Das Erbe von Tench'alin. Klaus D. Biedermann
in diesem Moment auch nichts dagegen gehabt, wäre der Fall eingetreten.
Gegen das, was sich gerade in seinem Inneren ankündigte, war er machtlos. Er hasste es, vor Frauen zu weinen, auch wenn die eine seine Mutter und die anderen beiden wirkliche Freundinnen waren, die ihn von Kindesbeinen an kannten. Es war sehr selten geschehen, dass er weinte, zumindest soweit er sich erinnern konnte. Die Zeit, in der er in Windeln gelegen hatte, zählte nicht. Einmal war er als kleiner Junge – er mochte fünf gewesen sein – um ein Haar in einen der Siedekessel im väterlichen Betrieb gefallen, in denen die Larven der Seidenraupen in ihren Kokons abgetötet wurden. So gewann man die kostbaren Fäden, die die Grundlage für das blühende Geschäft der Valerens bildeten.
Er war beim Ballspielen ausgerutscht, obwohl ihm mehr als einmal streng verboten worden war, sich in der Nähe der riesigen, fast ganz in die Erde eingelassenen Kessel aufzuhalten, unter denen die mächtigen Feuer loderten. In buchstäblich letzter Sekunde war er von einer resoluten Arbeiterin am Kragen gepackt und damit vor dem sicheren Tod bewahrt worden. Damals hatte er geheult, weil er sich so erschrocken hatte. Ihm hatte es das Leben gerettet und der Arbeiterin hatte ihr beherztes Eingreifen eine lebenslange Rente beschert.
Deutlich, und zwar sehr deutlich, erinnerte er sich an ein Ereignis, das ihm als Zehnjähriger auf dem Schulhof widerfahren war. Ein zwei Jahre älterer Mitschüler, fast zwei Köpfe größer und als Raufbold bekannt, hatte ihm, begleitet von einer obszönen Geste, mehrere Male »Seidenraupe, Seidenraupe, Seidenraupe« nachgerufen. Und das nicht zum ersten Mal. An diesem Tag aber hatte eine innere Stimme, die Scotty schon kannte, laut und unmissverständlich gefordert, dass es jetzt mit den Demütigungen ein Ende haben müsse. Er solle sich gefälligst wehren und hier und jetzt ein Exempel für alle Zeiten statuieren. Er hatte hinterher nicht mehr sagen können, woher er den Mut genommen hatte, der Stimme zu folgen, und im Nachhinein hatte er sie auch noch lange Zeit verflucht.
Jedenfalls war er mit ein paar schnellen Schritten auf den feixenden Quälgeist zugetreten gewesen, der mit in die Seite gestemmten Armen breitbeinig und siegessicher grinsend dagestanden hatte, und hatte ihm eine schallende Ohrfeige verpasst. Sein ganzes Gewicht hatte er in diesen Schlag gelegt. Der Ältere mochte zwar nicht damit gerechnet gehabt haben, doch zu Scottys Leidweisen war dessen Reaktionszeit nur sehr kurz gewesen und so hatte er sich mit einem Elefantengewicht auf seiner Brust auf dem Boden liegend wiedergefunden.
Und dieser Elefant hatte auch noch mit beiden Fäusten auf ihn eingeschlagen. Hätte Vincent damals nicht beherzt eingegriffen, indem er den anderen am Kragen gepackt und zurückgezogen hatte, wäre alles sicher viel schlimmer ausgegangen als ohnehin schon. Peinlich für Scotty aber war gewesen, dass er Tränen vergossen hatte, nachdem er sich hochgerappelt hatte – was natürlich alle Umstehenden mitbekommen hatten. Dass auch Mädchen darunter waren, hatte die Sache nur noch schlimmer gemacht, und zwar weitaus schlimmer als die Schmerzen, oder das blaue Auge. Die äußerlichen Blessuren waren nach zwei Wochen vergangen gewesen, seine Schmach aber erwies sich als zäh und langlebig.
Jetzt, in diesem breiten Sessel, der ihm den Gefallen des Verschluckens nicht tat, wurde ihm bewusst, dass er selbst noch gar keine Zeit gefunden hatte, den Tod seines Freundes zu betrauern. In dem geheimnisvollen Tal hatte er Jared getröstet, oder es zumindest versucht, und auf dem Rückweg hatte er über die Erlebnisse und Rätsel der letzten beiden Tage nachgegrübelt. Normalerweise hatte er beim Wandern die besten Eingebungen. Aber obwohl sein Gehirn gearbeitet hatte wie ein Welpe, der mit spitzen Zähnen einen Lederschuh bearbeitet, war in diesem Fall der Erfolg ausgeblieben. Er wollte sich gegen das Schluchzen wehren, das aus ihm herauswollte, wollte es in seiner Brust einschließen. Es gelang ihm nicht. Hier, im Wohnraum der Farm, der noch größer war als der im Hause Valeren, war seine Mutter diejenige, die Trost spendete, und daher konnte er es sich jetzt erlauben, seinen Tränen freien Lauf zu lassen.
Scheiß drauf, dachte er noch und erinnerte sich im selben Moment wehmütig daran, dass dies einer der Lieblingssprüche Vincents gewesen war, was ihm durch seine Tränen hindurch ein gequältes Lächeln hervorlockte. Gefolgt wurde diese Erinnerung von dem Gedanken, was wohl jetzt aus der Clique werden würde. Die Unternehmungen würden zwar ruhiger verlaufen, aber auch wesentlich langweiliger, jetzt wo der Tonangeber mit seinen verrückten Ideen nicht mehr dabei sein konnte – sofern sie überhaupt noch stattfinden würden.
Im gleichen Moment schämte er sich auch schon für diesen Gedanken, weil er ihm so überaus egoistisch vorkam.
Elisabeth schaute zu ihm herüber und er sah durch den Schleier seiner Tränen, dass sie lächelte. Er erkannte, dass ihr Lächeln ein dankbares Lächeln war. Es sagte ihm so etwas wie: Danke, dass du sein Freund warst. Jedenfalls hoffte er das. Er hoffte auch, dass dies so bliebe und nicht jeden Moment umschlagen würde in ein: Warum hast du nicht besser auf ihn aufgepasst, Scotty Valeren? Bist du nicht immer der Vernünftigere von euch beiden gewesen? Aber das passierte nicht, jedenfalls nicht an diesem Tag.
»Er war unser Ein und Alles«, hörte er gerade Vincents Mutter schluchzen, »du weißt das.«
Das war an seine Mutter gerichtet, die mit einem mitfühlenden Kopfnicken und sanfter Stimme antwortete: »Ja, ich weiß das, wir alle wissen das.«
Dann reichte sie ihrer Freundin ein neues Taschentuch.
Elisabeth weinte und schnäuzte gleichzeitig hinein. So ging das einige Minuten lang, in denen man nur leises Weinen und das unaufhaltsame Ticken der großen Standuhr hören konnte, welche Scotty noch nie so laut vorgekommen war und von der er sich wünschte, ihre Zeiger mögen sich an diesem Tage schneller drehen.
»Was soll ich bloß ohne ihn machen? Wie soll das alles hier weitergehen ... vor allem, wenn wir alt sind?«, fragte Elisabeth dann etwas gefasster.
Die Frage war an niemand Bestimmten gerichtet, wie Scotty erleichtert bemerkte. Er hätte sie jedenfalls nicht beantworten können und er war sich auch nicht sicher, ob seine Mutter, die sonst nicht so leicht um eine Antwort verlegen war, diesmal eine einigermaßen zufriedenstellende gehabt hätte. Er hätte sich auch eher die Zunge abgebissen, als der trauernden Mutter jetzt von den Zukunftsplänen ihres Sohnes zu erzählen, die dieser mehr als einmal im Kreise seiner Freunde geäußert hatte. Abgenommen hatte er diese Vincent sowieso nicht, da immer ein paar Krüge Bier oder Wein mit im Spiel gewesen waren.
Jetzt schaute sie ihn aus tränennassen Augen an und diesmal lag Besorgnis in ihrer Stimme: »Wie geht es Jared? Es muss doch schrecklich für ihn gewesen sein.«
»Es war schrecklich für ihn, Elisabeth ... und das ist es sicher immer noch«, erwiderte Scotty bestimmt und wischte sich seine Tränen mit dem Ende des Jackenärmels weg. Er konnte sich nicht vorstellen, dass der Farmer seiner Frau in dem Brief den genauen Zustand ihres Sohnes mitgeteilt hatte, und er bezweifelte stark, dass er das überhaupt jemals tun würde. So etwas schilderte man keiner Mutter. Er hatte sich schon selbst innerlich verflucht, dass er beim Abschied von Jared unbedingt hatte wissen wollen, was genau mit Vincent passiert war. Dieses Bild würde er wahrscheinlich sein Leben lang nicht mehr aus dem Kopf herausbekommen.
»Dein Mann verarbeitet das jetzt auf seine Weise«, fuhr er mit festerer Stimme fort und rutschte in seinem Sessel nach vorne. »Er wird seine ganze Kraft in die Aufklärung dieses schrecklichen Verbrechens stecken. Es wird ihm sicher gelingen, den Mörder zu finden, Elisabeth. Wenn nicht ihm, wem denn dann?«
Er hoffte inständig, dass das überzeugt geklungen hatte, denn in Wirklichkeit glaubte er selbst nicht so recht daran.
»Jared schreibt, dass er unseren Sohn in diesem Tal beerdigt hat und dass es dort wunderschön sei.«
»Das stimmt, Elisabeth, und von dort, wo er begraben liegt, hat man einen herrlichen Blick über das Tal.«
»Ich möchte so schnell wie möglich dorthin, Scotty. Verstehst du das?« Elisabeth blickte ihn aus großen fragenden Augen an.
Scotty verstand und er verstand auch, was das für ihn bedeuten würde.
»Wirst du mich hinführen?«, fragte sie auch prompt. »Ich meine, wenn Jared nicht bald zurückkommt und ich mit ihm gemeinsam das Grab unseres Sohnes besuchen kann?«
Das mache ich selbstverständlich, wollte er gerade