Das Erbe von Tench'alin. Klaus D. Biedermann

Das Erbe von Tench'alin - Klaus D. Biedermann


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der Nähe stieß ein Eichelhäher mehrere durchdringende Warnlaute aus. Ein Signal, dem der Jäger unter anderen Umständen seine ganze Aufmerksamkeit geschenkt hätte.

      »Brav, Jesper, brav … wir werden den Mörder schon finden, nicht wahr«, lobte Jared seinen Hund. Dann tauchten vor seinem geistigen Auge erneut die schrecklichen Bilder auf und Tränen traten ihm in die Augen. Mit dem Handrücken wischte er sie weg.

      »Wir werden ihn seiner gerechten Strafe zuführen, nicht wahr, mein Guter? Wenn wir ihn haben … Gnade ihm Gott!«

      Jesper wedelte zaghaft mit dem Schwanz.

      »Hey, ein wenig mehr Zuversicht hätte ich schon von dir erwartet«, lächelte Jared müde und tätschelte seinem Hund den Hals. Dann suchte er mit dem Fernglas zum wiederholten Male die Berghänge ab und beobachtete dabei einige Gämsen, die in großen Sprüngen panisch dem Tal zustrebten.

      »Vor wem laufen die denn weg? Wollen doch mal schauen«, murmelte er und schaute durch sein Fernglas. Aber er konnte keinen Verfolger ausmachen.

      Nachdem Scotty vor zwei Tagen den Heimweg angetreten hatte, hatte Jared sich in dem Tal noch genauer umgeschaut.

      Bevor er nach Haldergrond aufbrechen würde, um die Äbtissin um Rat zu fragen – ein Schritt, den er sich vor einer Woche nicht hätte vorstellen können, ohne sich selbst für verrückt zu erklären –, musste er dieses Tal erkunden. Ohne einen brauchbaren Hinweis auf das Schicksal seines Sohnes wollte er diesen Ort nicht verlassen. Das war er seiner Frau Elisabeth schuldig, deren Reaktion auf die Nachricht über den Tod ihres einzigen geliebten Sohnes er sich nicht ausmalen wollte.

      Er hatte Vincents bestem Freund einen Brief mitgegeben, in dem er ihr in möglichst schonenden Worten die Nachricht übermittelt hatte. Dabei war ihm klar gewesen, dass es dafür keine schonenden Worte geben konnte. Der Junge würde Elisabeth hoffentlich in Begleitung seiner Mutter, die ebenfalls mit der Familie Swensson befreundet war, diesen schweren Besuch abstatten. Er hatte in dem Brief auch zu erklären versucht, warum er nicht selbst der Überbringer dieser traurigen Botschaft sein konnte. Davon, dass Elisabeth ihn nicht für feige hielt, konnte er allemal ausgehen, denn das hatte er ihr im Laufe ihrer langen Ehe mehr als einmal unter Beweis gestellt. Er wusste, dass sie ihn in seinem Verlangen verstehen würde, die Umstände dieser unfassbaren Tragödie aufklären zu wollen.

      Er hatte sein Zelt unweit des Sees in der Nähe eines Walnussbaumes aufgeschlagen. In der ersten Nacht hatte er in den kurzen Phasen des Schlafes noch wirr geträumt. Inzwischen hatte sich die Ruhe des Tales auf ihn übertragen. Für Jesper war Angkar Wat ein wahres Paradies. Ständig jagte er Kaninchen und Hasen hinterher oder scheuchte gackernde Hühner auf, die zwischen den Ruinen nach Futter suchten. Besondere Freude bereitete es ihm, Schafe zu erschrecken und auseinanderzutreiben.

      Jared, der ihm das sonst nicht erlaubt hätte, hatte ihn gewähren lassen.

      Er hatte zum zweiten Mal die Brigg durchsucht, die den Emurks als Schulschiff gedient hatte. Für die war das ein Segen gewesen, der sich zwar erst nach 300 Jahren ihrer Verbannung als solcher herausgestellt hatte, aber von der Weisheit der Alten dieses merkwürdigen Volkes Zeugnis gab. Hier hatten einerseits die Kinder lesen und schreiben gelernt und andererseits hatten sich die älteren männlichen Emurks das gesamte theoretische Wissen über die Seefahrt angeeignet.

      Und davon hatten sie wahrhaft profitieren können, als sie vor Kurzem die Erlaubnis bekommen hatten, mit der restaurierten Flotte ihrer Vorfahren in die Heimat zurückzukehren.

      Während Jared das Innere des Schiffes in Augenschein genommen hatte, war Jesper auf einen kurzen Befehl hin draußen geblieben. Er würde jeden unliebsamen Besucher sofort melden. Sowohl das Schiff als auch das Gebäude mit der gepflegten Rasenfläche mitten im Gebirge zeugten von Sachverstand, enormer Baukunst und Liebe zum Detail und – dieser Gedanke war ihm schon einmal gekommen, als er mit Scotty hier gewesen war – einer großen Begeisterung für die Seefahrt.

      Auf die Galionsfigur des dickbauchigen Seglers hatte sich Jared allerdings keinen Reim machen können. Da hat aber jemand seinen kühnsten Fantasien freien Lauf gelassen, hatte er gedacht, nachdem er den Bug mit der geschnitzten Gestalt von allen Seiten genau betrachtet hatte. Er konnte nicht ahnen, dass er hier ein Abbild des Mörders seines Sohnes vor Augen hatte.

      Vor Kurzem noch war das sicherlich 100 Schritt lange und 50 Schritt breite eingeschossige Holzhaus mit den kunstvoll geschnitzten Säulen, die das mit Bambus gedeckte Vordach trugen, die vorübergehende Bleibe der wilden Malmots gewesen.

      Als diese sich mit den anderen Delegationen zum Rat der Welten zusammengefunden hatten, feierten sie hier ihre wilden Feste, was zu mancherlei Beschwerden geführt hatte. Die Krulls hatten aber jedes Mal mit Diplomatie die Wogen glätten können. Nachdem alle Teilnehmer die Heimreise angetreten hatten, waren sicherlich dreißig Gnome damit beschäftigt gewesen, in dem Gebäude wieder für Ordnung zu sorgen.

      Jared hatte sich Zugang durch einen Seitenflügel verschafft, dessen Tür nur mit einem Vorhängeschloss gesichert gewesen war.

      »Der Zweck heiligt die Mittel«, hatte er gemurmelt, als er es mit seinem Jagdmesser kurzerhand aufgebrochen hatte.

      Sieht aus wie eine Schule, dachte er nun, als er das Haus Raum für Raum durchschritt. Hier muss vor Kurzem gründlich sauber gemacht worden sein. Sehr merkwürdig das alles hier. Kein Staub auf den Möbeln, kein Schmutz auf dem Boden … genau wie beim Schiff.

      »Jesper, was hältst du davon?«, fragte er seinen Hund, der überall herumschnüffelte und ab und zu ein leises Knurren aus seiner breiten Brust von sich gab. In einem der Räume hingen exakte Zeichnungen von Waffen, die der Farmer aus Abenteuerbüchern kannte. Als Junge hatte er diese geradezu verschlungen. Piratengeschichten hatten es ihm neben Jagdliteratur besonders angetan gehabt. Die Art der Waffen, die die Seeräuber in seinen Büchern benutzt hatten, waren hier sehr detailgetreu dargestellt.

      »Schau, Jesper«, rief er begeistert aus, »hier sieht es aus wie in einem Museum … sogar Wikingerwaffen … Streitäxte, Schwerter und Speere … und hier Waffen aus dem Mittelalter, Bootshaken und Messer.«

      Für einen Moment blieb er völlig in der Betrachtung der zahlreichen Abbildungen versunken und sprach mit seinem Hund, als würde das diesen in irgendeiner Weise interessieren.

      »Ha, und hier«, deutete er auf ein weiteres großes Bild, »ich glaube, seit dem siebzehnten Jahrhundert haben sie die benutzt … Pistolen und Musketen. Ihre Schiffe waren sogar mit Kanonen ausgestattet! Hey, hey, hey, was soll das denn sein?«

      Er war staunend mit offenem Mund vor der nächsten Darstellung stehen geblieben und betrachtete die skurrilen Gestalten, die dort allem Anschein nach den Gebrauch typischer Piratenwaffen wie Entersäbel oder kurzschneidige Schwerter mit ihren extrem scharfen Schneiden demonstrierten. Ein nächstes Bild zeigte einige dieser merkwürdigen Wesen, wie sie sich mit Entermessern zwischen den Zähnen und Enterhaken an der Bordwand eines größeren Schiffes festkrallten und daran hochkletterten, um die Besatzung im Nahkampf anzugreifen.

      Andere schossen mit Musketen, Pistolen oder Büchsen und richteten ein Blutbad an, dessen Darstellung ebenfalls sehr detailverliebt ausgestaltet worden war. Die Opfer waren in diesem Fall Menschen, die dem Maler ebenfalls sehr gut gelungen waren. Jared war ins Grübeln gekommen.

      Alles ist sehr detailliert und kunstvoll dargestellt, dann muss es diese Kreaturen doch auch gegeben haben. Dann wäre die Galionsfigur ebenfalls echt. Ich habe aber noch nie von solchen Geschöpfen gehört oder gelesen.

      »Komm, Jesper«, meinte er schließlich, »wir machen uns wieder auf die Suche, sind ja nicht hier, um ein Museum zu besichtigen … bin gespannt, ob die Äbtissin eine Erklärung für das alles hat.«

      Die armseligen Verschläge, die er zuvor in einem kleinen Seitental entdeckt hatte, hatte er für die Ställe der Ziegen und Schafe gehalten, die überall im Tal und an den Hängen weideten.

      Er hatte sich gefragt, wo die Hirten waren, die von all dem hier lebten. Wenn ihm jemand erzählt hätte, dass dies die Behausungen der Schüler einer Schule gewesen waren, die er gerade besichtigt hatte, und dass sie dort nahezu dreihundert Jahre ihrer Verbannung


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