Gestalt - Präsenz - Gewahrsein- Verantwortung:. Claudio Naranjo

Gestalt - Präsenz - Gewahrsein- Verantwortung: - Claudio Naranjo


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und trennt damit den Blickpunkt des Selbst von dem des Egos. In anderen Worten: Sobald die Identifikation des Egos mit der Zukunft als etwas Gegenwärtiges gesehen werden kann, sieht man es von einem Standpunkt, der dem des Ego übergeordnet ist: dem Standpunkt des Selbst. Daraus folgt, daß sobald das Zentrum unseres Bewußtseins sich auf den streng gegenwärtigen und momentanen Ausblick des Selbst verschoben hat, Erinnerungen und Zukunftsgedanken die peripheren und objektiven Bewegungen des Geistes leiten und unser Sein nicht mehr von der egoistischen Funktion des Denkens dominiert und identifiziert wird. Wir haben alle Ruhe und Gelassenheit, das schärfste Gewahrsein und die ganze Freiheit von der Bindung an die Zeit. Wir leben vollständig in der Gegenwart, jedoch ohne die absurde Einschränkung, sich nicht an die Vergangenheit erinnern und nicht für die Zukunft planen zu können.10

       Die Übung des Gewahrseinskontinuums und Askese

      Trotz dieser Feststellungen kann es als psychologisches Faktum gelten, daß ein Mensch sich kaum dauerhaft auf die Gegenwart konzentrieren kann, während er sich an etwas erinnert, wenn er nicht vorher unter den erleichterten Bedingungen des Entzugs von Erinnerungen einen Geschmack davon bekommen hat. Dasselbe gilt, nebenbei gesagt, auch für den Kontakt zur Erfahrung während des Nachdenkens. Gewöhnlich vertreibt das Denken die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung als denkendes Selbst und zur Wahrnehmung der Gefühle, die die Basis der Denkmotive bilden, ebenso, wie die Sonne die Wahrnehmung der Sterne verhindert. Die Erfahrung des Denkens, ohne sich in den Gedanken zu verlieren, ist ein Zustand, der am leichtesten herbeigeführt werden kann, indem man in Momenten der Abwesenheit von Gedanken Kontakt zur Grundlage der Erfahrung bekommt. Darin gleichen die Techniken der Gestalttherapie des Entzugs von Erinnerungen, Zukunftsgedanken und anderen Gedankeninhalten der Askese im allgemeinen: Bestimmte Deprivationen werden auf sich genommen, um mit dem in Kontakt zu kommen, was gegenwärtig durch die psychischen Bewegungen infolge der entsprechenden Situationen verdeckt wird. Demzufolge begünstigt der Entzug von Schlaf, Sprechen, sozialer Kommunikation, Komfort, Essen oder Sex angeblich den Zugang zu außerordentlichen Bewußtseinszuständen, aber ist kein Selbstzweck – außer in seiner kulturell verwässerten Form.

      Die Übung der Aufmerksamkeit für den Strom des Lebens ähnelt der Askese im allgemeinen nicht nur deshalb, weil sie eine freiwillige Aufhebung der Ego-Befriedigung und einen Entzug beinhaltet, sondern auch dadurch, daß sie die Person mit der Schwierigkeit konfrontiert, auf eine Weise zu funktionieren, die den Gewohnheiten entgegenläuft. Da die Übung nichts anderes zuläßt, als die Inhalte des Gewahrseins auszudrücken, schließt sie die Funktionen des „Charakters“ – der Organisation der Bewältigungsmechanismen und sogar das Tun als solches aus. Darin erweist sich die Übung des Jetzt als Verlust des Ego, wie dies im Buddhismus hervorgehoben und von Watts in obenstehendem Zitat beschrieben wurde.

      C) GEGENWARTSBEZOGENHEIT ALS MITTEL DER WAHL

       Sind psychologische Techniken Rezepte zur Bewältigung des Alltags?

      Nicht alles, was als psychologische Übung einen Wert hat, muß auch notwendigerweise für das Leben taugen. Freie Assoziation kann eine nützliche Übung sein, aber nicht unbedingt ein gutes Verfahren für ein persönliches Gespräch, ebenso wie der Kopfstand im Hatha Yoga nicht die beste Körperhaltung für die meiste Zeit des Tages ist. Psychologische Techniken haben ein mehr oder weniger großes Potential, um in den Alltag transportiert zu werden und das ganze Leben zu einer Gelegenheit zu innerem Wachstum zu machen. Es ist jedoch nicht nur der individuelle Wert eines bestimmten Verfahrens, der für seine Alltagstauglichkeit entscheidend ist, sondern auch seine Verträglichkeit mit anderen erstrebenswerten Zielen im Leben, der Grad der Konfrontation, den es mit der existierenden sozialen Struktur bewirkt, und besonders seine Verträglichkeit mit der Vorstellung von einer guten Gesellschaft. So kann beispielsweise das Abreagieren von Feindseligkeit in einer psychotherapeutischen Situation wertvoll sein, aber trägt dieses Verfahren zur Optimierung der Gesundheit und des Wohlergehens in der Gesellschaft bei?

      Ich glaube, die Meinungen darüber würden erheblich auseinandergehen, selbst in der Frage: „Was ist wahr, und was ist unwahr?“ Obwohl Aggression eher als unsozial gilt und in den Zehn Geboten steht: „Du sollst nicht töten!“, wird die Wahrheit gemeinhin als Tugend angesehen und die Lüge als Sünde. Man könnte daher erwarten, daß die Technik des offenen Selbstausdrucks – wertvoll im Kontext der Psychotherapie – ohne weiteres auf das Leben übertragbar wäre. Angesichts der gewöhnlichen Verfassung der Menschheit jedoch war und ist die Wahrheit nicht nur oft unbequem, sondern gelegentlich sogar gefährlich. Die Beispiele von Sokrates, Jesus Christus oder den Häretikern zur Zeit der Inquisition zeigen, daß eine bedingungslose Verpflichtung zur Wahrheit möglicherweise das Annehmen des Märtyrertums bedeutet, für das – so bin ich sicher – die Mehrzahl der durchschnittlichen Menschen nicht gerüstet ist. Der Wunsch, Gefühle zuzulassen, kann in Fällen, in denen die Gesellschaft solche Vorhaben nicht gestattet, einer der impliziten oder expliziten Beweggründe sein, um spezielle Gemeinschaften zu bilden für jene, die das gemeinsame Ziel eines Lebens der inneren Suche teilen. In solchen Gruppen, die manchmal im Geheimen wirken, suchen Menschen ein Leben gemäß Prinzipien, die nicht verträglich sind mit anderen, die nicht monastisch, therapeutisch oder auf andere Weise außergewöhnlich sind.

       Humanistischer Hedonismus

      Das Leben im Augenblick scheint im Gegensatz zu anderen Praktiken ein vollkommen angemessenes Rezept für das Leben zu sein. Darüber hinaus erscheint es eher wie die Systematisierung einer Lebensformel als wie die Verschreibung einer Technik. Die Idee einer Rezeptur mag Bilder suggerieren wie das eines übelriechenden Tonikums, das Kindern „zu ihrem Besten“ eingeflößt wurde, bevor die Zeit von Gelatinekapseln und der Geschmacksstoffchemie angebrochen war. Dies ist Teil eines dualistischen Weltbildes, in dem „die guten Sachen“ etwas anderes zu sein scheinen als das, was „uns guttut“, und das Ziel der Selbstvervollkommnung etwas anderes als „bloß zu leben“.

      Dies ist jedoch nicht das, was die klassischen Anwendungen der Konzentration auf die Gegenwart vermitteln. Nehmen wir beispielsweise König Salomos: „Iß freudig dein Brot, und trink vergnügt deinen Wein“ (Prediger 9,7) oder die spätere Version desselben Gedankens im Zweiten Paulusbrief an die Korinther: „Laßt uns essen und trinken, denn morgen werden wir sterben“.

      Der Charakter dieser Äußerungen ist ebenso hedonistisch wie die meisten Aussagen, die sich mit dem Wert des Gegenwärtigen beschäftigen. Und wie sollte es auch anders sein, denn wenn der Wert der Gegenwart nicht in etwas Zukünftigem liegt, dann muß er intrinsisch sein: Die Gegenwart muß ihre eigenen Belohnungen enthalten.

      Heutzutage scheint der hedonistische Blickwinkel sich von der Religiosität getrennt zu haben und ihr sogar zuwiderzulaufen – ebenso wie er auch allgemein im Leben nicht unbedingt empfehlenswert zu sein scheint. Da „Körper“ und „Geist“ als unvereinbare Werte betrachtet werden, gelten Idealismus und Spiritualität als entsagungsvoll und todernst, während die Vertreter der Lebenslust häufig zynische Pragmatiker und hartnäckige und unverbesserliche „Realisten“ sind. Das war anscheinend jedoch nicht immer so, und wir wissen, daß es Zeiten gab, in denen religiöse Feste regelrechte Freudenfeste waren. Wenn wir in der Bibel lesen: „Laßt uns essen und trinken, denn morgen werden wir sterben“, dann sollten wir diesem Satz nicht unsere gegenwärtige Trennung von Körper und Geist überstülpen und auch nicht jene amüsiersüchtige Haltung, für die solche Aussagen immer wieder herhalten müssen. Ursprünglich stand dahinter eine Lebenshaltung, gemäß der ein erfülltes Leben in der Gegenwart eine heilige Handlung war, ein Weg in Übereinstimmung mit dem göttlichen Willen.

      Nur selten finden wir diese Balance von Transzendenz und Immanenz im westlichen Denken, mit der Ausnahme jener bemerkenswerten Individuen, die jedoch zu ihrer Zeit eine eher beiläufige Rolle gespielt haben –Häretiker für die religiösen und Narren für die gewöhnlichen Menschen. William Blake zum Beispiel war ein solcher Mensch, wenn er postulierte: „Die Ewigkeit ist voller Liebe für die Werke der Zeit“.

      Sogar in der Psychoanalyse, die in der Praxis viel für das „Es“ der Menschheit getan hat, wird auf das „Lustprinzip“ als etwas Kindisches und Lästiges herabgeschaut, das ein „reifes“ wirklichkeitsorientiertes Ego unter Kontrolle halten muß.

      Im Gegensatz dazu sieht die


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