Gestalt - Präsenz - Gewahrsein- Verantwortung:. Claudio Naranjo

Gestalt - Präsenz - Gewahrsein- Verantwortung: - Claudio Naranjo


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der Kindheit des Patienten zu tun hatten. Freud ging davon aus, daß der Patient sich nur von seiner eigenen Vergangenheit befreien kann, indem er in der Gegenwart für sie Verständnis findet.

      Der erste Schritt hin zu einem Interesse an der Gegenwart in der Psychoanalyse war Freuds Entdeckung des Phänomens der Übertragung. Da die Gefühle des Patienten für den Analytiker als Abbild seiner früheren Gefühle für seine Eltern oder Geschwister gesehen wurden, gewannen sie sofort an Bedeutung für das Verständnis der noch immer im Mittelpunkt stehenden Vergangenheit des Patienten.

      Anfangs hielt sich die Analyse der Übertragung noch immer an die retrospektive Deutung der Vergangenheit, aber wir können davon ausgehen, daß sie sich immer mehr in Richtung eines verselbständigten Interesses bewegte, denn der nächste Schritt war die allmähliche Verlagerung der Betonung von der Vergangenheit in die Gegenwart, nicht nur als das untersuchte Medium oder Material, sondern als das eigentliche Ziel des Verständnisses. Daher wurde aus dem Verständnis der Gegenwart zum Zweck der Vergangenheitsbewältigung die heutige Deutung der Kindheitserlebnisse als Mittel zum Verständnis der Gegenwartsdynamik.

      Die Entwicklungslinien, die zu dieser Verschiebung führten, sind zahlreich. Melanie Klein beispielsweise pflegt eine interpretative Sprache, die auf Annahmen über frühe Kindheitserfahrungen beruht, wenngleich die Tendenz ihrer Schule in der eigentlichen Praxis fast ausschließlich auf das Verständnis der „Übertragungsbeziehung“ abzielt. Ein ähnlicher Schwerpunkt auf die Gegenwart wurde von Bion auf die Gruppensituation angewendet.

      Wilhelm Reichs Schwerpunktverlagerung auf die Gegenwart war das Ergebnis seiner Interessenverlagerung von Worten zu Taten. In seiner Charakteranalyse ist der Schwerpunkt auf das Verständnis der Ausdrucksform des Patienten gelegt, statt auf das, was er sagt. Dies geschieht am besten dadurch, daß man sein Verhalten in der jeweiligen Situation beobachtet.

      Ein dritter Beitrag für die Evaluation der Gegenwart im therapeutischen Prozeß geht auf Karen Horney zurück und berührt die eigentliche Grundlage der Interpretation von Neurosen. Aus ihrer Sicht werden Störungen, die in der Vergangenheit ihren Ursprung haben, in der Gegenwart durch eine falsche Identität aufrechterhalten. Der Neurotiker hat irgendwann im Austausch für ein glänzendes Selbstbild seine Seele an den Teufel verkauft und zieht es weiterhin vor, diesen Pakt zu respektieren. Wenn ein Mensch versteht, wie er sein wahres Selbst in diesem Augenblick verbirgt, kann er frei werden.

      Die wachsende Betonung der Orientierung auf die Gegenwart in der zeitgenössischen Psychotherapie kann auf den Einfluß zweier Quellen außerhalb der Psychoanalyse zurückgeführt werden: Encounter-Gruppen und östliche spirituelle Disziplinen. Über letztere sind mittlerweile auch im Westen Informationen weit verbreitet, und die Praxis von einigen nimmt zu. Besonders Zen kann als Einfluß genannt werden, der zur Entwicklung der Gestalttherapie in ihrer gegenwärtigen Form beigetragen hat.

       Das Jetzt in der Aktualisierung und im „Gewahrseinskontinuum“

      Die Gegenwartsbezogenheit spiegelt sich im methodischen Repertoire der Gestalttherapie auf mindestens zweierlei Weise wider. Die eine ist die ausdrückliche Aufforderung des Patienten, alles, was in den Bereich seiner gegenwärtigen Aufmerksamkeit eintritt, zu registrieren und zum Ausdruck zu bringen. In den allermeisten Fällen wird dies damit verbunden sein, daß der Therapeut den Patienten bittet, den Fluß seiner Gedanken zugunsten der puren Selbstwahrnehmung aufzugeben. Die andere ist die Aktualisierung der Vergangenheit und der Zukunft (oder der Phantasietätigkeit im allgemeinen). Dies kann als innerer Versuch geschehen, vergangene Ereignisse neu zu erleben oder sich mit ihnen zu identifizieren oder, in den allermeisten Fällen, als ein aktives Nachvollziehen der Szenen mit Gesten, Körperhaltungen und Stimme, nach Art eines Psychodramas.

      Beide Techniken haben Vorläufer in spirituellen Disziplinen, die weit älter sind als die Psychotherapie, was angesichts ihrer Bedeutung kaum verwunderlich ist. Die Technik der Aktualisierung findet man in der Geschichte des Schauspiels, in Magie und Ritual wie auch in der Inszenierung von Träumen bei einigen Naturvölkern. Das Verweilen in der Gegenwart ist das Fundament einiger Meditationsarten. Dennoch finden die Aktualisierung und das Verweilen in der Gegenwart in der Gestalttherapie eine unverwechselbare Verkörperung und Nutzungsweise, die es lohnt, ausführlich vorzustellen. Auf den folgenden Seiten werde ich mich auf das Verfahren konzentrieren, das man in der Gestalttherapie die Übung des „Gewahrseinskontinuums“ nennt. Da sie sehr einer in Worte gefaßten Meditation ähnelt und ihre Rolle der Rolle der freien Assoziation in der Psychoanalyse vergleichbar ist, werde ich sie überwiegend in vergleichender Form vorstellen.

       Gestalttherapie und Meditation

      Die Übung der Aufmerksamkeit für die Erfahrung der Gegenwart hat in zahlreichen spirituellen Traditionen ihren Platz. Im Buddhismus ist es die natürliche Folge der „Rechten Achtsamkeit“, einer der Bestandteile des „Edlen Achtfachen Pfades“. Ein Aspekt der „Rechten Achtsamkeit“ ist die Übung der bloßen, ungerichteten Aufmerksamkeit.

      Die bloße Aufmerksamkeit befaßt sich mit nichts anderem als der Gegenwart. Sie lehrt, was viele Menschen vergessen haben: im vollen Gewahrsein des Hier und Jetzt zu leben. Sie lehrt uns, uns der Gegenwart zu stellen, ohne in Gedanken über Vergangenheit und Zukunft abzuschweifen. Vergangenheit und Zukunft sind für das gewöhnliche Bewußtsein kein Gegenstand der Wahrnehmung, sondern nur der Reflektion. Im gewöhnlichen Leben werden Vergangenheit und Zukunft jedoch höchst selten zum Gegenstand wahrhaft weiser Reflektion, sondern sie sind meistens Anlaß zu Tagträumen und allerlei Phantasien, die die Haupthindernisse für die rechte Achtsamkeit ebenso wie für die rechte Versenkung darstellen. Bloße Aufmerksamkeit, die treu an ihrem Beobachtungspunkt festhält, verfolgt achtsam und ohne innere Bindung den unaufhörlichen Lauf der Zeit: Sie wartet geduldig darauf, daß die zukünftigen Dinge vor ihren Augen erscheinen, zu Gegenwärtigem werden und wieder in der Vergangenheit verschwinden. Wieviel Energie wird durch nutzlose Gedanken an die Vergangenheit verschwendet: in untätiger Sehnsucht an längst vergangene Tage, in vergeblichem Bedauern und Reue und durch die sinnlose und geschwätzige Wiederholung aller Banalitäten der Vergangenheit in Worten oder Gedanken. Gleichermaßen überflüssig ist ein Großteil der Gedanken, die der Zukunft gewidmet sind: vergebliche Hoffnungen, phantastische Pläne und hohle Träume, unbegründete Ängste und unnötige Sorgen. All dies wiederum ist die Ursache für vermeidbare Enttäuschungen und Belastungen, die durch bloße Aufmerksamkeit vertrieben werden können.8

      Vergangenheit und Zukunft sind als „Ding an sich“ ungeeignet, weil sie von Natur aus der Vorstellung entspringen. Gleichzeitig sollte man sie lieber meiden, weil das Verharren bei ihnen einen Verlust von Freiheit mit sich bringt: Die Illusion verwickelt uns in immer neue Illusion. Wie Nyaponika es ausdrückt:

      Rechte Achtsamkeit fördert für den Menschen die verlorene Perle seiner Freiheit wieder zutage, entreißt sie den Fängen des Drachen Zeit. Rechte Achtsamkeit befreit den Menschen aus den Fesseln der Vergangenheit, die er in seiner Torheit ständig zu verstärken sucht, indem er zu häufig zurückschaut, mit sehnsuchtsvollem Blick, in Reue oder Zorn. Rechte Achtsamkeit bewahrt den Menschen sogar vor den Fesseln der Gegenwart, die er sich durch die Einbildungen seiner Ängste und Hoffnungen auf vorweggenommene zukünftige Ereignisse anlegt. So bringt die Rechte Achtsamkeit dem Menschen eine Freiheit zurück, die nur in der Gegenwart gefunden werden kann.

      Die wichtigste Übungsform im Zusammenhang mit diesem Zitat ist die Meditationsweise, die im Chinesischen wu-hsin (Ideallosigkeit) genannt wird und, wie Alan Watts feststellte, vor allem aus „der Fähigkeit, das normale und alltägliche Bewußtsein beizubehalten und gleichzeitig loszulassen“ besteht.

      Das heißt, man beginnt, eine objektive Sichtweise des Gedankenflusses, der Eindrücke, Gefühle und Erlebnisse einzunehmen, die unaufhörlich durch unseren Geist fließen. Statt zu versuchen, sie zu kontrollieren und einzugreifen, läßt man es einfach fließen, wie es will. Während jedoch normalerweise das Bewußtsein sich von dem Fluß forttragen läßt, ist es in diesem Falle wichtig, ihn wahrzunehmen, ohne sich davon beeinflussen zu lassen.

      Dies ist ein Zustand, in dem

      … man die Erfahrungen einfach so annimmt, wie sie kommen, ohne einerseits in sie einzugreifen und andererseits sich mit ihnen zu identifizieren. Man beurteilt


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