Gestalt - Präsenz - Gewahrsein- Verantwortung:. Claudio Naranjo

Gestalt - Präsenz - Gewahrsein- Verantwortung: - Claudio Naranjo


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„Bring mir deine Sünden, und ich werde dich von ihnen reinigen.“ Sengtsan dachte eine Weile nach und sagte dann: „Ich kann sie nicht fassen.“ Huike antwortete: „Dann habe ich dich schon von ihnen gereinigt.“

       Mehr als Haltung: direkte Erfahrung

      Die Grundhaltung, sich auf das Gegenwärtige und die eigene Präsenz einzulassen sowie Gewahrsein und Verantwortung zu zeigen, entwickeln sich – so, wie das weiße Licht zu den Farben des Regenbogens gebeugt wird – zu den spezifischeren Haltungen oder Idealen, die das Verhalten des Gestalttherapeuten in der Praxis inspirieren. Jede dieser spezifischen Haltungen oder impliziten Gebote leitet sich aus der dreifachen Grundhaltung ab, deren drei Aspekte verschiedene Ausdrucksformen eines einzigen Gesetzes sind. Doch wäre es nicht zutreffend, ihre Ableitung in rein logischen Kategorien zu sehen, wenngleich ihre Verwandtschaft in logischen Begriffen aufgezeigt werden kann.

      Wenn ich von „Grundhaltung“ spreche, habe ich in der Tat zuwenig Betonung auf die Erfahrungsgrundlage des Verhaltens oder der Prämissen gelegt, die weiter oben beschrieben wurden. Der Begriff „Haltung“ ist insofern angebracht, als er eine allgemeine Reaktion beschreibt. Er deutet auf eine bestimmte Lebensphilosophie und auf Verhaltensaspekte hin. Es sollte jedoch klargestellt werden, daß das Erlernen der Einstellungen, die ich als den zentralen Prozeß in der Gestalttherapie darstelle, nicht.als eine Veränderung des individuellen Glaubenssystems oder als eine Imitation eines bestimmten Verhaltens gesehen werden darf. Der Inhalt der Vermittlung, die in der Psychotherapie stattfindet, besteht nicht aus Ideen oder Verhaltensstilen, sondern in einer Erfahrung, aus der sowohl Ideen als auch Verhalten resultieren können – keine Beschreibung, sondern die Erfahrung von Präsenz, Gewahrsein, Verantwortung, in der Gewißheit, grundsätzlich gut zu sein, und mit einem Blick für die Möglichkeiten anderer. Jemand, der ist, kann nicht nur auf seinen eigenen Beinen stehen, sondern er kann auch das Wesentliche sehen, wonach andere streben und dabei ihre Energie verschwenden, weil sie ihre Suche falsch angehen. Er muß dazu nicht eine bestimmte Einstellung übernehmen. Er erfährt sich selbst als der Existenz würdig und erlebt so auch seine Mitmenschen. Ebenso wie der Therapeut für sich selbst da ist, so ist er auch für den Patienten da, nicht etwa gegen ihn, sondern lediglich desinteressiert an den Spielchen, die das Wesentliche verdecken.

      Es ist offensichtlich, wenn man sagt, daß der Lernprozeß, der in der Gestalttherapie stattfindet, auf Erfahrung basiert, statt auf intellektueller Erkenntnis, und über bloße Verhaltensrichtlinien hinausgeht. Wenn dies der Fall ist, dann kann man zu Recht sagen, daß der therapeutische Prozeß aus der Vermittlung einer Erfahrung besteht. Über die Psychotherapie als Technik ist viel geschrieben worden – jedenfalls vom Standpunkt der Einwirkungen oder Interpretationen des Therapeuten auf den Patienten. In derartigen Beiträgen werden die Erfahrungen des Patienten immer als durch bewußte Entscheidungen des Therapeuten hervorgerufen beschrieben. Was jedoch dabei ausgelassen wird, ist die Vorstellung, daß Erfahrungen weitergegeben werden können und daß, da aus Lebendigem wiederum Lebendiges hervorgeht, eine bestimmte Tiefe der Erfahrung möglicherweise nur durch die Präsenz eines anderen herbeigeführt werden kann, der an dieser Tiefe teilhat, und nicht durch Manipulationen. Wenn die Grundhaltung mehr ist als eine Technik, und wenn Techniken aus Haltungen hervorgehen, dann ist die Erfahrung eine Voraussetzung für eine bestimmte Haltung, ihre Quelle. Ohne die angemessene innere Haltung werden Techniken zu Leerformeln. Ohne Erfahrung wird selbst eine Haltung zum Dogma aus zweiter Hand. Ebenso wie ein toter Organismus sich nicht selbst reproduzieren kann, kann die leblose Form einer Pseudo-Haltung keine entsprechende Haltung in einem anderen erzeugen. Erfahrung jedoch vervielfältigt sich von selbst. Sie erzeugt die äußere Gestalt, die ihr pulsierendes Herz überträgt.

      Ich glaube, daß dies für jede erfolgreiche Psychotherapie zutrifft, besonders jedoch für die Gestalttherapie, in der ein Therapeut sich einer größeren Herausforderung gegenübergestellt sieht als in anderen, sowohl ein bloßer Mensch als auch Künstler zu sein. In demselben Sinne, in dem Beethoven von seiner Musik sagte, daß sie „von Herz zu Herz“ ginge, sehe ich die Handlungen des Gestalttherapeuten als nur insoweit bedeutsam an, als sie, mehr als Techniken, Ausdruck einer Perspektive sind, Verkörperungen eines lebendigen Verständnisses, die Verständnis in einer anderen Person hervorrufen können. Soweit sie in diesem lebendigen oder erfahrungsgebundenen Verständnis verwurzelt sind, werden sie das Vertrauen oder die Zuversicht hervorrufen können, die erforderlich sind, um die Psychotherapie zu einer Kommunikation zu machen, die in die Tiefe geht, statt wie ein Wortspiel an der Oberfläche zu verharren.

      7 Complex, #9, 1955 (pp. 42–52) ©1955 by the 5 x 9 Press. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des The Gestalt Journal

      KAPITEL 2

      Die Gegenwart im Mittelpunkt

      Für mich existiert nichts weiter als das Jetzt.Jetzt = Erfahrung = Gewahrsein = Wirklichkeit.Die Vergangenheit ist nicht mehr und die Zukunft noch nicht.Nur das Jetzt existiert.

      FRITZ PERLS

      A) ALLE THEMEN IM SPIEGEL DER GEGENWART

      Im vorangegangenen Kapitel habe ich folgendes postuliert:

      1. daß die Techniken der Gestalttherapie in bestimmten Haltungen verwurzelt sind;

      2. daß diese Haltungen Verkörperungen einer inneren Grundhaltung sind, die sich unter dem dreifachen Aspekt – Gewahrsein, Verantwortung und Präsenz – zusammenfassen läßt;

      3. daß diese Grundhaltung keine Ideologie ist, sondern selbst auf Erfahrung beruht: die Evidenz des Gegenwärtigen (Verständnis für die Tatsache, daß wir im Hier und Jetzt leben und eins mit unserem konkreten Tun sind); die Evidenz der Verantwortung (der Tatsache, daß wir tun, was wir tun und nichts anderes sind, als das, was wir sind) und die Evidenz des Gewahrseins (daß wir auf einer bestimmten Ebene wissen, was wir tun und erfahren, ganz gleich, wie sehr wir uns selbst belügen und so tun, als wüßten wir es nicht).

      Auf den folgenden Seiten werde ich einen Aspekt der dreifachen Haltung der Gestalttherapie im Detail darstellen, als Beispiel für eine Form der Erläuterung, die mit jeder der drei Haltungen durchgeführt werden kann. Vor allem werde ich den Aspekt der Gegenwärtigkeit oder Präsenz erläutern, der gleichzeitig ein Aspekt der Philosophie der Gestalttherapie ist. Wie ich aufzeigen werde, spiegeln sich alle Themen in diesem Aspekt, ebenso wie in allen anderen, denn die Fragen der Präsenz, des Gewahrseins und der Verantwortung sind nur an der Oberfläche verschieden. Wenn wir genauer hinsehen, können wir beispielsweise entdecken, daß die Frage der Präsenz nicht allein mit der Würdigung von zeitlicher und örtlicher Gegenwart zu tun hat, sondern mit der Würdigung der konkreten Realität, des Spürens und Fühlens, statt des Denkens und Vorstellens, mit Gewahrsein und Selbstbestimmung. Weiterhin hoffe ich, daß die folgenden Seiten zeigen werden, daß der Wille, in der Gegenwart zu leben, untrennbar mit der Frage der Offenheit für Erfahrungen verknüpft ist, mit dem Vertrauen in die Abläufe der Realität, mit dem Unterscheidungsvermögen zwischen Realität und Phantasie, Aufgeben der Kontrolle und Inkaufnehmen einer möglichen Enttäuschung, eine hedonistische Weltsicht, Bewußtheit des möglichen Todes und so weiter. Alle diese Themen sind Facetten einer Gesamterfahrung des In-der-Welt-Seins, und die Betrachtung einer solchen Erfahrung aus der Perspektive der Gegenwartsbezogenheit ist eine Möglichkeit unter vielen.

      B) GEGENWARTSBEZOGENHEIT ALS TECHNIK

      Obwohl die Formel hic et nunc in der scholastischen Literatur ein wiederkehrendes Thema ist, hat sich die Beziehung der modernen Psychologie zum Hier und Jetzt nur allmählich entwickelt.

      Die Psychoanalyse begann mit einer vergangenheitsorientierten Verfahrensweise. Freuds Entdeckung der freien Assoziation hatte ihren Ursprung in seinen Erfahrungen mit der Hypnose, und seine ersten Erkundungen der Technik waren eher ein Versuch, ohne Trancezustand auszukommen und dennoch dieselben Schlüssel zum Verständnis der Vergangenheit seines Patienten zu finden. Er stellte gewöhnlich dem Patienten eine Frage und bat ihn, den ersten Gedanken wiederzugeben, der ihm in dem Moment kam, während er seine Stirn berührte. Mit zunehmender Erfahrung fand er heraus, daß er die Berührung der Stirn auch weglassen konnte, ebenso wie die Frage, und statt dessen jede Äußerung als eine Assoziation zur vorangegangenen in dem spontanen Fluß der Gedanken, Erinnerungen und Phantasien


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