Gestalt - Präsenz - Gewahrsein- Verantwortung:. Claudio Naranjo

Gestalt - Präsenz - Gewahrsein- Verantwortung: - Claudio Naranjo


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      Fritz Perls drückte dies folgendermaßen aus:

      Gut und Böse sind Reaktionen des Organismus. Wir sagen: „Du machst mich wahnsinnig“, „Du machst mich glücklich“ und weniger oft: „Du machst mir gute Gefühle“ oder: „Du machst mir schlechte Gefühle“. Bei den Naturvölkern sind solche Aussagen äußerst häufig. Immer wieder sagen wir: „Ich fühle mich gut“ oder „Ich fühle mich miserabel“, ohne uns zu überlegen, woher das Gefühl kommt. Tatsache ist, daß ein eifriger Schüler dem Lehrer ein gutes Gefühl gibt, ebenso wie das folgsame Kind den Eltern. Der siegreiche Boxer schenkt seinem Fan ein gutes Gefühl, ebenso wie der zärtliche Liebhaber seiner Geliebten. Ein Buch oder ein Bild tut dasselbe, wenn es unseren ästhetischen Bedürfnissen entspricht. Umgekehrt: Wenn Menschen oder Gegenstände unseren Bedürfnissen nicht entsprechen und uns nicht befriedigen, fühlen wir uns ihretwegen schlecht.

      Der nächste Schritt besteht darin, daß wir unsere Erfahrungen, statt sie uns anzueignen, nach außen projizieren und die Verantwortung für unsere Reaktionen auf den Reiz abschieben. (Das liegt möglicherweise daran, daß wir Angst vor unserer eigenen Erregung haben, fürchten, wir könnten vor Aufregung versagen, und uns vor unserer Verantwortung drücken wollen und so weiter.) Wir sagen, der Schüler, das Kind, der Boxer, der Liebhaber, das Buch, das Bild „sind“ gut oder schlecht. In dem Augenblick, in dem wir den Reiz als „gut“ oder „böse“ einordnen, schließen wir das „Gut“ und das „Böse“ aus unserer eigenen Erfahrung aus. Sie werden zu Abstraktionen, und der Gegenstand des Reizes wird folglich erst einmal beiseitegelegt. Dies bleibt jedoch nicht ohne Folgen. Wenn wir erst einmal unser Denken vom Fühlen, unser Urteil von unserer Intuition, unsere Moral von unserem Selbstgefühl, unser beabsichtigtes von unserem spontanen Handeln, das Verbale vom Nonverbalen getrennt haben, verlieren wir unser Selbst, die Essenz des Seins, und werden entweder zu frigiden menschlichen Robotern oder zu verwirrten Neurotikern.7

      Trotz solcher Sichtweisen von Gut und Böse steckt die Gestalttherapie voller Empfehlungen bezüglich erwünschter Einstellungen dem Leben und der Erfahrung gegenüber. Dies sind moralische Vorschriften, denn sie beziehen sich auf eine gute Lebensführung. Obwohl der Begriff der Moral im gewöhnlichen Sprachgebrauch auf das Bemühen hinweist, gemäß der dem Menschen intrinsischen Maßstäbe zu leben, ist es möglich, daß alle großen moralischen Themen einst einer humanistischen Ethik entstammten, in der Gut und Böse nicht aus den menschlichen Lebensumständen herausgelöst waren. Daher wies der Begriff der Rechtschaffenheit im Judentum, jener eminent gesetzestreuen Religion, auf Lebensumstände hin, die sich im Einklang mit dem Willen und Gesetz Gottes befanden. Im nontheistischen China würde dies dem „Tao“ entsprechen, dem Befolgen des rechten Weges. Es scheint, daß das, was in einer lebendigen Vision des Lebens als richtig, gerecht, angemessen oder gut gesehen wird, sich gegen den Menschen richtet, nachdem es in Gesetzen ausgedrückt wird und ihn versklavt, indem es eine Autorität beansprucht, die größer ist als er selbst. Wenn wir die impliziten moralischen Ansprüche der Gestalttherapie auflisten, können wir eine lange oder eine kurze Liste anfertigen, je nachdem, wie allgemein oder speziell man in seiner Analyse ist. Ohne den Anspruch, systematisch oder vollständig zu sein, hier ein grober Überblick über den Lebensstil der Gestalttherapie:

      1. Lebe jetzt: Befasse dich mit der Gegenwart, statt mit der Vergangenheit oder der Zukunft.

      2. Lebe hier: Setze dich mit dem Gegenwärtigen, statt mit dem Abwesenden auseinander.

      3. Hör auf, deiner Einbildung zu folgen: Erfahre das Wirkliche.

      4. Stoppe unnötige Gedanken, öffne statt dessen deine Sinne, deinen Geschmack und deine Augen.

      5. Drück dich aus, statt zu manipulieren, zu erklären, zu rechtfertigen und zu beurteilen.

      6. Laß dich auf Unangenehmes und Schmerzen ebenso ein wie auf Angenehmes. Begrenze nicht dein Gewahrsein.

      7. Akzeptiere kein „Sollte“ oder „Müßte“, wenn es nicht von dir selbst kommt. Verehre keine Götzen.

      8. Übernimm die volle Verantwortung für dein Tun, dein Fühlen und dein Denken.

      9. Gib dich so, wie du bist, dem Sein hin.

      Das Paradox, daß solche Handlungsvorgaben Teil einer Moralphilosophie sein können, die sämtliche Handlungsvorgaben aufzugeben empfiehlt, kann gelöst werden, wenn wir sie als Aussagen über den Status quo, statt als Pflichten sehen. Verantwortung zum Beispiel ist kein Muß, sondern eine unvermeidliche Tatsache. Wir sind für alles, was wir tun verantwortlich. Die einzige Alternative ist, unsere Verantwortung anzunehmen oder nicht. Alles, was die Gestalttherapie dazu sagt, ist, daß man, indem man die Wahrheit akzeptiert – was eher auf ein Nicht-Verändern als auf ein Tun hinausläuft –, das Richtige tut: Gewahrsein heilt. Natürlich heilt es uns von nichts anderem als von unseren Lügen.

      Ich glaube, daß all diese spezifischen Anweisungen der Gestalttherapie unter die drei allgemeineren Prinzipien untergeordnet werden können, die bereits oben vorgestellt wurden:

      1. Sinn für das Gegenwärtige (zeitlich gegenwärtig, statt vergangen oder zukünftig), räumlich (anwesend, statt abwesend) und substantiell (Handlung, statt Symbol)

      2. Sinn für das Gewahrsein und die Akzeptanz der Erfahrung

      3. Sinn für das Ganze oder Verantwortung

      Diese drei Punkte lediglich als technische Gesichtspunkte oder therapeutische Mittel zu sehen, hieße, ihre Rolle zu unterschätzen. Stellen Sie sich beispielsweise eine Interaktion wie die folgende vor, die für eine Gestalttherapiesitzung nicht außergewöhnlich ist:

       Über das Gegenwärtige

      P.: Ich war gestern sehr deprimiert …

      T.: Wie es ausschaut, fängst du an, mir eine Geschichte zu erzählen.

      P.: Stimmt … Es ist wahr, daß ich jetzt nicht deprimiert bin, aber ich dachte, es könnte gut sein, zu verstehen, was passiert ist; sonst mache ich mir Sorgen, daß es das nächstemal …

      T.: Siehst du, wie du dir Sorgen machst?

      P.: Nun, wenn ich nicht über meine Zukunft nachdenken soll, was tue ich dann hier?

      T.: Laß uns das mal herausfinden.

      Oder stellen Sie sich folgenden Dialog über die Verantwortung vor:

      P.: Ich bin ganz ängstlich, weil ich fühle, daß Sie erwarten, daß ich irgend etwas erzähle …

      T.: So? Tue ich das?

      P.: Nun, ich stelle mir das vor … oder vielmehr, ich würde Ihnen gerne gefallen oder einen guten Eindruck machen … obwohl ich das eigentlich nicht sollte.

      T.: Wer sagt das?

      P.: Ich möchte mich eigentlich gern ganz anders fühlen. Es führt dann dazu, daß ich mich ganz schwach fühle.

      T.: Was führt dazu?

      P.: Ich selbst mache mich schwach. Ich schrumpfe und werde ganz klein. Es ist, als würde ich den Strom ausschalten.

      T.: So machen Sie sich also selbst ängstlich …

      P.: Ja, das mache ich. Ich habe die Wahl …

      Ich habe das Gefühl, dies sind die Fälle, in denen die Interaktion des Therapeuten als praktische Demonstration für den Wert oder das Verdienst einer Lebensphilosophie gelten kann. Sehr häufig wird es nur einen speziellen Aspekt im Leben betreffen, aber die Konsistenz der Perspektive wird eine allmähliche Weiterentwicklung der persönlichen Überzeugungen bewirken. Ein Patient kann beispielsweise experimentell herausfinden, daß die Gefühle, die er vermieden hat, sich verwandeln, wenn er sich mit ihnen auseinandersetzt, daß sie sich verändern, wenn er sie akzeptiert, während sein gewöhnliches Abwehrverhalten sie nur noch verstärkte. Oder er entdeckt in dem Prozeß absichtlichen „Vergessens“ vergangener und zukünftiger Sorgen zu seinem großen Erstaunen, daß er nicht immerzu an ihnen festhalten muß, sondern tatsächlich mit dieser neuen Einstellung nicht etwa schlechter, sondern besser zurechtkommt. Diese Art von Interaktion hat eine Parallele im Zen:

      Sengtsan


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