Gestalt - Präsenz - Gewahrsein- Verantwortung:. Claudio Naranjo

Gestalt - Präsenz - Gewahrsein- Verantwortung: - Claudio Naranjo


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      P.: Ich bin dir sehr dankbar, und ich möchte es gern zum Ausdruck bringen.

      T.: Okay. Nun vergleich bitte einmal diese beiden Aussagen: „Ich bin dankbar“ und die Mitteilung, daß du dich diese Woche viel besser fühlst. Kannst du mir sagen, was dich dazu gebracht hat, diese Geschichte der direkten Mitteilung deiner gegenwärtigen Gefühle vorzuziehen?

      P.: Wenn ich sagen würde: „Ich bin dir dankbar“, hätte ich das Gefühl, ich müßte es noch erklären …

      Oh! jetzt weiß ich es. Über meine Dankbarkeit zu sprechen, ist mir zu direkt. Ich fühle mich sicherer, wenn ich dich es erraten lasse oder dir nur ein gutes Gefühl vermittele, ohne dir etwas über meine Gefühle zu sagen.

      In diesem besonderen Fall können wir sehen, daß der Patient: 1) es vermeidet, für seine Gefühle die Verantwortung zu übernehmen und sie zum Ausdruck zu bringen (wie später in seiner Ambivalenz deutlich wird), und 2) seine Gefühle ausagiert, statt sie zu offenbaren, in einem Versuch, die Gefühle des Therapeuten zu beeinflussen und ihn zufriedenzustellen, statt sich seines Bedürfnisses bewußt zu werden, ihm zu schmeicheln.

      Wenn durch solches Befragen deutlich wird, daß der Patient über das bloße Gewahrsein hinausgehende, erlebnismotivierende Aktivitäten entfaltet hat, geschieht es häufig, daß er die Umwege seines Ausdrucksverhaltens, mit dem er von der Gegenwart abgelenkt hat, loslassen kann. Direkter Ausdruck wiederum kann zu einem reicheren Gewahrsein führen.

      T.: Jetzt sehen wir, wie es sich anfühlt, wenn du mir so direkt wie möglich von deiner Dankbarkeit erzählst.

      P.: Ich möchte dir danken für alles, was du für mich getan hast. Ich habe das Gefühl, ich müßte dich für deine Aufmerksamkeit in irgendeiner Weise entschädigen … Wow! Ich habe ein ziemlich unangenehmes Gefühl, wenn ich dir dies sage. Ich habe das Gefühl, daß du denken könntest, ich bin ein Heuchler und ein Schleimer. Ich glaube, ich habe das Gefühl, das war eine ziemlich geheuchelte Aussage. Ich fühle mich gar nicht so dankbar. Ich möchte nur, daß du glaubst, ich sei so dankbar.

      T.: Bleiben wir mal dabei. Wie fühlst du dich, wenn du willst, daß ich das glaube?

      P.: Ich fühle mich klein, ungeschützt. Ich habe Angst, du könntest mich angreifen, also will ich dich für mich einnehmen.

      Wir können die vorangegangene Illustration so verstehen, daß der Patient anfangs keine Verantwortung für seine vermeintliche Dankbarkeit übernehmen will. Denn schon bald wurde deutlich, daß dies an seiner Ambivalenz lag und an seiner Unwilligkeit, eine ausdrückliche Lüge zu erzählen (oder zumindest eine Halbwahrheit). Als er schließlich die Verantwortung dafür übernahm, den Therapeuten dazu bringen zu wollen, ihn als dankbar wahrzunehmen, konnte er seine Angst als die Wurzel des ganzen Ereignisses erkennen. Es ist wahr, daß seine erste Aussage sich auf das Schlagen seines Herzens und auf seine Angst bezog, aber da er jetzt von seiner Erwartung spricht, der Therapeut könne ihn angreifen, geht er tiefer auf die Substanz seiner Angst ein. Wenn man sich die Mitschrift noch einmal anschaut, scheint es logisch, anzunehmen, daß er in dem Moment von der Gegenwartsbezogenheit abwich, als er implizit begann, zu manipulieren, statt zu erfahren. Das bloße Bestehen auf eine Rückkehr in die Gegenwart hätte möglicherweise nur weitere Inhalte aus seinem oberflächlichen Bewußtsein zutage gebracht, aber nicht vermocht, die Funktion seiner Vermeidung zu enthüllen, die außerhalb seines Gewahrseins lag.

       Das Gewahrseinskontinuum und die freie Assoziation

      Der Platz, den das Mitteilen der gegenwärtigen Erfahrung in der Gestalttherapie einnimmt, ist durchaus der freien Assoziation in der Psychoanalyse vergleichbar. So ist der Unterschied zwischen diesen beiden Verfahren gar nicht so deutlich, wie dies von den Definitionen her den Eindruck macht.

      Im Prinzip betont die „freie Assoziation der Gedanken“ zwar das, was die Gestalttherapie am meisten vermeidet: Erinnerungen, Überlegungen, Erklärungen, Phantasien. In der Praxis jedoch kann der psychoanalytische Patient in seiner Kommunikation durchaus in erster Linie erfahrungsorientiert sein, während der Gestalttherapiepatient häufig von dem Gebiet der gegenwärtigen Sinneswahrnehmungen, des Fühlens und Tuns abschweift. Neben den Anleitungen, die dem Patienten in der Gestalttherapie gegeben werden, um seine Kommunikation auf das Gegenwärtige und den Bereich der unmittelbaren Erfahrung zu beschränken, gibt es einen weiteren Unterschied in der Einstellung des Therapeuten zur Verständigung mit dem Patienten.

      Nehmen wir den Fall eines Patienten, der in Erinnerungen an ein angenehmes Ereignis schwelgt. Ein Analytiker wird möglicherweise zuerst den Patienten dazu anhalten, sich mit der Bedeutung des erinnerten Ereignisses auseinanderzusetzen. Der Gestalttherapeut wird darauf zu sprechen kommen, warum der Patient nicht über das spricht, was jetzt mit ihm geschieht, und, statt in der Gegenwart zu bleiben, lieber in Erinnerungen lebt. Mehr als mit dem Inhalt seiner Erinnerungen befaßt er sich damit, was er gegenwärtig tut: nämlich ein vergangenes Ereignis aktualisieren und darüber sprechen.

      Auch der Analytiker kann sich jedoch mit der Gegenwart des Patienten befassen. In diesem Fall wird er wahrscheinlich dessen Erinnerungen entweder als Ersatzhandlung und Abwehrhaltung angesichts seiner gegenwärtigen Gefühle interpretieren oder als Schlüssel oder indirekten Hinweis auf seine aktuellen erfreulichen Gefühle. Der Gestalttherapeut hingegen wird Interpretationen für Botschaften an den analytischen Geist des Patienten halten, der sich von der Realität entfernen muß, um „darüber nachzudenken“. Er wird sich darum bemühen, die gegenwärtige Entfremdung der Erfahrung gegenüber, die aus Abstraktion und Interpretation resultiert, zu reduzieren. Daher wird er statt dessen die Fähigkeiten des Patienten als „Co-Phänomenologe“ nutzen, um statt des Theoretisierens oder Einordnens dieses Erinnerungsvorganges an ein angenehmes Ereignis ihn einfach nur wahrzunehmen. Das Gewahrsein des „ich erinnere mich an etwas Angenehmes“ ist bereits ein Schritt über das Erinnern hinaus, der einen Weg zum Verständnis des eigentlichen Motivs oder der Absicht hinter dem Prozeß eröffnet. So kann es beispielsweise zu der Erkenntnis fuhren, daß „ich dir das Gefühl vermitteln möchte, daß ich viele gute Freunde habe, damit du denkst, ich bin ein toller Kerl“, oder: „ich wünsche, daß ich mich ebenso wohlfühlen könnte wie damals. Bitte hilf mir dabei“, oder: „ich fühle mich im Augenblick sehr gut aufgehoben – fast wie damals“ und so weiter.

      Wenn der Patient sich darüber im klaren wäre, was er tut, während er sich erinnert, Dinge vorwegnimmt und interpretiert, dann wäre eigentlich alles „in Ordnung“. Das Problem ist nur, daß solche Handlungen meistens eine gegenwärtige Erfahrung ersetzen, verdecken und dazu führen, daß sie ausagiert wird, statt sie zu erkennen und anzunehmen. Es ist also nicht „in Ordnung“, wenn die Handlungen aus der Annahme herrühren, daß etwas nicht stimmt, und daß unser Bewußtsein sich in ihnen verfängt, bis wir uns selbst vergessen.

      Alan Watts schreibt dazu, daß nach einer Zeit der Übung des Lebens in der Gegenwart deutlich wird:

      … daß es in der wirklichen Realität unmöglich ist, außerhalb dieses Augenblicks zu leben. Natürlich sickern unsere Gedanken an Vergangenheit und Zukunft in die Gegenwart ein, und in diesem Sinne ist es unmöglich, sich auf irgend etwas zu konzentrieren, außer auf das, was gerade geschieht. Wenn man jedoch versucht, einfach in der Gegenwart zu leben, indem man das reine „momentane“ Gewahrsein des Selbst kultiviert, entdeckt man in der Erfahrung ebenso wie in der Theorie, daß der Versuch unnötig ist. Wir lernen, daß das Zeitdenken des Egos keinen einzigen Moment mit dem ewigen und momentanen Bewußtsein des Selbst in Konflikt geraten ist. Tiefer als alle Erinnerungen, Zukunftsgedanken, Ängste und Wunschvorstellungen liegt jederzeit dieses Zentrum des reinen und unbewegten Gewahrseins, das sich zu keiner Zeit jemals von der gegenwärtigen Realität getrennt hat und daher niemals wirklich von der Kette der Träume gefesselt werden konnte.

      Nachdem dies erkannt ist:

      … wird es wiederum möglich, Erinnerungen und Zukunftsgedanken gewähren zu lassen und dennoch frei von ihrer bindenden Kraft zu sein. Denn sobald man in der Lage ist, auf Erinnerung und Zukunftsgedanken als etwas Gegenwärtiges zu schauen, hat man sie (und das Ego, welches sie bilden) objektiviert. Davor waren sie subjektiv, weil sie aus der Identifikation mit vergangenen oder zukünftigen Ereignissen, mit der zeitlichen


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