Gestalt - Präsenz - Gewahrsein- Verantwortung:. Claudio Naranjo

Gestalt - Präsenz - Gewahrsein- Verantwortung: - Claudio Naranjo


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im Sinne der guten alten Hedonismen der vorchristlichen Zeit geradezu hedonistisch nennen. Ich möchte hier den Begriff eines „hedonistischen Humanismus“ einführen, der nicht notwendigerweise eine theistische Haltung beinhaltet und dennoch diese Einstellung von dem hedonistischen Egoismus eines Hobbes, dem utilitaristischen Hedonismus eines J.S. Mill und von dem der gewöhnlichen Lustsucher unterscheidet. (Wer sich an dieser Stelle fragt, wie die Gestalttherapie gleichzeitig asketisch und hedonistisch genannt werden kann, dem sei gesagt, daß Epikurs Vorstellung von einem höchst angenehmen Leben im wesentlichen zwei Voraussetzungen hatte: die Möglichkeit zur philosophischen Reflektion und eine einfache Ernährung aus Brot, Milch und Käse.)

       Carpe diem

      Die hedonistische Denk- und Lebensweise ist untrennbar mit einem tiefgehenden Einlassen auf die Gegenwart verbunden, und das nicht nur in der Gestalttherapie, sondern auch im Denken vieler Menschen (hauptsächlich Dichter und Mystiker), die ein ähnliches Rezept für ein gutes Leben ausgaben. Am deutlichsten hat dies möglicherweise Horaz vertreten, dessen Devise carpe diem (Ergreife den Tag!) zum Inbegriff eines Motivs geworden ist, das sich durch die gesamte Literaturgeschichte zieht. Hier ist die Äußerung in ihrem ursprünglichen Kontext:

      Dum loquimur fugerit invida aetas:carpe diem, quam minimum credula postero.

      Da wir bloß reden,

      wird entflohen sein die Zeit des Neides:

      so pflücke den Tag,

      vermeide leichtgläubiges Hoffen auf morgen.

      (HORAZ)

      Horaz’ Gegenwartsbezogenheit geht mit seiner Wahrnehmung der fliehenden „Zeit des Neides“ einher: der unwiederbringliche Verlust des Lebens, der die Alternative zu einem Leben in der Gegenwart ist. In der biblischen Anweisung, zu essen, zu trinken und es sich gutgehen zu lassen, ist ebenfalls der Tod das Argument und zugleich der Lehrer. Dasselbe gilt für zahlreiche andere Spruchweisheiten, wie die in Ovids „Die Kunst der Liebe“:

       Carpite floremQui nisi carptus erit turpiter ipse cadet

      Pflücke die Blume,

      denn pflückst du sie nicht, wird sie welken und vergehen.

       Gather therefore the rose whilestyet is prime,

       For soon comes the age what will her pride deflowre;

       Gather the rose of love whilest yet is time,

      Whilest loving thou mayst love be with equal crime.

      SPENSER: THE FAERIE QUEENE

      Pflücke die Rose dann, wenn sie blüht,

      schon bald kommt die Zeit, da wird sie ihrer Pracht beraubt;

      pflücke die Rose der Liebe in deiner Zeit,

      wenn du liebst, dann ergehe dich in Liebe genauso weit.

      (SPENSER: THE FAERIE QUEENE)

       Make use of time, let not advantage slip;

       Beauty within itself should not be wasted;

       Fair flowers that are not gathered in their prime,

      Rot and consume themselves in little time.

      SHAKESPEARE: VENUS UND ADONIS

      Nutze die Zeit, laß den Vorteil nicht enteilen;

      Schönheit in Schönheit soll nicht unnütz verweilen;

      Anmut der Blumen, die nicht in ihrer Blüte gebunden,

      Welkt im Nu und ist verschwunden.

      (SHAKESPEARE: VENUS UND ADONIS)

       If you let slip time, like a neglected rose

      it withers on the stalk with languished head.

      MILTON: COMUS

      Laß die Zeit nicht entgleiten, sonst

      welkt sie am Stock dahin,

      wie eine vergeßne Rose

      mit hängendem Kopf.

      (MILTON: COMUS)

      Die Konzentration der Gestalttherapie auf die Gegenwart ist untrennbar von ihrer Wertschätzung für Bewußtheit an sich, die ihren Ausdruck im Aufgeben der Vermeidungsstrategien findet, an denen unser Leben krankt. Der Gegenwart nicht aus dem Weg zu gehen, heißt, es nicht zu vermeiden, in ihr zu leben – wie wir es alle zu häufig tun, in dem Versuch, den Folgen unseres Handelns aus dem Wege zu gehen. Insofern, als die Konfrontation mit der Gegenwart eine Hingabe an das Leben ist, bedeutet sie auch Freiheit: die Freiheit, wir selbst zu sein, gemäß den Vorlieben unseres Seins zu wählen: unseren Weg zu wählen. Die Begegnung mit der Gestalttherapie kann die Erfahrung ermöglichen, daß die Gegenwart, wenn man sich ohne auszuweichen und im Geist der Lebensfreude auf sie einläßt, zu dem wird, was John Dryden in ihr sah:

       This hour’s the very crisis of your fate,

       Yourgood and ill, your infamy of fame,

       And the whole colour of your life depends

      On this important now.

      THE SPANISH FRIAR

      Die Stunde jetzt ist deines Schicksals Gipfel,

      dein Gut und Schlecht, deine Schande, dein Ruhm,

      die Farbe deines ganzen Lebens

      hängt an diesem

      bedeutsamen

      Jetzt.

      (THE SPANISH FRIAR)

      Es dreht sich um das Jetzt, aber wir erkennen es nicht in unserem halbherzigen Lebensstil. Statt dessen funktionieren wir das Leben zu einem tödlichen Ersatz seiner selbst um. Wir „schlagen die Zeit tot“ oder ziehen uns jenen „Verlust der Zeit“ zu, der laut Dante „weise Menschen höchst verärgert“. Ebenso deutlich erscheint dieser Aspekt des Lebens in der Gestalttherapie in dem Begriff der Verschlossenheit. Ebenso wie sich in der Gestaltpsychologie Verschlossenheit auf die Wahrnehmung bezieht, so bezieht sie sich in der Gestalttherapie auf das Handeln:

      Wir wollen ständig das Unfertige, die unvollendete Gestalt, vollenden und vermeiden dennoch gleichzeitig, es wirklich zu tun. Durch unser Unvermögen, in der Gegenwart zu handeln, erhöhen wir das Maß des Unvollendeten und steigern unsere Verpflichtungen gegenüber der Last unserer Vergangenheit. Horaz drückte es in einer seiner Episteln folgendermaßen aus:

      „Derjenige, welcher die Stunde des Lebens vor sich herschiebt, ist wie der Bauer, der darauf wartet, daß der Fluß wegfließen möge, bevor er ihn überquert; doch er fließt weiter und wird ewig weiterfließen.“

      Möglicherweise würden wir uns dem Leben in der Gegenwart nicht verschließen, wenn wir nicht ständig von zukünftigen Handlungen oder Befriedigungen träumen würden. In diesem Zusammenhang stellt die Gestalttherapie ihren Realismus unter Beweis, indem sie sich an dem Greifbaren, Existierenden orientiert, statt an dem Begrifflichen, Symbolischen, nur in der Einbildung Existierenden. Nicht nur die Zukunft, sondern auch die Vergangenheit kann in der Gegenwart nur als Gedankenform, Erinnerung oder Phantasie existieren. Die Gestalttherapie zielt auf die Unterordnung dieser Formen unter das Leben ab. Diese Haltung findet ihren Ausdruck in einem Gedicht von Longfellow:

       Trust no future, howe’er pleasant,

       Let the dead Past bury its dead!

       Act, act in the living Present!

      Heart within and God o’erhead.

      Trau nicht der Zukunft, wie angenehm auch immer,

      laß die tote Vergangenheit ihre Toten begraben!

      Handle, handle im lebendigen Jetzt!

      Herz


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