Ballengang. Peter Greb

Ballengang - Peter Greb


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verdanke ich dem ›Schauen‹, das im Buddhismus eine zentrale Übung der Meditation ist, was auch den empirischen Aspekt des Wiederholbaren mit einschließt. […] Das Schauen ist die Grundlage des Wissens. Weisheitliches Wissen ist unmöglich ohne Schauen des Konkreten. Alles Wissen hat seinen Ursprung im Schauen der Wirklichkeit, wie sie ist und wie sie wesentlich ist.«

      Sie können sich mit einer »konkreten« Übung anschaulich bewusst machen, was der Hackengang bewirkt: Stecken Sie sich dazu die Finger in die Ohren und gehen Sie schnell zehn bis zwanzig Schritte auf Ihre gewohnte Weise. Hören Sie dabei in sich hinein! Haben Sie es gehört, dieses Tock-tock-tock? Hiermit haben Sie sich selbst einen jederzeit wiederholbaren wissenschaftlichen Beweis gegeben (siehe Kapitel »Die Gestik des Hackenganges«).

      Ich kam zu dem Schluss, dass wir beim menschengerechten – sprich: aufrechten – Gehen bei jedem Schritt den Vorfuß zuerst zur Erde bringen sollten, um dann erst die Ferse abzusenken. So berühren wir die Erde federleicht und ersparen uns den Rückstoß in unsere Wirbelsäule bis hinauf zum Kopf. Also genau entgegengesetzt zu allen orthopädischen Empfehlungen!

      85 Prozent unserer Mitbürger leiden an Beschwerden durch Fehlhaltungen. Das ist kein Wunder, denn schon 85 Prozent der Vorschulkinder (!) weisen schwere Haltungsschäden auf.

      Die häufig aus diesen Haltungsschäden resultierenden Erkrankungen mit Schmerzen in den Knochen, Gelenken und Muskeln sind weithin bekannt. Wie viele von uns wurden nicht schon einmal von ihrem Arzt auf ihre Senk-, Spreiz-, Platt- oder Knickfüße hingewiesen, wenn sie über irgendeinen Schmerz in den Füßen, im Knie, in den Hüften oder im Rücken klagten? Vielen wurden Einlagen verschrieben oder zumindest empfohlen. Wie oft hat es nicht geholfen oder nur vorübergehend Linderung verschafft? Meist wurden Sie nur darin bestärkt, zu glauben, dass Sie eine entsprechende Veranlagung, gar eine ererbte Schwäche mit auf die Welt gebracht hätten, die mit den Jahren nur schlimmer werden könne.

      Mit passiv machenden Fußbetten und Einlagen, die »stützen, führen, halten« sollen, und mit zu engen und zu festen Schuhen wird der ganze übrige Mensch aus seinem Grund, seinen Füßen, heraus gegängelt und geschwächt. Der Volksmund sagt: geschurigelt. Dagegen ist GODO oder die Kunst des Ballengangs, des Schreitens, die ideale Art, kräftige, »erweckte« Füße zu bekommen. Das wurde uns inzwischen von vielen GODO-Praktizierenden bewiesen.

      Unsere Fußmuskeln im Vorfuß geben Signale zum Gehirn und danach an den ganzen Körper weiter, wie er sich in vollkommener, selbst regulierender Balance aufrichten kann. Alle uns unbewussten Muskeln, die rundherum eng an der Wirbelsäule liegen, sorgen für eine elastische Aufrichtung und eine selbstbewusste, selbstsichere Haltung. Unsere Fußmuskeln im Vorfuß melden beim fühlenden Auftreten, wie der Boden beschaffen ist. Die »erweckten« Füße machen uns also achtsam uns selbst gegenüber, damit wir mögliche Fehlhaltungen schon bei ihrer Entstehung an der Basis vermeiden und ausgleichen können.

      Wenn wir Menschen uns freuen, wenn wir Lust ausdrücken, erheben wir uns dann nicht von selbst auf den Vorfuß – oder wie wir ihn nennen: den Ballen? Wie beim Tanzen fühlen wir uns leicht, und ein Wohlgefühl durchfließt uns. Beim Ballengang streckt sich nämlich der ganze Körper. Wir atmen freier; wir haben das Gefühl, im ganzen Körper zu atmen, und unser gesundes Selbstwertgefühl wird erheblich gesteigert.

      Wir alle ahnen, dass etwas mit uns »falsch läuft«, und jeder fragt jeden: »Wie geht’s?« Da wird uns dann zu allem Übel von den Ärzten das sogenannte »anständige Abrollen« empfohlen. Dieses Abrollen ist wohl das gefährlichste medizinische Dogma. Es verpflichtet uns alle zur Hackengängerei. (Ein Dogma ist eine ungeprüft hingenommene Behauptung, ein Glaubenssatz mit dem Anspruch unbedingter Geltung. Bei Jutta Voss hört sich das so an: »[…] unhinterfragbar und als einzig gültige Wahrheit von Anfang der Welt her festgelegt […]. Das gilt es zu glauben, egal, ob Erfahrungen und Wissen das Gegenteil aufzeigen.«)

      Ich habe für die wiedergefundene Tatsache, dass wir genetisch angelegte Ballengänger sind, einen Namen gefunden, der global zu verstehen ist, und kam auf das Wortspiel GODO. Es setzt sich zusammen aus den Silben GO und DO. GO heißt das älteste Spiel der Welt; es stammt aus Japan und bedeutet »durch Spielen zum Bewusstsein«. DO wie in »Aikido« oder »Judo« bedeutet »der Weg«. Im Englischen »go, do« liegt die Aufforderung: »Gehe und tue! Bewege und handle!«

      Wir meinen damit: »Gehe den Weg bewusst!«

      Im Italienischen heißt »godo«: »ich genieße«. Wie in »mi godo la vita« – »ich genieße das Leben«.

      Und warten wir nicht alle seit Samuel Becketts Theaterstück »Warten auf Godo(t)«? Da heißt es mehrfach in ähnlicher Form:

      Estragon: Allons-nous-en. Komm, gehen wir.

      Vladimir: On ne peut pas. Wir können nicht.

      Estragon: Pourquoi? Warum?

      Vladimir: On attend Godot. Wir warten auf Godot.

      Oder etwas weiter im Stück:

      Estragon: Et s’il vient? Und wenn er kommt?

      Vladimir: Nous serons sauvés. Dann sind wir gerettet.

      Eine interessante visionäre Aussage, die Beckett da in der zweiten Hälfte des Jahres 1945, in der er das Stück schrieb, gemacht hat.

      GODO lehrt uns, wie wir richtig beziehungsweise aufrichtig über den Ballen gehen können. Dabei entsteht ein harmonischer Bewegungsablauf, der diese Gestenfolge erzeugt:

      Ruhen

      Wollen

      Danken/Denken

      Fühlen

      Zur Ruhe kommen

      Ruhen

      Der Hackengang dagegen hat einen gestörten Bewegungsablauf mit der gestischen Sinnfolge (siehe Kapitel »Das Gehverhalten des Menschen«):

      Wollen

      Denken

      Nichtwollen

      Die widersprüchliche motorische Steuerung (Wollen – Nichtwollen) der Füße beim Hackengang beeinflusst die Haltung der Wirbelsäule, die Atmung, den Kreislauf, und im Gehirn bewirkt sie ernst zu nehmende Fehlverbindungen.

      Die Tatsache, dass Gangentwicklung und Sprachentwicklung in unseren ersten drei Lebensjahren nicht nur parallel verlaufen, sondern auch noch den gleichen Nervenstrang benutzen, kann eine »Wort-Sinn-Störung« verursachen (siehe Kapitel »Gang und Sprache«)

      Der Mensch ist also durch den frühen Anpassungsprozess, das sogenannte Gehenlernen, vom Ballengänger zum Hackengänger hingegängelt worden und wurde damit nicht nur körperlich, sondern auch geistig aus der Harmonie gebracht. Demnach sind wir gleichsam »geh-stört«! Wir haben uns durch die Imitation eines falschen Vorbildes eine verzerrte Bewegungsmaske, den Hackengang, antrainiert. Wir haben marschieren gelernt, anstatt zu gehen.

      Viele Fehlhaltungen, die nicht durch Unfallverletzungen oder genetische Defekte entstanden sind, führe ich vor allem auf den Hackengang zurück. Darüber hinaus wird im Verlauf dieses Buches deutlich gemacht, wie sehr die unmenschliche Landgeburt unsere Beweglichkeit von Anfang an irritiert. Außerdem werden die Vorteile der Wassergeburt für unsere natürliche Bewegungsentfaltung herausgearbeitet.

      GODO ist also mehr als Vorfußgang. GODO informiert über die Möglichkeit, sich von Schritt zu Schritt fühlend mit der Erde zu verbinden, in ihr ein lebendiges Wesen zu sehen und sich selbst Schritt für Schritt liebend in der Aufrichtung zu erleben. Indem wir bewusster gehen, leben wir auch bewusster. In der dynamischen Aufrichtung der schreitenden, ballenbetonten Vorwärtsbewegung entfalten wir unser reinstes Ich, denn:

      Das Ich ist die Aufrichtung!

      Nur ein ballenbetonter Einsatz der Füße kann zu einer vollendeten Aufrichtung führen (siehe Kapitel »Gang und Ich-Entwicklung«)!


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