Die Reise nach Hause. Lee Carroll

Die Reise nach Hause - Lee Carroll


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es zu erfahren«, sagte Mike mit dünner Stimme.

      »Du bist an einem heiligen Ort«, antwortete die Gestalt. »Ein Ort, den du selber erschaffen hast, und ein Ort voller Liebe. Das ist es, was du im Augenblick fühlst.« Das engelhafte Wesen verneigte sich vor Mike, und schien den ohnehin schon hellen Raum mit noch mehr Licht zu füllen.

      »Du hast es erraten: Ich bin ein Engel.«

      Mike zuckte nicht mit der Wimper. Er wusste, die Erscheinung vor ihm sprach die Wahrheit. Die Situation – wie sonderbar sie auch scheinen mochte – war außerordentlich real. Mike fühlte alles ganz klar.

      »Sind alle Engel Männer?« Mike bedauerte seine Worte, sowie er sie ausgesprochen hatte. Was für eine blöde Frage! Dies war offensichtlich etwas ganz Besonderes. Wenn es ein Traum war, dann war er jedenfalls nicht weniger wirklich, als das, was Mike bisher erlebt hatte.

      »Ich bin nur das, was du sehen möchtest, Michael Thomas. Ich besitze keine menschliche Gestalt; mein Aussehen soll dir helfen, dich wohl zu fühlen. Und nein – nicht alle Engel sind Männer. In Wirklichkeit haben wir kein Geschlecht. Und wir haben auch nicht alle Flügel.«

      Mike musste lächeln bei dem Gedanken, dass vielleicht alles, was er sah, seine eigene Kreation war. »Und wie siehst du in Wirklichkeit aus?«, fragte er, inzwischen entspannt genug, um normal mit diesem liebevollen Wesen zu reden. »Warum kann man dein Gesicht nicht erkennen?« Eine, unter diesen Umständen, berechtigte Frage.

      »Meine Form würde dich in Erstaunen versetzen, und bei ihrem Anblick käme dir eine merkwürdige Erinnerung an sie; denn auch du selbst siehst so aus, wenn du nicht auf der Erde bist. Es ist eine Form, die sich nicht beschreiben läßt; deshalb werde ich fürs Erste weiter so erscheinen, wie bisher. Was mein Gesicht betrifft, so wirst du es schon bald zu sehen bekommen.«

      »Wenn ich nicht auf der Erde bin?«, forschte Mike.

      »Das Leben auf der Erde ist zeitlich begrenzt; doch das weißt du selbst, nicht wahr? Ich kenne dich gut, Michael Thomas. Du bist ein spiritueller Mann und hast erkannt, dass der Mensch ein ewiges Wesen ist. Viele Male hast du dafür gedankt, und wir, hier auf meiner Seite, haben jedes deiner Worte gehört.«

      Mike war still. Es stimmte, er hatte in der Kirche und zu Hause gebetet; doch sich vorzustellen, alles sei tatsächlich gehört worden, fiel ihm schwer. Diese Wesenheit in seinem Traum kannte ihn also?

      »Wo kommst du her?«

      »Von zu Hause.«

      Die liebevolle Wesenheit schien jetzt direkt vor Mikes kleiner Liege zu leuchten. Sie neigte den Kopf zur Seite und wartete geduldig, während Mike alles auf sich wirken ließ. Er spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief. Tief im Inneren wusste er, dass die Wahrheit in ihrer ganzen Größe vor ihm stand; er brauchte nur zu fragen, und ein Strom von Weisheit würde sich ergießen.

      »Du hast recht!«, antwortete der Engel auf Mikes Gedanken. »Was du jetzt tust, wird deine Zukunft verändern. Du fühlst es selbst, nicht wahr?«

      »Kannst du meine Gedanken lesen?«, wunderte sich Mike, ein wenig verlegen.

      »Nein. Wir können sie fühlen. Dein Herz ist nämlich mit dem Ganzen verbunden und wir reagieren, wenn du uns brauchst.«

      »Wir?« Jetzt begann es gruselig zu werden. »Ich sehe nur dich.«

      Der Engel lachte und es klang unbeschreiblich. Was für eine Energie in diesem Lachen steckte! Mike fühlte, wie jede Zelle seines Körpers mit der Fröhlichkeit des Engels in Resonanz schwang. Alles, was der Engel tat, war neu und übertraf das gewöhnliche Leben; und tief in Michaels Unterbewusstsein weckte es die Erinnerung an etwas Wunderbares. Mike war hingerissen von der Stimme, sagte aber nichts.

      »Ich spreche zu dir mit der Stimme eines Einzelnen, doch sie ist Ausdruck für die Stimmen Vieler«, erklärte der Engel, indem er die Arme ausstreckte und mit seinen Bewegungen die merkwürdige Gewand-Haut ins Fließen brachte. »Es gibt viele Wesen im Dienst eines jeden Menschen, Michael. Das wird dir offenbar werden, wenn du beschließt, dass es so sein soll.«

      »ICH BESCHLIESSE ES!«, rief Mike mit lauter Stimme. Wie hätte er solch ein Angebot ausschlagen können! Doch dann wurde er ein wenig verlegen, als habe er sich vor einem Matinee-Star wie ein kleines Kind benommen. Eine Weile sagte er nichts und beobachtete, wie der Engel leicht auf und ab schwebte – beinahe wie auf einem hydraulischen Mini-Lift. Wieder fragte sich Mike, wie viele seiner Wahrnehmungen wohl auf Sehgewohnheiten beruhten, die geprägt waren durch Filme, die Kirche oder große Kunstwerke. Abermals herrschte Stille – was für eine Stille! Der Engel tat offenbar keine Äußerung, ohne dass Mike ihn fragte.

      »Darf ich dich etwas zu meiner Situation fragen?«, erkundigte sich Mike respektvoll. »Ist dies tatsächlich ein Traum? Es kommt mir so wirklich vor.«

      »Was ist denn ein menschlicher Traum, Michael Thomas?« Der Engel näherte sich ein wenig. »Ein Traum ist das Eintauchen in dein biologisches und spirituelles Bewusstsein; durch den Besuch dieses Bewusstseins erhältst du Informationen von meiner Seite der Dinge – manchmal im übertragenen Sinne. Wusstest du das? Ein Traum erscheint euch vielleicht anders als eure Realität, er ist der Realität Gottes jedoch viel ähnlicher als alles, was ihr normalerweise erlebt! Als dir dein Vater und deine Mutter damals im Traum erschienen sind – was war das für ein Gefühl? Kam es dir wirklich vor? Es war Wirklichkeit. Erinnerst du dich an die Woche nach dem Unglück, als sie dich besuchten? Tagelang danach hast du noch geweint. Es war IHRE Realität. Ihre Botschaften an dich waren wirklich. Die beiden lassen dich auch jetzt noch an ihrer Liebe teilhaben, Michael, denn sie sind ewig – so wie du. Was die Fragen zu deiner Situation betrifft: Was glaubst du, warum du diesen Traum jetzt hast? Aufgrund deiner Situation; nur deswegen bist du hier zu Besuch, und genau zur richtigen Zeit.« Mike freute sich über den Redefluss des wunderschönen Wesens, das ihm immer vertrauter vorkam.

      »Werde ich alles heil überstehen? Ich glaube, ich bin schwer verletzt und liege irgendwo bewusstlos, vielleicht im Sterben.«

      »Kommt darauf an«, sagte der Engel.

      »Worauf?«, wollte Michael wissen.

      »Was möchtest du denn wirklich, Michael?«, fragte der Engel liebevoll. »Sag uns, was du WIRKLICH willst. Überlege dir deine Antwort gut, Michael Thomas, denn die Energie Gottes nimmt vieles wörtlich. Im übrigen – wir wissen, was du weißt. Du kannst deiner eigenen Natur nichts vormachen.«

      Michael wollte bei seiner Antwort ehrlich sein. Die Situation wurde mit jedem Augenblick realer. Er erinnerte sich sehr gut an die lebhaften Träume von seinen Eltern, direkt nach deren Unfall. Sie waren zusammen zu ihm gekommen – in den wenigen Stunden, in denen er in jener furchtbaren Woche überhaupt schlafen konnte; und sie hatten ihn umarmt und ihn spüren lassen, wie sehr sie ihn liebten. Sie hatten ihm erklärt, es sei für sie der richtige Zeitpunkt gewesen, fortzugehen – was immer das bedeuten mochte. Mike hatte es nicht akzeptiert.

      Seine Eltern hatten ihm auch gesagt, ihr Tod sei unter anderem arrangiert worden, weil ihr Dahinscheiden ein Geschenk für Mike sein sollte. Er hatte sich immer gefragt, worin wohl das Geschenk bestand, aber schließlich war es nur ein Traum gewesen, oder nicht? Nun sagte der Engel, es sei Wirklichkeit. Was Mike im Augenblick erlebte, erschien ihm zweifellos real; vielleicht waren die Botschaften seiner Eltern ja auch real, so wie dieser Engel es war, oder ist. Diese Art Traum oder Vision ist ziemlich verwirrend, dachte er frustriert!

      Was ist es, was ich will?, fragte er sich nun. Er dachte an sein Leben und an all die Dinge, die ihm im letzten Jahr passiert waren. Er wusste, was er wollte, aber er hatte das Gefühl, es war nicht in Ordnung, darum zu bitten.

      »Es passt nicht zu deiner Größe und Erhabenheit, deine tiefsten Wünsche in dir zu verschließen«, ließ der Engel sich hören.

      Zu dumm!, dachte Michael. Der Engel weiß schon wieder, was mir durch den Kopf geht. Es gibt nichts, was ich verbergen kann.

      »Wenn du es schon weißt, warum stellst du mir diese Frage?«, erkundigte er sich. »Und was soll das bedeuten: meine Erhabenheit?« Zum ersten Mal zeigte der Engel kein Lächeln, sondern etwas anderes.


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