Die Reise nach Hause. Lee Carroll

Die Reise nach Hause - Lee Carroll


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nachzudenken. War er am Hals operiert worden? Konnte er sprechen? Langsam tastete er mit der Hand über seinen Hals, wo er einen dicken Verband oder sogar Gips erwartet hatte. Stattdessen fühlte er glatte Haut! Mit den Fingern fuhr er darüber und stellte fest, dass alles normal war. Vorsichtig versuchte er, sich zu räuspern; erstaunlicherweise sprach seine Stimme sofort an. Als er jedoch den Mund öffnete, merkte er, was nicht in Ordnung war. Ein heißer, stechender Schmerz durchzuckte ihn im Schlund und unter dem Ohr – so furchtbar, dass ihm übel wurde. Schmerzen, die man hören kann, dachte er und nahm sich vor, den Mund nur noch langsam zu öffnen.

      »Ah, ich sehe, wir sind wach geworden. Gegen die Schmerzen können Sie alles bekommen, was Sie möchten, Mr. Thomas«, sagte eine schniefende, aber freundliche Frauenstimme an der Tür. »Sie werden aber schneller gesund, wenn Sie Ihre Schmerzgrenze ohne Pillen he­rausfinden. Es ist nämlich nichts gebrochen. Ihr Kiefer braucht nur Übung, um wieder normal zu funktionieren.« Die Krankenschwester, angetan mit etwas, das sich nur als Designer-Outfit bezeichnen ließ, kam an Mikes Bett. Doch nicht nur ihre Uniform war gebügelt und saß perfekt, offensichtlich hatte sie auch eine Menge Erfahrung. Über ihrer Brusttasche prangten verschiedene Abzeichen und Auszeichnungen. Mike sprach vorsichtig durch die Zähne, wobei er sich bemühte, den Unterkiefer möglichst wenig zu bewegen.

      »Wo bin ich?«, nuschelte er.

      »Sie sind in einem Privatkrankenhaus in Beverly Hills, Mr. Thomas.« Die Schwester stand jetzt neben ihm. »Sie haben die Nacht hier verbracht, nachdem man Sie von der Notaufnahme hierher verlegt hat. Sie sollen bald entlassen werden.« Mikes Augen weiteten sich und sein Gesicht zog sich angstvoll in Falten. Er hatte gehört, dass ein Tag in einem derartigen Krankenhaus zwei bis dreitausend Dollar kosten konnte. Beim Gedanken, wie er das bezahlen sollte, fing sein Herz an zu klopfen.

      »Das geht in Ordnung, Mr. Thomas«, sagte die Schwester beruhigend, als sie Mikes Gesicht sah. »Alles ist schon geregelt. Ihr Vater hat sich darum gekümmert. Ja, und er hat alles bezahlt.«

      Mike war einen Moment still und überlegte, wie sein verstorbener Vater sich um alles hatte kümmern können. Vielleicht vermutete sie nur, es sei sein Vater gewesen und in Wirklichkeit war es sein Nachbar? Mike versuchte, so gut es ging zu sprechen, ohne den Mund zu bewegen.

      »Haben Sie ihn gesehen?«, nuschelte er.

      »Gesehen? Ja klar! Sah toll aus, Ihr Dad! Groß und blond wie Sie, mit der Stimme eines Heiligen. Waren alle am Tuscheln, die Schwestern, als sie ihn sahen; ja wirklich.« Mike brauchte die Schwester nur reden zu hören, um zu wissen, dass sie aus seiner Heimat Minnesota kam. Irgendwie redete man da verdreht, indem man das Subjekt oft an das Satzende stellte. Eine komische Ausdrucksweise, die er, sobald er nach Kalifornien gezogen war, aufgegeben hatte. Sie klang, wie die des Yoda, der in Star Wars mitspielte.

      »Hat für alles bezahlt, hat er, bar bezahlt sogar. Also machen Sie sich keine Sorgen, Mr. Thomas und – ach ja – er hat da eine Nachricht für Sie hinterlassen.«

      Mikes Herz machte einen Sprung, obwohl er den Verdacht hatte, dass der angebliche Vater sein Nachbar war; die Beschreibung der Krankenschwester passte allerdings auf keinen von beiden. Die Schwester ging hinaus, um die Nachricht zu holen. In weniger als fünf Minuten war sie zurück mit einem Stück Papier, auf dem offensichtlich eine maschinengeschriebene Botschaft stand.

      »Hat das diktiert, wissen Sie«, sagte die Schwester, indem sie ein gefaltetes Blatt aus dem Krankenhaus-Kuvert nahm. »Sagte, seine Handschrift sei nicht so gut; deshalb haben wir das für Sie getippt. Bisschen schwer zu verstehen, wenn Sie mich fragen. Hat er Sie als Kind Vorab genannt?« Sie reichte Mike das Blatt und er las es.

      Lieber Michael-Vorab,

      Nicht alles ist so, wie es scheint. Deine Suche beginnt jetzt. Werde rasch gesund und mache deine Sachen fertig für die Reise. Ich habe den Weg nach Hause vorbereitet. Nimm dieses Geschenk an und breche auf. Den Weg bekommst du gezeigt.

      Mike fühlte, wie ihm Schauer über den Rücken liefen. Dankbar schaute er die Schwester an, während er das Blatt an seine Brust drückte. Dann schloss er die Augen, wie um zu sagen, dass er allein sein wollte. Die Schwester begriff seinen Wunsch und verließ das Zimmer.

      Unzählige Gedanken gingen Mike durch den Kopf. »Nicht alles ist so, wie es scheint«, stand in der Botschaft. Was für eine Untertreibung! Er wusste, dass sein Hals gestern zusammengetreten und zerquetscht worden war, von einem Verbrecher, der ihn auf dem Boden seines Apartments beinahe umgebracht hätte. Er hatte bei dem furchtbaren Ereignis das Knirschen seiner Knochen deutlich gespürt! Und jetzt war da keinerlei Verletzung, außer einem ausgerenkten und replatzierten Unterkiefer; und ein paar Schnittwunden und blauen Flecken im Gesicht und am Kopf. Das würde zwar eine Weile wehtun, ihn aber nicht außer Gefecht setzen. War dies das Geschenk?

      Dass die Engel-Vision tatsächlich stattgefunden hatte, wurde für Mike erst zur Realität, nachdem er die Notiz gelesen hatte. Wenn das nicht der Engel gewesen war, wer dann? Mike kannte niemanden, der so viel Geld besaß oder eng genug mit ihm befreundet war, um ihm etwas zu schenken – geschweige denn die hohe Krankenhausrechnung zu bezahlen. Wer sonst konnte von der Reise wissen, zu der Mike sich bereit erklärt hatte? Sein Körper zitterte vor Fragen; und immer noch kamen ihm Zweifel, ob die Nachricht und ihr Sinn auch echt seien; bis er schließlich den letzten Beweis entdeckte – und lächeln musste.

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      Die nächsten Tage hatten besondere Bedeutung. Mike verließ das Krankenhaus mit ein paar Schmerztabletten; aber er sah, dass er sie nicht brauchte. Sein Unterkiefer schien unglaublich schnell zu heilen und er konnte vorsichtige Übungen damit machen. Es fiel ihm immer leichter zu sprechen. Und obgleich das Essen zuerst mühsam für ihn war, ging es nach ein, zwei Tagen bereits gut. Die Schmerzen beschäftigten ihn bei der ganzen Sache überhaupt nicht. Alles war noch etwas steif, aber im Hinblick auf die Umstände durchaus erträglich. Mike wollte nicht, dass sein Hochgefühl über die nun beginnende, spirituelle Suche durch Schmerztabletten beeinträchtigt wurde. Die Schnittwunden und blauen Flecken verschwanden allmählich, und immer wieder musste er staunen, wie schnell alles ging.

      Seine Kündigung erledigte er telefonisch. Unzählige Male hatte er sie in Gedanken geübt; er wollte seinen Abschied von diesem fürchterlichen Job voll auskosten. Dann rief er seinen Freund John an und erklärte ihm, so gut es ging, dass er einen ausgedehnteren Urlaub machen würde und vielleicht nicht mehr zurückkäme. John wünschte ihm alles Gute, äußerte sich allerdings besorgt über Mikes Geheimniskrämerei in Bezug auf seine Pläne.

      »Kumpel«, hatte John ihn gedrängt, »mir kannst du es doch erzählen! Ich werde dich nicht daran hindern. Was ist los?« Mike wusste nur zu gut, dass John nicht verstehen würde, wenn er sagte, ein Engel sei ihm erschienen und habe ihm Anweisungen gegeben – also schwieg er.

      »Ich muss eine private Reise unternehmen«, erklärte er John. »Sie ist wichtig für mich.« Und dabei ließ er es bewenden.

      Mike kündigte sein Apartment und packte seine Sachen. Sorgfältig sortierte er seine persönlichen Schätze von Kleidung und Hausrat. Viel besaß er nicht, doch seine Lieblingssachen – Fotos und ein paar Bücher – steckte er in zwei Reisetaschen. Ihm war klar, dass er nicht viel Kleidung mitnehmen konnte und so nahm er nur genug für eine einfache Reise und tat sie zu den Fotos und Büchern.

      Dann lud er seinen Nachbarn ein, der ihn gerettet hatte und gab ihm einige Kleidungsstücke, seinen Fernseher, sein Fahrrad – mit dem er immer zur Arbeit gefahren war – und ein paar weniger wertvolle Dinge,


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