Die Reise nach Hause. Lee Carroll

Die Reise nach Hause - Lee Carroll


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unwohl bei der Anrede »lieber«, aber irgendwie passte sie zu der Art des Engels. Er war wie Eltern, Bruder, Schwester und Geliebte zugleich. Ein Gefühl, das Mike nicht so bald vergessen würde. Er sehnte sich, in dieser Energie zu bleiben und hatte Angst, sie wieder zu verlieren.

      »Wenn du in deine Realität zurückkehrst, Michael, bereite deine Sachen für ein Abenteuer vor, das eine Weile dauern wird. Sobald du so weit bist, bekommst du den Anfang des Weges gezeigt. Er führt dich zu sieben Häusern des Geistes – auch Spirit genannt – und in jedem Haus triffst du eine Wesenheit wie mich; jede erfüllt eine andere Aufgabe. Deine Reise mag Überraschungen und sogar Gefahren mit sich bringen, doch kannst du sie jederzeit abbrechen, ohne dafür verurteilt zu werden. Mit der Zeit wirst du dich verändern und viele Dinge lernen. Es wird deine Aufgabe sein, die Merkmale Gottes zu studieren. Wenn du in allen sieben Häusern gewesen bist, wird dir die Tür gezeigt, durch die du nach Hause gehen kannst. Und, Michael Thomas von reiner Absicht«, der Engel machte eine Pause und lächelte, »es wird ein großes Fest stattfinden, wenn du diese Türe öffnest.«

      Mike wusste nicht, was er sagen sollte. Er empfand eine gewisse Erleichterung, fühlte sich aber auch nervös bei dem Gedanken jetzt ins Ungewisse zu reisen. Was würde er vorfinden? Sollte er es tun? Vielleicht war das Ganze nur ein Traum und einfach Unsinn! Was war denn überhaupt Realität?

      »Was du jetzt vor dir hast, ist Realität, Michael Thomas von reiner Absicht«, sagte der Engel, der wieder einmal Mikes Gefühle las. »Dort, wohin du zurückkehrst, ist eine zeitlich begrenzte Realität, eigens eingerichtet, damit Menschen darin lernen können.«

      Michael brauchte seine Zweifel nur zu fühlen und schon wusste es der Engel. Wieder empfand er, dass diese neue Art der Kommunikation zwar etwas indiskret, aber zweifellos auch eine Ehre für ihn war. Im Traum, überlegte Mike, ist man in Kontakt mit dem eigenen Gehirn. Deshalb kann man keine Geheimnisse vor sich selbst haben. Vielleicht war es daher auch in Ordnung, wenn er in dieser Form mit einem Wesen redete, das seine Gedanken kannte. Außerdem entsprach das, was der Engel sagte, ja genau dem, was in Mike vorging. Er begann sich wohl zu fühlen in dieser »Traumrealität«, und war nicht darauf erpicht, in eine Wirklichkeit zurückzukehren, die ihr nachstand.

      »Was jetzt?«, fragte Mike zögernd.

      »Du hast die Absicht erklärt, diese Reise zu machen. Deshalb wirst du nun in dein menschliches Bewusstsein zurückkehren. Es gibt jedoch einige Punkte, die du auf deinem Weg beachten musst: Die Dinge sind nicht immer so, wie sie scheinen, Michael. Im Laufe der Zeit wirst du dich der Realität nähern, die du jetzt mit mir erlebst. Vielleicht musst du daher – wenn du der Türe von Zuhause näher kommst – ein neues Verhalten entwickeln, das ein bisschen …«, der Engel pausierte, »…AKTUELLER ist, als bisher.« Mike verstand zwar nicht, wovon die Rede war, hörte aber aufmerksam zu.

      Der Engel fuhr fort: »Es gibt noch eine Frage, die ich dir jetzt stellen muss, Michael Thomas von reiner Absicht.«

      »Ich bin bereit«, erwiderte Michael, der sich keineswegs selbstbewusst fühlte, jedoch aufrichtig bereit war, weiterzumachen. »Wie lautet die Frage?« Der Engel schwebte näher ans Fußende der Liege.

      »Michael Thomas von reiner Absicht, liebst du Gott?« Mike war über die Frage erschrocken. Natürlich, dachte er. Warum wurde er danach gefragt?

      Rasch erwiderte er: »Da du mein Herz sehen kannst und meine Gefühle kennst, musst du doch wissen, dass ich Gott liebe.« Es herrschte Stille, und Mike wusste, dass der Engel sich freute.

      »Wahrhaftig!« Es war das letzte Wort, das von den unsichtbaren Lippen dieses wunderbaren Wesens kam, das ihn offensichtlich von Herzen liebte. Der Engel streckte die Hand aus und machte eine Bewegung, als durchtrenne er Mikes Kehle. Wie konnte er so weit reichen? Augenblicklich hatte Mike das Gefühl, Hunderte von Leuchtkäfern seien in seinen Hals geflogen und veränderten etwas an seiner Person. Mike spürte keinen Schmerz, aber plötzlich musste er erbrechen.

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      D r e i

      Vorbereitung

      Die Reise beginnt

      »Halte seinen Kopf nach links über die Schale!«, rief die Krankenschwester dem Pfleger zu. »Er muss erbrechen.« Die Notaufnahme war an jenem Abend überfüllt, wie so oft am Freitag. Diesmal machte der Vollmond alles noch schwieriger. Obgleich man vermutlich in Krankenhäusern weder an Astrologie noch an metaphysische Dinge glaubte, war man doch dazu übergegangen, bei Vollmond mehr Personal in der Notfall-Ambulanz einzusetzen. Es schienen Dinge zu passieren, wie zu keiner anderen Zeit. Die Schwester eilte hinaus, um sich einer weiteren dringenden Angelegenheit zu widmen.

      »Ist er wach?«, fragte der Nachbar, der Mike zum Krankenhaus begleitet hatte. Der weiß gekleidete Pfleger beugte sich hinab, um Mikes Augen genauer zu untersuchen.

      »Ja. Er kommt gerade zu sich«, erwiderte er. »Wenn Sie gleich mit ihm sprechen, lassen Sie ihn nicht sofort aufstehen. Er hat nicht nur einen schlimmen Schlag auf den Kopf gekriegt, der genäht werden musste, auch sein Unterkiefer wird ein paar Tage sehr weh tun. Gott sei Dank konnten wir ihn wieder einrenken, solange er bewusstlos war.«

      Der Pfleger verließ die Kabine, die aus einem Vorhang bestand, der von einer halbkreisförmigen Schiene herabhing. Beim Hinausgehen zog er den Vorhang zu, so dass Mike und sein Nachbar wieder allein waren. Die zahlreichen Geräusche auf der Station waren gedämpft, aber der Nachbar hörte alles, was sich in den angrenzenden Kabinen abspielte. In der linken lag eine Frau – Opfer eines Messerstiches; in der rechten ein älterer Mann mit Atemnot und einem tauben Arm. Sie waren fast ebenso lange da wie Mike – etwa anderthalb Stunden.

      Mike öffnete die Augen und fühlte einen brennenden Schmerz im Unterkiefer. Er wusste sofort, dass er wach war. Keine Engelträume mehr, dachte er, als die Schmerzen und die ganze Situation langsam Realität für ihn wurden. Das grelle, künstliche Licht der Neonröhren, das die Notaufnahme erhellte, ließ ihn schaudern und die Augen schließen. Es war kalt im Raum und Mike wünschte sich eine Decke – doch niemand brachte sie ihm.

      »Sie waren eine Zeit lang bewusstlos«, sagte der Nachbar, ein wenig verlegen, weil er nicht einmal Mikes Namen kannte. »Man hat Ihnen den Kopf verbunden und den Kiefer eingerenkt. Versuchen Sie jetzt nicht, zu sprechen.«

      Mike schaute den Mann, der sich über ihn beugte, dankbar an. Trotz seines Dämmerzustandes bemühte er sich, die Gesichtszüge zu erkennen und sah, dass es der Mieter aus der Wohnung nebenan war. Der Mann setzte sich an Mikes Seite, während dieser in einen tiefen Schlaf fiel.

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      Als er wach wurde, wusste Mike, dass er sich woanders befand. Es war still und er lag im Bett. Er öffnete die Augen und versuchte, etwas klarer im Kopf zu werden; offenbar lag er immer noch im Krankenhaus, doch nun in einem Privatzimmer. Für ein Krankenzimmer, fand er, war es gut ausgestattet. Sein müder Blick glitt über die Bilder an der Wand und den schön gedrechselten Stuhl neben seinem Bett. Die Zimmerdecke war mit einem teuren, schalldämpfenden Material verkleidet. Es bildete kleine, wohlgeformte Recht­ecke, die sich durch Mikes verschwommene Wahrnehmung etwas in die Länge zogen. Neonröhren gab es zwar auch, aber gedämpft und halb versteckt im Muster des geschmackvollen Dekors. Die Helligkeit kam vor allem von einem Fenster mit Blick auf die Bucht und von den Glühbirnen einiger im Raum verteilter Lampen. Statt einem Wandbrett, auf dem sich in Krankenhauszimmern für gewöhnlich der Fernseher befindet, gab es hier einen schönen, la­ckierten Schrank. Die Türen des exquisiten Möbels waren geschlossen. Die Lampen trugen Schirme, wie in einem vornehmen Hotel und passten sogar zur Tapete! Was war das hier? Ein Privathaus? Als Mikes Augen weiter wanderten, entdeckten sie allerdings die normalen Krankenhausstecker für Luft, Gas und Elektrizität, die sich an verschiedenen Stellen im Raum befanden. Auch entdeckte Mike eine Anzahl diagnostischer Geräte hinter sich – wovon eins mit medizinischem Klebeband an seinem Arm


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