Tamy. Simone Kosog

Tamy - Simone Kosog


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hat Heinz bauen lassen. Ich kenne kein anderes Dorf in dieser Grösse mit so einer Ausstattung.

      Während jeder in Stettlen meinen Pflegevater kannte, wussten nur diejenigen, mit denen wir direkt zu tun hatten, wer ich war und dass ich bei ihm wohnte, und so kam es vor, dass die Leute über «den Winzenried» redeten, während ich daneben stand. Ich hörte, wie sie mit Respekt darüber sprachen, was er alles für seine Arbeiter getan hatte, wie menschennah er sei oder wie einfach und bescheiden er sich kleide. Seine Manchesterhosen überstanden viele Jahrzehnte und er zog sie auch dann noch an, wenn der Stoff an einigen Stellen schon sichtlich abgetragen war.

      Und ich hörte, wie sie über die Motive seiner Wohltaten argwöhnten – Kritik, Misstrauen und Neid klangen mit – und darüber fantasierten, wie diese Reichen denn wohl wohnen würden.

      Was Letzteres angeht, hätten sie ziemlich viele ihrer Vorstellungen bestätigt gefunden. Die Villa, in der mein Pflegevater bereits seit 1942 lebte, bestand aus vier Stockwerken. Unten waren unser Wohnzimmer, die Küche, das Büro von Heinz, mein Spielzimmer, die Bibliothek, das Sitzungszimmer, das kleine Esszimmer und das grosse Esszimmer, in dem Banketts abgehalten wurden. Über eine breite Treppe mit rotem Teppich, ziemlich oldschool, kam man nach oben, zu unseren Schlafzimmern. Meines war riesig, das grösste Zimmer, in dem ich je gewohnt habe. Ich hatte ein eigenes Bad, an das gleich das Bad der Angestelltenwohnung grenzte. Hier lebte ein älteres Paar aus Italien, Michele und Guiseppina, das sich um das Haus kümmerte. Micheles Arbeitskleidung bestand aus einem weissen Hemd, einem schwarzen Smoking und weissen Handschuhen. Er hätte eins zu eins den Buttler in einem englischen Film spielen können. Guiseppina war nicht weniger formvollendet angezogen, sie trug täglich ein schwarzes Kleid mit weisser Schürze. Auf unserem Esstisch hatten wir ein goldenes Glöckli stehen, mit dem wir immer klingelten, wenn wir mit einem Gang fertig waren, sodass Michele und Guiseppina kamen, abräumten und den nächsten Gang servierten. Ich stellte immer sicher, dass ich diejenige war, die klingeln durfte.

      Oft passten die beiden auch auf mich auf; es gibt Videos, auf denen ich mit ihnen fliessend Italienisch spreche. Wenn ich mir das heute anschaue, verstehe ich kein Wort mehr von dem, was ich sage.

      Heinz, Charlotte und ich mochten Michele und Guiseppa sehr und fühlten uns mit ihnen verbunden. Oft begleiteten sie uns auf Reisen oder wir besuchten ihre Familie in Norditalien, wo Heinz ihnen ein Haus gekauft hatte, das gross genug war, um drei Generationen zu beherbergen. Solche Dinge tat er immer wieder für die Menschen in seinem Umfeld. Er schlug Michele und Guiseppina auch vor, normale, bequeme Kleidung zu tragen, aber das lehnten sie freundlich ab.

      Wir hatten einen Gärtner, einen Chauffeur, wir reisten First Class um die ganze Welt, Bali, Seychellen, Mauritius, Kenia. Oft waren wir auch auf Sardinien, wo wir ein grosses Haus an der Costa Smeralda hatten, und wenn es irgendwie ging, waren wir einmal im Jahr in den USA. Meine Mutter hatte keine offizielle Aufenthaltsgenehmigung, sodass sie, wenn sie ausgereist wäre, kaum wieder hineingelassen worden wäre, und so war die einzige Möglichkeit, sie zu sehen, zu ihr zu gehen. Mal trafen wir uns in Florida, mal auf Hawaii. In den Wochen davor hielt ich es kaum aus. Wir blieben dann meist so zwischen fünf Tagen und zwei Wochen und fuhren dann zurück. Es konnte auch mal vorkommen, dass wir ein Jahr aussetzen mussten, weil Heinz zu beschäftigt war, dann sah ich meine Mama erst im nächsten Jahr wieder.

      L.A. hatte für sie all das gehalten, was es versprochen hatte. Sie hatte damit begonnen, ihre Träume tatsächlich umzusetzen, Musik zu studieren und gleichzeitig eine Ausbildung zur Pilotin zu machen. Das klang auch für mich als Kind fantastisch. Und obwohl sie, nachdem sie ihr Studium abgeschlossen hatte, nie als Musikerin arbeitete und nach der bestandenen theoretischen Pilotenprüfung die praktische nicht mehr machen konnte, weil ihr das Geld dafür fehlte, ging es ihr blendend und sie fand dennoch ihren Platz auf der grossen Bühne. Bald schon arbeitete sie wieder als Maskenbildnerin, aber diesmal mit den besten Teams und grössten Stars.

      Natürlich hätte ich meine Mutter gerne öfter gesehen und es gab Phasen, da vermisste ich sie sehr, aber ich nahm ihr das nie übel. Was hätte sie denn tun sollen? Wir telefonierten jeden Sonntag um 18 Uhr und erzählten uns aus unserem Leben. Manchmal fragte sie mich dann, ob sie lieber nach Hause kommen solle. «Nein, Mama, ist schon okay!», antwortete ich jedes Mal. Ich wollte nicht, dass sie für mich etwas aufgeben müsste. Ob sie zurückgekommen wäre, wenn ich ja gesagt hätte? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich hab keine Ahnung. Die Telefonate bedeuteten uns beiden viel, wir waren uns trotz allem sehr nah – das machte es nicht unbedingt einfacher. Meistens brauchten wir ewig, um uns zu verabschieden, und sie wollte immer, dass ich diejenige war, die auflegte. Also ging das hin und her: «Hab dich lieb.» – «Ich dich auch.» – «Tschüss, bis nächste Woche.» – «Tschüss, machs gut…» Tausend Küsschen hin und her, Tausend mal ich vermiss dich, ich vermiss dich auch. Das konnte locker eine halbe Stunde dauern. Lustigerweise sollten wir dieses Ritual auch später beibehalten. Auch heute noch verabschieden wir uns überschwänglich mit vielen Liebesbeteuerungen – meine Freunde finden das sehr amüsant.

      Im Gegensatz zu meiner Mutter waren Heinz und Charlotte immer da. Die Seite des grossen Mäzens, Fabrikbesitzers und Politikers, die mein Pflegevater in der Öffentlichkeit zeigte, war für mich als Kind bedeutungslos, aber ich spürte sehr wohl, wie sich die Stimmung änderte, sobald er einen Raum betrat und wie die Menschen auf ihn reagierten. Mich nannte er «ein Geschenk des Himmels», er war glücklich, dass ich bei ihnen gelandet war, und tat alles für mich. Charlotte war zwanzig Jahre jünger als er und natürlich erzählten sich die Leute ganz eifrig, dass sie nur seines Geldes wegen bei Heinz war – aber wie viel Wahrheit liegt in solchen selbstgefälligen Behauptungen?

      Die beiden gingen sehr achtsam miteinander um, stritten nur selten, liebten sich. Von Zuhause aus lenkten sie die Firmengeschäfte, wie Heinz hatte auch Charlotte ihr Büro bei uns im Haus. Oft begleitete ich Charlotte, wenn sie zur Firma rüberfuhr, um etwas abzuholen, oder es kamen Geschäftsleute zu Sitzungen in die Villa.

      Sobald wir wieder unter uns waren, war Charlotte eindeutig die Chefin, oder besser: Sie und ich waren das. Wir waren die einzigen Menschen in Heinz’ Leben, von denen er ein Nein akzeptierte. Zwar versuchte er manchmal zu protestieren, aber doch eher halbherzig und im Wissen, ohnehin nicht gegen uns anzukommen.

      Für mich waren die beiden Familie; wenn ich an meine Kindheit denke, denke ich an Heinz und Charlotte. Bis ich 13 war, kroch ich nachts in ihr Bett, legte mich zu Charlotte an die Seite. Sie war mütterlich und verständnisvoll. Ich fühlte mich geborgen.

      Als ich in der 2. Klasse war, gingen unsere italienischen Angestellten in Rente und zogen in ihr Haus in Norditalien. Ich vermisste sie und war traurig und auch, wenn das spanische Paar, das sie nach kurzer Zeit ersetzte, ebenfalls freundlich und sympathisch war, entwickelte ich zu ihnen nie so eine Nähe wie zu Michele und Guiseppina. Dennoch brachte ihr Einzug einen entscheidenden Vorteil für mich: Ich wurde in der Schule nicht mehr ganz so oft geärgert, denn das spanische Paar hatte zwei Kinder, die mit in unser Haus zogen, allerdings schon deutlich älter waren als ich. Der Sohn war 12, die Tochter 16, und die beiden bekamen den Auftrag, auf mich aufzupassen und darauf zu achten, dass niemand gemein zu mir war. Zwar besuchten sie schon die höhere Schule, die fünf Gehminuten entfernt war, sodass ich meine Schulwege weiterhin alleine meistern musste, aber hin und wieder sah man uns zusammen und es sprach sich herum, dass sie nach mir guckten. Ohne dass ich darüber reden musste, war dies ein wirkungsvolles Druckmittel und tatsächlich kam es zu der einen oder anderen Situation, in der sie für mich eintraten, woraufhin mich die anderen Schüler einigermassen in Ruhe liessen, was sehr erleichternd war.

      Gleichwohl zeigten mir die anderen Kinder weiterhin deutlich, dass ich nicht dazugehörte, nach wie vor verstummten ihre Gespräche, wenn ich kam, zogen ihre Blicke Grenzen und manchmal war es ihnen egal, dass es da jetzt die beiden spanischen Aufpasser gab, sodass sie sich trotzdem wieder auf mich stürzten.

      Ich hielt das zwei, drei weitere Jahre aus, dann reichte es mir!

      Es war nicht einmal so, dass ich unbedingt dazugehören wollte oder einsam gewesen wäre. Seit ich klein war, war ich gerne allein gewesen, lebte unbeschwert in meiner eigenen Welt. Während der Kindergartenzeit hatte ich oft ewig für meinen Heimweg gebraucht, statt fünf Minuten war ich locker eineinhalb Stunden unterwegs, sodass mir oft schon meine Pflegemutter


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