Ballengang. Peter Greb
hervorzuholen und zusammenzustellen dient dem Erwecken und Bestätigen einer gemeinsamen Erinnerung.
Fühlen Sie selbst, wie die neue beziehungsweise wiederentdeckte Gangart im ganzen Organismus eine wohltuende Kraft entfaltet, wenn Sie sie durch artgemäßes Schreiten über die Ballen wiedererwecken. Sie werden begeistert sein.
Der Göttinger Neurobiologe Prof. Gerald Hüther nennt die Begeisterung »das Doping für Geist und Hirn«. Und weiter:
»Leider können sich Erwachsene nur vereinzelt an ihre ersten Kindheitserlebnisse erinnern. Erinnern an dieses Glücksgefühl, mit dem sie sich als kleines Kind auf den Weg gemacht haben, die Welt zu entdecken. Sie können sich kaum entsinnen an diese unglaubliche Offenheit, Gestaltungslust und Entdeckerfreude. Sie haben nur eine getrübte Vorstellung von dieser den ganzen Körper durchströmenden Begeisterung über sich selbst und über all das, was es damals zu entdecken und zu gestalten gab. Wären diese Erinnerungen präsenter, wären viele Sorgen, Probleme und Nöte des Erwachsenseins gar nicht existent.«
Die Zusammenstellung der positiven Auswirkungen auf Ihre Gesundheit finden Sie im Kapitel »Der praktische Erfolg von GODO«. Scheinbar negative Auswirkungen sind nur vorübergehender Natur und im Übrigen selten. Nur in den ersten Tagen der Umstellung auf den Ballengang werden Sie etwas Muskelkater, meist in den Waden, bekommen. Das ist für den Anfänger sehr aufschlussreich, weil er merkt, wo er bisher unterfordert war.
Der Mensch ist ein Ballengänger
Erfahrungen als Arzt
Bei meiner Arbeit an Schmerzsymptomen des Muskel- und Skelettsystems fiel mir bereits zu Beginn meiner ärztlichen Tätigkeit (Anfang der Siebzigerjahre) auf, dass sich der Mensch möglicherweise durch sein Gangverhalten unnötig belastet.
Die Entdeckung, dass der Mensch eigentlich ein Ballengänger ist, begann mit einer zufälligen Beobachtung, die mich vermuten ließ, dass die Medizin, die ich gelernt hatte, sich im wahrsten Sinne des Wortes auf einer Art »Holzweg« befand. Mich befielen große Zweifel, und nur gründliche Forschung und hartnäckiges Festhalten an meiner Entdeckung machten dieses Buch möglich. Zu guter Letzt hat mir mein inzwischen rund 45 Jahre langer Selbstversuch, im Ballengang durchs Leben zu gehen, Mut gemacht, Ihnen das Gleiche zu empfehlen.
Wie bin ich erstmals auf diese Erkenntnisse gestoßen? In meiner ersten Praxis gab es einen riesigen Barockspiegel, der in die Wand dieses sechzig Quadratmeter großen Sprechzimmers eingebaut war. Davor befand sich die Behandlungsliege. Nachdem ich die Krankengeschichte aufgeschrieben hatte, begleitete ich meine Patienten quer durch den Raum auf den Spiegel zu. Um die statischen Beschwerden meiner Patienten besser beurteilen zu können, beobachtete ich die Symmetrien ihrer Bewegungsabläufe. Dabei glitt meine Hand über ihren Rücken, um eventuelle Verspannungen, die sich durch Temperaturunterschiede zeigen, zu entdecken.
Um besser zu fühlen, legte ich meine Schuhe ab. Dadurch konnte ich mich so leise bewegen, dass ich die feinsten Erschütterungen und ausgleichenden Muskelkontraktionen bei den Patienten spürte. So verschieden die Zeichen auch waren, die auf die einzelnen Leiden hinwiesen, so klar war ein mehr oder weniger starkes »Tock-tock« bei allen zu fühlen. Dieses »Tocken« kam aus dem Fersenstoß, mit dem wir alle als Hackengänger die Erde bei jedem Schritt betreten. Besonders gut kann man das fühlen, wenn man die Hand auf das Kreuzbein des zu Untersuchenden legt, während er ganz normal geht. Versuchen Sie das ruhig einmal mit einem Mitmenschen. Dieses gilt als …
ZWEITER WISSENSCHAFTLICHER BEWEIS:
Um leise und achtsam nebenhergehen zu können, ging ich selbst zunächst unbewusst über den Vorfuß. Erst nach einigen Monaten hörte ich nachts auf dem Nachhauseweg meine eigenen Hackengangschritte, das »Tock-tock-tock«, als Echo von den Hauswänden erschallen. Ich erschrak. Durch den Schock aufgeweckt, begann ich zu vermuten, dass der Ballengang die Gangart ist, die unserer Natur entspricht.
Nachdem ich die Achtsamkeit und Leichtigkeit des Ballenganges bewusst wahrgenommen hatte, erschien mir der Hackengang als eine sehr grobe Art der Fortbewegung. Ich begann zu realisieren, dass der Hackengang der Auslöser für die meisten Fehlhaltungen und die daraus folgenden Schmerzen im Muskel- und Skelettsystem sein könnte.
Ich fragte mich, warum wir im täglichen Leben nicht gefühlter, also ballenbetont schreitend gehen. Unsere ästhetischen Ideale fordern das doch geradezu heraus! Man denke nur an Stöckelschuhe, Tanz, Ballett, Gangschulung für Models, die Fußstellung von Schaufensterpuppen und das »Schreiten im königlichen Gang«. Selbst der allgemeine Sprachgebrauch zeigt ein Gefühl dafür, dass Grenzen zwar überSCHRITTEN, aber nie überGANGEN werden sollten.
Außerdem hüpfen wir auf dem federnden Fuß, wenn wir uns freuen, während wir zum Ausdruck von Ärger mit der Ferse aufstampfen. Und wer im Sport nicht die Federkraft des Fußes benutzt, bringt keine Leistung und wirkt unelegant, ja unbeholfen.
Darüber hinaus fiel mir auf, dass Menschen, die viel und bewegt z.B. frei in der Disco tanzen, selten in meine Praxis kamen. Dagegen musste ich häufig professionelle Tänzer mit ihren typischen Verschleißerscheinungen und Sportverletzungen behandeln, die, wie mir mit der Zeit klar wurde, zumeist nur die Folgen der künstlich trainierten und übertriebenen, vom Fersenstoß erzeugten Fehlhaltungen sind.
Ich fragte mich also:
Warum GEHEN wir über die Fersen?
Warum SCHREITEN wir nicht über die Ballen?
Der Schreitreflex
Damit begann ich mich für die Entstehung des menschlichen Bewegungsverhaltens auf eine neue Weise zu interessieren und wandte mich dem Ursprung unserer Gangentwicklung zu. Zunächst beobachtete ich Kinder vom Moment ihrer Geburt an. Dabei fiel mir als Erstes der sogenannte Schreitreflex bei Neugeborenen auf. Er wird »Schreit-Reflex« und nicht »Gang-Reflex« genannt, weil es sich um eine ausdrücklich ballenbetonte Bewegung handelt. Diesen Reflex kann man gewöhnlich nur in einem begrenzten Zeitraum, nämlich vom Zeitpunkt der Geburt bis zum Alter von vier bis sechs Wochen, bei allen Babys beobachten. Übrigens erhält sich dieser Reflex bei Wassergeborenen bis zu deren sehr frühem Gehenlernen im sechsten Monat (mehr dazu im Kapitel »Schwangerschaft, Geburt und ›sensible Phase‹«).
Jeder, der sitzend ein Kind von unter einem Jahr in den Händen hält, merkt, dass es sich mit den Fußspitzen gegen den Bauch stemmt. Es ist ganz natürlich, dass es dies mit dem fühlenden Vorfuß und nicht mit der Ferse tut. Weiterhin fiel mir auf, wie kleinflächig die Ferse der Neugeborenen ist.
Sehen Sie selbst, wie ungeeignet die Ferse für den Hackengang ist.
Die ersten Schritte
Als Nächstes nahm ich wahr, dass alle Kinder bei ihren ersten Schritten offensichtlich noch deutlich Ballengänger sind. Jeder Vater und jede Mutter wird das bestätigen. Das kann uns nur entgehen, wenn wir dem Kind von Anfang an Schuhe mit steifen Sohlen anziehen und es zu selten barfuß laufen lassen.
Ich beobachtete, dass Kinder unter drei Jahren wieder zu Ballengängern werden, wenn sie sich sehr interessiert auf etwas zubewegen. In solchen Momenten fühlen sie sich unbeobachtet. Solange sie sich jedoch beobachtet fühlen, versuchen sie den Hackengang so gut wie möglich zu imitieren. Ich stellte mir also die Frage: Werden Kinder