammenhang hat: Sie kann eine Basis für Wachstum, aber auch Ersatz für Wachstum sein. Sie sehen die therapeutische Rolle eines „Helfers“ mit Vorbehalten, denn sie sind der Meinung, daß eine „Hilfestellung“