Gestalt - Präsenz - Gewahrsein- Verantwortung:. Claudio Naranjo

Gestalt - Präsenz - Gewahrsein- Verantwortung: - Claudio Naranjo


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ihnen die Freiheit, genau das zu sein, was sie sind. „Der Vollkommene“ sagte Chuang-tzu, „nutzt den Geist als Spiegel; er hält nichts fest, er weist nichts zurück, er empfängt, doch behält nichts“. Dieser Zustand muß jedoch klar unterschieden werden von der bloßen Leere des Geistes auf der einen und dem undisziplinierten Umherschweifen der Gedanken auf der anderen Seite.9

      Die Übung, die Aufmerksamkeit auf die Gegenwart zu richten, stellt sich im Zusammenhang der Gestalttherapie sehr ähnlich dar wie die in Worte gefaßte Meditation. Mehr noch, es ist eine in den interpersonellen Bereich gebrachte Meditation in Form einer Selbstoffenbarung. Dies erlaubt die Supervision der Übung durch den Therapeuten (was für unerfahrene Anfänger unerläßlich sein kann) und kann den Inhalten des Gewahrseins Signifikanz verleihen.

      Ich habe keinen Zweifel, daß die Suche nach Worten und der Prozeß des Berichterstattens mit bestimmten Geisteszuständen in Konflikt geraten kann. Gleichzeitig jedoch trägt der Vorgang des Ausdrückens etwas zur Übung des Gewahrseins bei und geht über die bloße Informationsgewinnung zum Zwecke der Intervention des Therapeuten hinaus.

      Das verbalisierte Gewahrsein hat gegenüber der stillen Meditation zahlreiche Vorteile:

      1. Der Vorgang des Ausdrückens ist eine Herausforderung für die Schärfe des Gewahrseins. Es entspricht nicht ganz der Wahrheit, wenn wir sagen, wir wissen etwas, können es aber nicht in Worte fassen. Natürlich sind Worte nur Worte, und wir können niemals irgend etwas in Worte fassen. Dennoch geht die Klarheit der Wahrnehmung in begrenztem Maße Hand in Hand mit der Fähigkeit, sich auszudrücken. So ist ein Künstler in erster Linie ein Meister des Gewahrseins und erst in zweiter ein geschickter Zeichner, und in der Kunst der Psychotherapie ist die Aufgabe der Kommunikation gleichzeitig eine Herausforderung, wirklich genau hinzusehen, statt nur vom Hinsehen zu träumen.

      2. Die Gegenwart eines Zeugen führt normalerweise zu einer Erhöhung sowohl der Aufmerksamkeit als auch der Bedeutsamkeit des Beobachteten. Ich bin ebenfalls der Meinung, daß unsere Aufmerksamkeit durch die bloße Gegenwart eines außerordentlich wachsamen und bewußten Menschen geschärft werden kann, so, als sei Bewußtsein ansteckend oder als könne man sich nur schwer dem entziehen, was von jemand anderem intensiv wahrgenommen wird.

      3. Die Bewußtseinsinhalte eines interpersonellen Settings neigen von Natur aus dazu, durch interpersonelle Beziehungen geprägt zu sein, während der allein Meditierende, wenn er sich auf das Hier und Jetzt konzentriert, in seinem Gewahrseinsbereich solche Inhalte niemals finden wird. Da unter psychopathologischen Bedingungen hauptsächlich Beziehungs- und Selbstwahrnehmungsprozesse gestört sind, ist dieser Faktor bei der gemeinsam durchgeführten therapeutisch orientierten Hier-und-Jetzt-Übung nicht zu übersehen.

      4. Die interpersonelle Situation erschwert die Gegenwartsbezogenheit zusätzlich, weil sie im allgemeinen Projektionen, Vermeidungsstrategien und Selbsttäuschung hervorruft. Was zum Beispiel für den einsam Meditierenden eine Reihe von Beobachtungen körperlicher Zustände sein kann, wird im Kontext der Kommunikation möglicherweise von einem Gefühl der Angst durchsetzt, daß der Therapeut sich langweilen könnte, oder von der Annahme, daß solche Beobachtungen trivial sind oder die Wesensleere des Patienten entlarven könnten. Das Einlassen auf solche Gefühle und Phantasien ist wichtig:

      a) Wenn die Konzentration auf die Gegenwart eine erwünschte Lebensweise ist, die gewöhnlich durch die Wechselfälle interpersoneller Beziehungen getrübt wird, führt die Herausforderung des Kontakts zu einer idealen Trainingssituation. Ich möchte meinen, daß die Praxis des Lebens im Augenblick eine wirkliche Übung ist und nicht nur eine Gelegenheit zur Selbsteinsicht. Ebenso wie in der Verhaltenstherapie handelt es sich um einen Prozeß der Befreiung von neurotischen Spannungen, bei dem der Mensch sich von der zentralen Konditionierung zur Vermeidung von Erfahrung befreien und lernen kann, daß es nichts gibt, was er zu fürchten hätte.

      b) Damit einher geht die Tatsache, daß es das Gewahrsein der Schwierigkeiten bei der Gegenwartsbezogenheit ist, das den ersten Schritt zu ihrer Überwindung bilden kann. Die Erfahrung der Zwanghaftigkeit des Grübelns und Pläneschmiedens ist möglicherweise untrennbar mit der Würdigung der Alternativen dazu verbunden sowie mit einem wirklichen Verständnis des Unterschiedes zwischen diesen Gemütszuständen und der Gegenwartsbezogenheit.

      5. Der therapeutische Kontext erlaubt eine genaue Beobachtung des Prozesses der Selbstwahrnehmung, wodurch der Therapeut den Patienten in die Gegenwart zurückbringen kann, nachdem er von ihr (von sich selbst) abgelenkt worden ist. Es gibt im wesentlichen zwei verschiedene Möglichkeiten, dies zu tun. Die einfachste (außer der bloßen Erinnerung an die Aufgabe) besteht darin, ihn allmählich auf die Dinge aufmerksam zu machen, die er unwillkürlich tut. Dies wird erreicht, indem man seine Aufmerksamkeit auf Aspekte seines Verhaltens lenkt, die anscheinend einen Teil seiner automatischen Verhaltensmuster ausmachen oder mit seinen absichtlichen Handlungen kollidieren. Ein solches einfaches Funktionieren als Spiegel für den Patienten kann dabei helfen, sich auf seine Beziehung zu sich selbst und auf sein Handeln im allgemeinen zu konzentrieren.

      P.: Ich weiß nicht, was ich jetzt sagen soll …

      T.: Ich merke, daß du mich jetzt nicht anschaust.

      P.: (kichert)

      T.: Und jetzt hältst du dir eine Hand vors Gesicht.

      P.: Du machst mir so ein schlechtes Gefühl.

      T.: Und jetzt hältst du dir beide Hände vors Gesicht …

      P.: Hör auf! Das ist ja unerträglich!

      T.: Was fühlst du jetzt?

      P.: Es ist mir so peinlich. Schau mich bitte nicht so an!

      T.: Bleib eine Weile bei dieser Peinlichkeit.

      P.: Mein ganzes Leben habe ich dieses Gefühl. Ich schäme mich für alles, was ich tue. Meinem Gefühl nach habe ich nicht einmal das Recht auf mein Leben.

      Eine Alternative zu diesem Prozeß der einfachen Reflektion des Verhaltens des Patienten besteht darin, sein Scheitern bei der Gegenwartsbezogenheit als Schlüssel zu seinen Problemen zu betrachten (oder vielmehr als lebendige Beispiele für sie), ebenso wie in der Psychoanalyse das Scheitern der freien Assoziation zum Gegenstand der Interpretation wird. Statt einer Interpretation haben wir es in der Gestalttherapie jedoch mit einer Aufdeckung zu tun: die Aufforderung an den Patienten, sich selbst der Erfahrung bewußt zu werden, die seiner Gegenwartsvermeidung zugrundeliegt, und sie auszudrücken. Denn eine der Voraussetzungen der Gestalttherapie ist, daß die Gegenwartsbezogenheit natürlich ist: tiefes, gegenwartsbezogenes Erleben ist das, was wir am meisten wollen, und daher sind Abweichungen von der Gegenwart eher den Vermeidungsstrategien oder zwangsläufigen Opfern zuzuordnen als zufälligen Alternativen. Selbst wenn diese Annahme nicht für die interpersonelle Kommunikation im allgemeinen gültig wäre, wird sie doch in der Gestalttherapie besonders durch die Aufforderung des Patienten verstärkt, in der Gegenwart zu bleiben. Innerhalb einer solchen Struktur können Ablenkungen entweder als Scheitern interpretiert werden, als Boykott der eigentlichen Absicht oder als ein Mißtrauen gegenüber dem gesamten Ansatz einschließlich des Psychotherapeuten.

      In der Praxis wird daher der Therapeut nicht nur dem Patienten zu einer dauerhaften Aufmerksamkeit für seine gegenwärtige Erfahrung verhelfen wollen, sondern er wird ihn ermuntern, sich seiner Erfahrung bewußt zu werden und sie zum Ausdruck zu bringen, besonders wenn ihm die Aufgabe nicht gelungen ist. Das führt letztendlich dazu, daß man innehält, um die Lücken des Gewahrseins zu füllen:

      P.: Mein Herz schlägt heftig. Meine Hände schwitzen. Ich habe Angst. Ich erinnere mich, als ich das letztemal mit dir arbeitete und …

      T.: Was willst du mir sagen, wenn du dich an vergangene Woche erinnerst? P.: Ich hatte Angst, mir eine Blöße zu geben, und dann fühlte ich mich wieder erleichtert, aber ich glaube, daß ich das Richtige nicht rausgebracht habe …

      T.: Warum willst du mir das jetzt erzählen?

      P.: Ich würde mich gern dieser Angst aussetzen und alles herausbringen, was ich bisher vermieden habe.

      T.: Gut. Das ist es also, was du jetzt möchtest. Bitte fahre fort mit deiner Erfahrung im jetzigen Augenblick.


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