Tore zur Freiheit. Andrea Dinkel-Tischendorf

Tore zur Freiheit - Andrea Dinkel-Tischendorf


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Untersberg betrachte. Ist es nicht merkwürdig, dass es mich ausgerechnet hierher verschlagen hat? Dass wir ein Haus finden, das uns vom Garten aus den Blick freigibt auf diesen mystischen Berg, dessen Existenz Anlass für Zukunftsweissagungen einiger Propheten des letzten Jahrhunderts gab?

      Die schlafende Hexe wird im Übrigen in der Frühzeit als Verehrung und Verkörperung der Bergmutter angesehen und beschrieben. Für mich sieht sie eher aus wie ein junges, weibliches Äffchen, und da mein Hang zu Tieren immer ein besonderer war, bin ich mit diesem Bild sehr zufrieden.

      »Ich bin angekommen, endlich ›zu Hause‹ … nach all den aufreibenden Jahren endlich daheim!« Dankbarkeit kommt auf. Gott hat meinen Weg geebnet und mich hierher gebracht, an einen Ort der Stille und des Einklangs mit Mutter Natur. Mit einem Mann an meiner Seite, der die Natur genauso, wenn nicht noch mehr, schätzt und mich immer wieder daran erinnert, dass es nicht nur Arbeit gibt und es genauso verantwortungsvoll ist, die Schönheit, die Gott uns geschenkt hat, wertzuschätzen und uns bewusst mit ihr zu verbinden.

      Eine Vision dieser wunderschönen Voralpengegend und auch des Mannes, mit dem ich hier leben würde, zieht in meinem Geiste vorbei: 2008 war ein schwieriges Jahr für mich. Die Trennung meiner langjährigen Partnerschaft brachte viel emotionalen Schmerz mit sich, und doch war es ein transformierendes Jahr, das, wie es nach einem Abschied nun einmal oft ist, auch eine Neugeburt bedeutete.

      Zunächst beschloss ich voller Überzeugung, keinen Partner mehr zu haben. Ich hatte die Nase voll von all den komplizierten Beziehungen der Vergangenheit und zog mein Resümee in der innerlichen Auflehnung meiner Seele: »Entweder meinen Seelenpartner, oder niemanden mehr!«

      Da stehe ich nun in der Küche meiner alten Wohnung und denke über die kommende Zeit nach. Ich bitte Gott um einen kleinen Einblick in meine Zukunft: Eine bergige Landschaft zieht an meinem geistigen Auge vorbei, ich sehe blauen Himmel, viel Grün. Einige Wochen vor dieser Vision hatte ich in England einen Mann kennengelernt, in den ich mich Hals über Kopf verliebte. Als wir uns während einer medialen Ausbildung begegneten, hatte er bereits seinen Job als Polizist in London aufgegeben und war nach dem tragischen Tod seiner Frau mit seiner damals 13jährigen Tochter nach Kanada ausgewandert, um dort ein neues Leben zu beginnen.

      Die inneren Bilder versetzen mich in ein aufgeregtes Staunen, obgleich ich immer wusste, dass ich einmal einen Ausländer heiraten würde. Vielleicht kennst du das auch: Es gibt Dinge im Leben, die weiß man einfach. Es ist ein tiefes Wissen, das aus der Seele herausströmt und nicht gleichzusetzen ist mit logischem, rationalem Denken.

      »Wow!«, denke ich: »Das muss Kanada sein! Das ist ja wunderbar!« Jonathan war also wieder in greifbare Nähe gerückt, obwohl unser Abschied keineswegs einer Trennung zweier Liebender glich, die wissen, ein Wiedersehen steht außer Frage. Vielleicht hätte ich mir die Berge doch etwas genauer betrachten sollen!

      Nach der anfänglichen Begeisterung ereilte mich der Schock. Nein, ich hörte keine englische Sprache, wie ich es mir vorstellte. Ich hörte unmissverständlich einen österreichischen Akzent meines zukünftigen Liebsten! Du kannst dir sicher vorstellen, wie erstaunt ich war. Ausländer hin oder her, einen Deutschsprachigen hätte ich mir jedenfalls nicht vorgestellt!

      Nun bin ich mit meinem österreichischen Mann Volker verheiratet und zähle mich zu einem sehr glücklichen und zufriedenen Menschen auf dieser wunderbaren Erde, der gerade die schneeweiße Wolke vor sich betrachtet. Die Kulisse am Himmel wirkt wie ein Gemälde, das sich unter den Wetterbedingungen und Lichteinstrahlungen immer wieder in neuen Farben und Formen präsentiert. »Wie mein Leben«, denke ich. Stetige Bewegung, Höhen und Tiefen, und kaum tritt etwas in Erscheinung, ist es auch schon wieder weg ‒ wie die Wolke am Himmel.

      Von meiner Arbeit als Medium weiß ich, dass die meisten Menschen durch Gewohnheit ihre Lebendigkeit verlieren. Es gibt für mich nichts Schöneres, als sie mit Hilfe der geistigen Welt daraus zu befreien, um ihr tatsächliches Potential zu leben. Betrachten wir doch nur einmal die Natur: Nichts ist von Bestand, stetige Veränderung und Bewegung sind ihre Begleiter. So sind wir Menschen auch. Die Natur erscheint in wunderschönen Farben. Ich mag den Vergleich mit einem Teich: Ist genug Sauerstoff vorhanden, blüht das Leben in und um den Teich herum. Man sieht Libellen, Insekten, Frösche, lebendiges Grün. Ist zu wenig Sauerstoff im Wasser, kippt der Teich, und allmählich schwindet das Leben. Bewegung ist der Lauf des Lebens.

      Bewegung ist auch unser Atem: Er kommt und geht, kein Atemzug gleicht dem anderen. Ist einer gegangen, ist er unwiderruflich Vergangenheit. Nicht wiederholbar! So erleben wir ständiges Ableben und augenblickliche Neugeburt. Im Ein- und Ausatmen wird gezeigt: Jeder neue Atemzug ist die Möglichkeit, lebendig zu sein.

      Leider denken wir im Westen zu wenig darüber nach und sind schockiert, wenn unser letzter Atemzug naht oder ein geliebter Mensch seinen letzten Odem aushaucht. Dann fangen wir an, über das Leben nachzudenken, und fragen uns, was unserem Leben mehr Inhalt gegeben hätte. Tun wir dies besser heute, jeden Tag von neuem! Wie oft höre ich von lieben Verstorbenen: »Ich habe versäumt, dieses oder jenes zu tun, zu sagen und so weiter …« Ehrlich gesagt, sind diese Gespräche auch für mich immer sehr lehrreich, kann ich doch dann versuchen, noch etwas besser und intensiver zu leben.

      Zufrieden blicke ich auf mein Leben. Vor ein paar Jahren fand ich beim Ausmisten staubiger Kisten einen Zettel wieder, den ich als 25-Jährige geschrieben hatte. Auf dem Zettel standen meine Wünsche für dieses Leben: Einen lieben Mann, drei Kinder, einen Hund, ein Haus mit Garten, drei Sprachen sprechen, ins Ausland gehen, Ski fahren lernen, Fallschirm springen, Malen …

      Der gewünschte Mann ist nun da: Volker ist der Mensch, den ich mir immer erträumt habe. Er nimmt mich, wie ich bin, und gibt mir trotz meiner Schwächen stets das Gefühl, geliebt zu sein. Was kann sich ein Mensch mehr wünschen? Die drei Kinder hat er mitgebracht, die waren also schon fertig. Das Haus mit Garten haben wir angemietet, und das Hündchen ist nun auch da. Skifahren habe ich durch meinen Mann ein bisschen gelernt. Und das mit dem Fallschirmspringen ist mir nicht mehr wichtig; es darf also gerne ohne Wehmut von der Liste gestrichen werden!

      Die drei Sprachen: Englisch durfte ich mir während meiner Zeit in Florida aneignen, und naja, mein Französisch ist gegangen, wie es gekommen ist. Aber auch das ist nicht tragisch, und schließlich bin ich noch nicht zu alt, um eine neue Sprache zu lernen. Okay, auf meinem Zettel stand: bis 30 …, aber: welche Bedeutung hat das schon … man muss ja nicht immer im ICE fahren!

      Endlich finde ich Zeit zum Malen. Kreativ und somit schöpferisch tätig sein zu können und zu dürfen, liegt in der Natur des Menschen; es sind Gottesgeschenke an uns. Dieser Gabe Raum zu geben und meiner Seele trotz der vielen Arbeit Zeit zu schenken, ist eine bedeutungsvolle Aufgabe, derer ich mir bewusst bin.

      An Heiligabend werde ich 46 Jahre alt und während ich mein Leben Revue passiere, denke ich an Mayas Worte im Jahr 2008, als ich Volker kennenlernte, zurück. Mit dem Hinweis auf diese Beziehung gab sie mir zu bedenken: »Wenn du es jetzt nicht schaffst, schaffst du es nie!« Merkwürdig, dass ich gerade jetzt daran denke.

      Es wird mir klar, dass sie die Liebe und das Leben meinte. Ich bin mir sicher, dass sie mit ihrem durchdringenden Blick und ihren ungewohnt strengen Worten eine Anspielung auf die damals nicht vorhandene Wertschätzung von Liebe und Leben machte. Meine kluge Freundin, die mit ihrer Ehrlichkeit und Klarheit und vor allem ihrer Liebe mein Leben so reich beschenkt hat. Jetzt fühle ich sie, die Dankbarkeit und Wertschätzung, ohne die sich ein Mensch nicht als glücklicher Mensch bezeichnen kann.

      Bevor ich meine alte Heimat verlassen habe, um mit meinem Mann an der Grenze von Österreich und Deutschland zu leben, gab es noch einen Wehmutstropfen: Ich musste Abschied nehmen von Gina, meinem kleinen Dackelmischlingsmädchen, meiner geliebten und treuesten Weggefährtin, und auch diese Erinnerung kehrt zurück:

      Ich sitze am Schreibtisch in meiner alten Wohnung und schaue mir Häuser unserer jetzigen Heimat an. Fünf Jahre suchen wir nun schon nach einem gemeinsamen Domizil. Als ich das Haus im Internet finde, das wir heute bewohnen, kehrt die Vorahnung zurück, die ich einige Monate zuvor spürte. Damals wusste ich: »Wenn ich Richtung Österreich ziehe, wird es Gina nicht mehr geben!« Ein Stich fährt mir ins Herz, und mit Schrecken und Tränen in den Augen betrachte


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