Die Reise nach Hause. Lee Carroll

Die Reise nach Hause - Lee Carroll


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sollte, um die Liebe in sein Leben zurück­zuholen. Es hatte keinen Zweck, entschied er. Ich habe schon früh die richtige Partnerin gefunden, sagte er sich immer. Nur – sie hat es nicht erkannt. Er war sehr verliebt gewesen und natürlich auch voller Erwartungen. Sie hingegen hatte einfach Spaß haben wollen. Als ihm das schließlich klar wurde, war es, als sei seine Zukunft zusammengeschrumpft und verschwunden. Er hatte seine Freundin leidenschaftlich geliebt und glaubte, nur einmal im Leben so empfinden zu können. Er hatte ihr alles gegeben, und sie hatte es einfach weggeworfen.

      Mike war auf der Farm seiner Eltern in Blue Earth – einem kleinen Städtchen in Minnesota – aufgewachsen und vor einem Leben geflohen, das seiner Meinung nach sinnlos war: Er hätte Getreide angebaut, das entweder von fremden Ländern aufgekauft oder in riesigen Silos gelagert wurde – weil es einfach zu viel davon gab. Schon von klein auf hatte er gewusst, dass er kein Farmer werden wollte. Nicht einmal in seinem eigenen Land war dieser Beruf geachtet. Wozu sollte er gut sein? Außerdem konnte Mike den Stallgeruch nicht ausstehen und wollte lieber mit Menschen, statt mit Tieren und Traktoren arbeiten. Er war ein guter Schüler gewesen und ein absolutes Ass im Umgang mit Menschen. Kein Wunder also, dass Mike Kaufmann geworden war. Gute Jobs fand er mit Leichtigkeit und so hatte er eine Reihe von Produkten und Dienstleistungen verkauft, die er ehrlichen Herzens empfehlen konnte. Die Leute kauften gern bei Michael Thomas.

      Wenn er zurückblickte auf das, was seine verstorbenen Eltern ihm mitgegeben hatten, stellte er fest: Wirklich geblieben war von all dem sein Glaube an Gott. Viel nützen tat er ihm jetzt nicht – so dachte Mike oft voll Bitterkeit. Er war Einzelkind gewesen und seine Eltern – seine geliebte Mom und sein Dad – waren kurz vor seinem einundzwanzigsten Geburtstag bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Immer noch trauerte er um die beiden und trug stets Fotos bei sich, die ihn an ihr Leben – und ihren Tod – erinnerten. Mike ging weiterhin regelmäßig zur Kirche und machte zumindest äußerlich die Gesten mit, die zum Gottesdienst gehörten. Als der Geistliche sich nach seinem spirituellen Wohlergehen erkundigte, erklärte Mike, dass er an Gott glaube und sich selbst als spirituelles Wesen sehe. Er war überzeugt, Gott sei gerecht und liebevoll, allerdings im Augenblick nicht wirklich auf seiner Seite – und das eigentlich schon seit mehreren Jahren nicht mehr. Mike betete oft um ein besseres Leben, hatte aber wenig Hoffnung, dass sich tatsächlich etwas ändern würde.

      Mit der frischen Gesichtsfarbe seines Vaters war Mike zwar nicht direkt schön, aber sein rauhes Aussehen wirkte attraktiv. Frauen fanden ihn unwiderstehlich. Sein strahlendes Lächeln, sein blondes Haar, sein hoher Wuchs, sein kräftiges Kinn und seine tiefblauen Augen zogen die Blicke auf sich. Und wer genügend Intuition besaß, der spürte Mikes Integrität und fasste augenblicklich Vertrauen zu ihm. Mehr als einmal hatte Mike Gelegenheit gehabt, Situationen zu seinem Vorteil auszunutzen – in geschäftlichen, wie auch in Liebesbeziehungen –, doch er hatte es nie getan. Sein Bewusstsein war durch seine bäuerliche Herkunft geprägt, eine Prägung, die zu den wertvollen Attributen gehörte, die ihm aus der Heimat seiner Kindheit und Jugend noch anhafteten.

      Er war unfähig, zu lügen. Er spürte, wann andere Hilfe brauchten. Er hielt den Leuten, die im Supermarkt ein- und ausgingen, die Türe auf; er hatte Respekt vor alten Menschen und redete mit ihnen; und er gab den heruntergekommenen, bettelnden Männern und Frauen auf der Straße immer ein paar Dollars, auch wenn er den Verdacht hatte, dass sie für Alkohol verschwendet würden. Er war der Meinung, dass die Menschen sich gemeinsam für eine bessere Welt einsetzen sollten, und er konnte nicht verstehen, warum die Leute in seiner neuen Heimatstadt nicht miteinander redeten, ja, oft nicht einmal ihre Nachbarn kannten. Vielleicht, weil das Wetter so schön war, dass niemand je Hilfe brauchte. Wie paradox, dachte er.

      Mikes einziges weibliches Rollenvorbild war seine Mom gewesen; und so behandelte er alle Frauen mit dem gleichen Respekt, den er dieser wunderbaren, einfühlsamen Frau – die ihm jetzt so sehr fehlte – entgegengebracht hatte. Teilweise hing sein augenblickliches Elend damit zusammen, dass dieser Respekt in der einzigen »wirklichen« Beziehung seines Lebens scheinbar ausgenutzt worden war. Tatsächlich jedoch hatte es sich um ein kulturelles Missverständnis gehandelt: Beide Partner hatten etwas erwartet, was sie nicht bekamen. Das kalifornische Mädchen, das ihm das Herz gebrochen hatte, hatte unter Liebe das verstanden, was in ihrer Kultur üblich war. Doch Mike hatte es nicht so gesehen. Er war mit einer bestimmten Vorstellung von Liebe aufgewachsen und konnte eine andere Auffassung nicht akzeptieren.

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      Und damit beginnt nun unsere eigentliche Geschichte. Hier war Michael Thomas, am Tiefpunkt seines Lebens angelangt, an einem Freitagabend auf dem Nachhauseweg zu seinem winzigen 2-Zimmer- Apartment (mit integriertem Bad!). Unterwegs hatte er im Supermarkt noch rasch die mageren Lebensmittelvorräte gekauft, die er brauchte, um die nächsten zwei Tage über die Runden zu kommen. Schon längst hatte er herausgefunden, dass er mit seinem Geld viel besser auskam, wenn er bestimmte Marken kaufte und die beigefügten Coupons für weitere Käufe verwendete. Doch sein wirksamster Spartip war: weniger essen!

      Mike kaufte Fertiggerichte, die man nicht zu kochen brauchte. Dadurch konnte er auf den Herd verzichten und musste weniger Strom zahlen. Er fühlte sich zwar unbefriedigt, irgendwie noch hung­rig, und bekam nie einen Nachtisch, auf den er sich freuen konnte – doch paßte das gut zu seiner selbst kreierten Opferrolle. Außerdem fand er es sehr praktisch, über dem Spülstein direkt aus der Packung zu essen. Damit ersparte er sich das leidige Spülen! Er hasste Spülen und rühmte sich seinem Kollegen und einzigen Freund John gegenüber oft, wie toll er dieses Problem gelöst habe. John, der Mikes Gewohnheiten kannte, witzelte dann, Mike werde sicher bald einen Weg finden, wie er – ganz ohne Apartment – alles vom nächsten Obdachlosenheim aus erledigen könne. Dabei pflegte er zu lachen und klopfte Mike auf den Rücken. Doch Mike hatte diese Möglichkeit tatsächlich in Betracht gezogen.

      Als Mike sich vom Supermarkt auf den Weg nach Hause machte, war es schon dunkel. Den ganzen Tag über hatte sich der dichte Nebel in Regen aufgelöst und immer noch war alles glatt und glänzte im fahlen, gelben Licht der Straßenlaterne, das sich auf den Stufen zu Mikes Apartment spiegelte. Froh, in Kalifornien zu leben, dachte Mike oft zurück an die entbehrungsreichen Wintermonate in Minnesota, wo er aufgewachsen war.

      Seine ganze Jugend hindurch hatte er eine Leidenschaft für alles Kalifornische gehabt. Er hatte sich geschworen, dem Hundewetter, das offenbar alle sang- und klanglos hinnahmen, zu entkommen. »Wie kommt es, dass Leute freiwillig irgendwo leben, wo man in zehn Minuten tot sein kann, wenn man bei schlechtem Wetter nach draußen geht?«, fragte er seine Mom immer wieder. Sie schaute ihn dann nur lächelnd an und sagte: »Familien bleiben meistens da, wo sie herkommen. Außerdem ist man hier sicher.« Das war ihre typische Antwort, um ihm klarzumachen, wie gefährlich Los Angeles und wie schön Minnesota war. Aber es stimmte nur, wenn man nicht Tod durch Erfrieren hinzufügte! Mike konnte seine Mutter nicht davon überzeugen, dass die Gefahr eines Erdbebens einfach wie ein Glücks­spiel sei. Es konnte einen zwar erwischen – musste es aber nicht. Die zermürbenden Winter in Minnesota dagegen kamen jedes Jahr – eine Tatsache, mit der man absolut zu rechnen hatte!

      Kein Wunder also, dass Mike seine ländliche Heimat verließ, sobald er die Highschool beendet hatte und seine College-Jahre in Kalifornien verbrachte. Er hatte seine kaufmännische Begabung genutzt, um alles, was er unternahm, selbst zu finanzieren. Jetzt wünschte er sich, er wäre in den Jahren vor dem Unfall noch eine Weile zu Hause geblieben, bei seiner Mom und seinem Dad. Er fand, dass er in seinem Drang, der Kälte zu entrinnen, kostbare Zeit mit seinen Eltern verschenkt hatte. Im Nachhinein kam es ihm egoistisch vor.

      Im trüben Dämmerlicht schleppte sich Mike nun die Stufen zu seiner Parterrewohnung hoch und nestelte an seinem Schlüsselanhänger. Die Tüte mit Lebensmitteln im Arm, steckte er den Schlüssel ins Schloss. Der Schlüssel passte auch normalerweise; doch von da an war an diesem Freitagabend das »Normale« für Michael Thomas zu Ende. Auf der anderen Seite der Tür befand sich ein Geschenk – eine potenzielle Episode in Mikes Schicksal –, etwas, das sein Leben auf immer verändern sollte.

      Da der Türrahmen verzogen war, hatte Mike sich angewöhnt, die klemmende Wohnungstür mit seinem Körpergewicht aufzudrücken, wobei sie jedesmal mit großem Schwung aufflog. Mike hatte eine Methode perfektioniert, wie er die


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