Gestalt - Präsenz - Gewahrsein- Verantwortung:. Claudio Naranjo
in dem persischen Sprichwort:
Ergreife die Jetztzeit, denn niemals wirst du
mit dem verflossenen Wasser die Mühle antreiben.
oder einem weiteren, demnach
Derjenige, welcher die Zeit besitzt und dennoch nach besseren ZeitenAusschau hält, die Zeit verliert.
Alle diese Aussagen beziehen sich auf die Vorstellung der Unterschiedlichkeit eines Lebendigseins in der Gegenwart auf der einen und einer ereignislosen (und daher vergleichsweise unrealen) Vergangenheit und Zukunft auf der anderen Seite:
Nothing is there to come, and nothing past,
But an eternal now does always last.
ABRAHAM CAWLEY
Nichts wird da kommen, nichts ist vergangen,
doch ein ewiges Jetzt
wird immer dauern.
(ABRAHAM CAWLEY)
Vieles entgeht uns im Leben allein dadurch, daß wir Substanz durch Symbole ersetzen, Erfahrungen durch geistige Konstrukte, Wirklichkeit durch Reflektion über die Wirklichkeit im Spiegel des Intellekts. Das Aufgeben von Vergangenheit und Zukunft zugunsten einer andauernden Gegenwart ist ein Aspekt des gestalttherapeutischen Slogans: „Lose your mind, and come to your senses“.
D) GEGENWARTSBEZOGENHEIT ALS IDEAL
Der den rechten Augenblick ergreift
Das ist der rechte Mann.
JOHANN WOLFGANG VON GOETHE
Der Begriff des „Ideals“ bedarf einiger Erläuterung. Ideale haben häufig den Beigeschmack von Pflichterfüllung und/oder eines Gutseins an sich, die der Philosophie der Gestalttherapie fremd sind.
Wenn wir dem Ideal das „Sollte“ und „Müßte“ nehmen, bleibt von ihm nichts weiter übrig als eine Aussage über das erwünschte Mittel zu einem bestimmten Zweck, das heißt ein Hinweis, oder ein „angemessenes“ Verhalten. Damit meine ich den Ausdruck von Gutsein, und weniger einen Weg oder ein Verbot: ein Zeichen oder Symbol für eine optimale Lebensbedingung. In diesem Sinne spricht man beispielsweise von den „Idealen“ des Taoismus, obwohl es sich um eine Philosophie des Nicht-Strebens handelt. Trotz seiner Freiheit von Geboten beschreibt das Tao Te King ständig die Wesenszüge des Weisen: „Aus diesem Grund kümmert sich der Weise um den Bauch und nicht um die Augen“ oder: „Der Weise ist frei von Krankheit weil er die Krankheit als Krankheit erkennt“ oder: „Der Weise weiß, ohne hinauszugehen“ und „erfüllt, ohne zu handeln“. In demselben Sinne gilt die Gegenwartsbezogenheit als ein Ideal, wenn es in einem englischen Sprichwort heißt: „Jetzt ist die Parole des Weisen“.
Einige Hinweise für ein besseres Leben sind zwar Mittel zu einem bestimmten Zweck, unterscheiden sich aber qualitativ von einem solchen Zweck. Dies gilt jedoch nicht für die Gegenwartsbezogenheit. Für diese (wie für die Gestalttherapie im allgemeinen) gilt, daß das Mittel zum Zweck darin besteht, sofort und ohne zu zögern den erwünschten Zustand einzunehmen: das Mittel, um glücklich zu sein, ist, jetzt glücklich zu sein, der Weg zur Weisheit ist, die Beschränktheit in diesem Moment abzulegen – ebenso wie der Weg zum Schwimmen darin besteht, schwimmen zu lernen. Das Rezept zum Leben im Jetzt ist daher die Konsequenz der Tatsache, daß wir nur im Jetzt leben, und dies ist etwas, was jeder gesunde Mensch weiß, aber der Neurotiker nicht erkennt, während er in einer traumartigen Pseudoexistenz verwickelt ist.
Im Buddhismus ist das Jetzt nicht bloß eine spirituelle Übung, sondern die Lebensform des weisen Menschen. In einer Passage des Pali Kanon spricht Buddha erstmals die Anweisung aus:
Häng dein Herz nicht an vergangene Dinge
und hege keine Hoffnungen für die Zukunft:
Die Vergangenheit hast du längst verlassen,
die Zukunft liegt noch vor dir.
und dann das Ideal:
Doch wer klar und deutlich im Auge hat
die Gegenwart, die hier und jetzt ist,
ein solcher Weiser ist auf das eingestellt,
was niemals verlorengehen oder erschüttert werden kann.
Während die buddhistische Version des Jetzt-Gebotes den Illusionscharakter der Alternativen betont, legt die christliche Perspektive Wert auf Vertrauen und Hingabe, die zu einer Verwurzelung in der Gegenwart führen. Wenn Jesus sagt: „Sorgt euch also nicht um morgen, denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen“ und wenn er das Beispiel der Lilien auf dem Felde (Matthäus 6) anführt, dann meint er damit nicht: „Handelt nicht aufgrund der schlimmsten Erwartungen“, sondern er drückt es positiver aus: „Habt Vertrauen!“. Während die christliche Version in eine theistische Vorstellung vom Universum eingebettet ist und Vertrauen immer Vertrauen in den himmlischen Vater meint, kann man die Grundhaltung doch als dieselbe wie das Ideal in der Gestalttherapie betrachten, das man als Vertrauen in die eigene Fähigkeit beschreiben könnte, mit dem Jetzt umzugehen, wie es kommt. Darin sehen wir, daß die Idee der Gegenwartsbezogenheit mit Erfahrung zu tun hat und weniger mit Manipulation, mit Offenheit und Akzeptanz des Erlebten, statt mit Festhalten und Verteidigen angesichts neuer Möglichkeiten. Solche Haltungen verdeutlichen zwei Grundvoraussetzungen der Weltanschauung der Gestalttherapie:
1. Nur so und nicht anders können die Dinge im Augenblick sein, und
2. Achtung! Die Welt ist sehr gut!
Wenn die Gegenwart nicht anders sein kann, als sie ist, wird der Weise nichts anderes tun, als sich auf sie einzulassen. Und wenn darüber hinaus die Welt auch noch gut ist, warum dann nicht, wie Seneca es ausdrückt, „freudig die Gaben der gegenwärtigen Stunde entgegennehmen und allen Groll vergessen“. Von irgend etwas zu sagen, es sei gut, ist natürlich eine Aussage, die der Gestalttherapie fremd ist, denn sie geht davon aus, daß etwas nur gut für uns sein kann. Das wiederum hängt davon ab, was wir aus unserem Leben machen. Die Existenz, wie wir sie gegenwärtig erleben, ist jedoch voller Leid, Hilflosigkeit und Unterdrückung. Wie Edmund Burke vor mehr als zweihundert Jahren feststellte, „Sich über die Zeit, in der wir leben, zu beklagen, die gegenwärtigen Inhaber der Macht schlechtzumachen, der Vergangenheit nachzuhängen und sich extravagante Hoffnungen auf die Zukunft zu machen, sind die häufigsten Übel eines Großteils der Menschheit.“
Aus der Sicht der Gestalttherapie sind solche Klagen und Beschwerden nichts weiter als ein schlechtes Spiel mit sich selbst – ein weiterer Aspekt der Ablehnung der möglichen Glückseligkeit des Jetzt. Im tiefsten Inneren sind wir, wo wir sein wollen, tun, was wir tun wollen, selbst wenn es letztlich auf eine scheinbare Tragödie hinausläuft. Wir können in unserer Sklaverei unsere Freiheit entdecken und unter dem Mantel des Zwanges unsere tiefste Freude.
Der gesamte Prozeß der Entfremdung von der Gegenwart als der Wirklichkeit, wie sie im ewigen Jetzt gegeben ist, kann als ein Mangel an Vertrauen gesehen werden, daß alles gut wird. Statt dessen stellt man sich etwas Katastrophales vor oder bestenfalls eine Leere, die wir zu füllen versuchen, indem wir uns ein Paradies aus Idealen und Zukunftserwartungen oder einer glorifizierten Vergangenheit vorstellen. Von solchen „Idolen“ aus schauen wir auf unsere gegenwärtige Lebenswirklichkeit herab, die niemals an unsere Konstrukte heranreicht und daher niemals vollkommen genug erscheint. So verbindet sich die Frage der Gegenwartsbezogenheit mit dem Annehmen des Erlebten im Gegensatz zu seiner Be- und Verurteilung. Wie Emerson schrieb:
Jene Rosen unter meinem Fenster haben nichts mit früheren, möglicherweise noch schöneren Rosen zu tun. Sie sind, was sie sind. Sie existieren mit Gott, heute. Sie haben nichts mit der Zeit zu tun. Es gibt nur „die Rose“. Sie ist vollkommen in jedem Augenblick ihrer Existenz… aber der Mensch weist sie ab und lebt in Erinnerungen… er kann solange nicht glücklich und stark sein, bis auch er mit der Natur in der Gegenwart, über der Zeit lebt.11
Auf der Suche nach der idealen Rose sehen