Tamy. Simone Kosog

Tamy - Simone Kosog


Скачать книгу
nach Hause schleichend, selbstvergessen über Blümchen, Schmetterlinge oder sonst was staunend.

      In der Schule war das noch genauso, auch, wenn sich das Umfeld geändert hatte und die Lehrer nicht begeistert waren. Im Unterricht schaute ich ewig aus dem Fenster, unterwegs in meinen eigenen Märchen. «Tamy – wo ist sie?», schrieben sie in mein Zeugnis. In ihren Kommentaren war ich «eine Tagträumerin», «nicht anwesend». Dabei beliessen sie es, da ich immer gute Noten hatte, sodass sie nicht wirklich etwas sagen konnten.

      Nachmittags ging ich oft in unseren Wald, kletterte in den Bäumen herum und beobachtete von dort oben die Leute, die vorübergingen. Oder ich dachte mir Geschichten aus, in denen der Wald mein Zuhause war und die Blättchen, die ich sammelte und in meiner Waldküche kochte, mein Abendessen waren. Oder ich sass bei den Enten, die hier ein grosses Gehege hatten oder verbrachte Zeit mit unseren Hunden. Kreierte meine eigene Welt.

      Manchmal spielte ich auch mit Laura, der Enkelin meines Pflegevaters, die oft bei uns vorbeikam und die, weil alles andere zu umständlich gewesen wäre, meine Cousine genannt wurde. Und es gab Nadine. Sie hatte irgendwann in der vierten Klasse entschieden, dass sie mit mir befreundet sein wollte. Ich hatte sie immer doof gefunden, vor allem wegen ihrer Frisur – so gesehen, war ich auch nicht weniger von Äusserlichkeiten beeinflusst als die anderen Kinder. Nadine hatte bereits in der Kindergartenzeit einen vollendeten Vokuhila getragen, vorne Igel, hinten lang, der damals ziemlich angesagt gewesen war und den ausser ihr bestimmt weitere vier, fünf Mädchen verpasst bekommen hatten. Ich war nur froh, dass ich davon verschont geblieben war. Auch Nadine hatte ihre Frisur schrecklich gefunden, aber sie war nicht gefragt worden und musste wohl oder übel damit herumlaufen.

      Obwohl wir uns also eigentlich gar nicht mochten, freundeten wir uns jetzt, in der 4. Klasse, an und wurden bald unzertrennlich. Auch Nadine gehörte nicht gerade zu den beliebtesten Kindern der Klasse, aber sie war viel mehr connected als ich; kein Vergleich mit meinem Status, mit den ewigen Schikanen und den Anfeindungen, die weiterhin regelmässig stattfanden und auf einer Skala von 1 – mir fiese Sachen zurufen – bis 10 – Auflauern und Verprügeln – reichten. Auch, wenn es nicht jeden Tag zu 10 kam – schon bei 1 sah ich es persönlich als zwingend erforderlich an, mich zu verteidigen – und ich war es nach dieser ganzen Zeit müde, wollte nicht mehr.

      So traf ich am Ende der 4. Klasse eine bewusste, folgenreiche Entscheidung: Ab dem nächsten Schuljahr würde ich anders aussehen! Ich hatte fünf Wochen Zeit. Über die Sommerferien liess ich mir die Haare wachsen und setzte meine Brille nicht mehr auf. Wenn ich mich genügend konzentrierte, konnte ich auch ohne Brille gut sehen, das ist bis heute noch so. Nur, wenn ich müde werde, fällt mir das Sehen schwer, dann wird alles ganz verschwommen, aber ich hatte meine Methoden: Ein Auge zuhalten half, Schielen auch, was ich allerdings nur tat, wenn mich keiner beobachtete. Von damals ist mir geblieben, dass ich meine Brille praktisch nie in der Öffentlichkeit aufsetze.

      Ausserdem kleidete ich mich anders. Es war nicht so, dass ich in Minirock und High Heels zur Schule ging, aber während mir bisher ziemlich egal gewesen war, wie ich aussah – es hatte mich einfach nicht interessiert –, wählte ich meine Kleidung jetzt ganz bewusst nach den aktuellen Trends aus. Vorzugsweise orientierte ich mich an dem, was die Neuntklässler trugen: Statt Jogginghosen oder irgendeine No-Name-Jeans zog ich nun dieselben angesagten Klamotten wie die anderen an. Wenn die Mädchen Miss Sixties gut fanden, fand ich das jetzt eben auch. Oder es kam ein Typ mit Buffalo-Schuhen in die Schule, die so ziemlich jeder cool fand und gerne gehabt hätte, und kurz darauf trug ich ebenfalls solche Schuhe. Die finanzielle Situation bei uns zu Hause machte meine Verwandlung natürlich erheblich leichter. Es war für mich nie ein Problem, bestimmte Klamotten zu bekommen; wenn die anderen Kinder noch dabei waren, ihre Eltern davon zu überzeugen, dass sie dringend ein bestimmtes Kleidungsstück bräuchten, kam ich schon am nächsten Morgen damit ins Klassenzimmer. Auch von unseren Amerikareisen brachte ich nun jedes Mal die angesagten Jeans und T-Shirts mit.

      Wenn es jetzt vorkam, dass ich mal danebengriff, spürte ich das schnell und korrigierte sofort. Zum Beispiel hatte ich mal so einen Zweiteiler, der aus einer Art Radlerhose und einer Jacke mit Knöpfen bestand. Beides war schwarz mit weissen Nähten und hatte noch irgendwelche Muster – ein wildes Teil. Ich fand es mega toll, aber es kam überhaupt nicht gut an. Also musterte ich den Zweiteiler sofort wieder aus.

      Ich kam mir nach meiner Verwandlung nicht verkleidet vor und ich fühlte mich auch nicht wirklich unwohl, aber trotzdem war das nicht mehr mein selbstverständliches Ich, sondern eine Rolle, in die ich schlüpfte. Mir war nicht mal im Ansatz klar, was ich da tat, und dass ich soeben einen entscheidenden Teil von mir aufgab. Ich weiss nicht, ob ich genauso gehandelt hätte, wenn mir das bewusst gewesen wäre. Für Heinz und Charlotte war mein veränderter Look nicht mehr als eine neue Mode, die mir halt jetzt gefiel. Ich hatte zuhause nur von den wenigsten Beschimpfungen und Bedrohungen erzählt, eigentlich nur von denjenigen, bei denen ich wirklich Angst gehabt hatte – die Geschichte mit dem rosa Röckchen, die Schnee-Attacke –, alles andere hatte ich für mich behalten, weil ich einfach kein Gewicht darauf legte. Das war es nicht wert. Meine Pflegeeltern sollten nicht wissen, wie häufig ich attackiert wurde. Ich zog das erfolgreich durch.

      Entsprechend unspektakulär muss meine jetzige Veränderung auf sie gewirkt haben. Eine neue Hosenmarke und längere Haare eben, ein anderer Look, aber sonst?

      Ein Verstecken, Zurückziehen, Vortäuschen. Ich gab meinen eigenen Ausdruck auf.

      Das Erschreckende ist, wie gut es funktionierte! Innerhalb kurzer Zeit war ich akzeptiert, war bald sogar richtig beliebt. Ich stand in den Mädchenrunden auf dem Schulhof und beteiligte mich an ihren Gesprächen über welche Themen auch immer – mir war das egal. Ich hatte neben Nadine, mit der ich weiterhin in engem Kontakt war und durch die gesamte Schulzeit befreundet bleiben sollte, plötzlich auch andere Freundinnen. Zusammen mit Nadine richtete ich in unserem Haus einen Discoraum ein, direkt neben dem Weinkeller und der Garage. Heinz und Charlotte hatten die Idee dazu gehabt. Wir besprühten die Wände mit dem, was wir unter Graffiti verstanden, hängten eine Discokugel an die Decke und bunte Lichter an die Wände. Dann lud ich zur Party ein. Es kamen all die Fünftklässler, die ich eingeladen hatte, und ausserdem Schüler aus der siebten, achten, sogar aus der neunten Klasse, und zwar ausnahmslos die «cool kids», die ich nie im Leben zu fragen gewagt hätte und die sich wohl die Gelegenheit nicht entgehen lassen wollten, die weisse Villa von innen zu sehen. Für meinen Status war ihr Auftreten der grosse Durchbruch. In meiner Klasse gehörte ich nun definitiv zu den Beliebtesten, mit denen alle abhängen wollten.

      Sehr schnell wurde mein neues Image so normal für mich, dass ich gar nicht mehr darüber nachdachte und über viele Jahre komplett vergass, dass ich da mal eine Entscheidung getroffen hatte und wie ich eigentlich vorher gewesen war. Ich entwickelte mich zur Teenagerin und war eklig zu meinen Pflegeeltern. Ich stritt mit ihnen und weigerte mich beleidigt, mit ihnen zusammen am Tisch zu sitzen. Mit dem Teller in der Hand stapfte ich wütend nach oben, ass alleine in meinem Zimmer.

      Bei Charlotte beklagte ich mich darüber, dass wir nicht in einer normalen Wohnung lebten. Schloss ich neue Freundschaften, war es mir jetzt peinlich, die Freunde mit nach Hause zu nehmen. Jedes Mal, wenn ich es doch tat, wurde ich damit konfrontiert, wie sie staunend umherschauten, abcheckten, verglichen. Mir machten ihre Ehrfurcht und Bewunderung noch mehr bewusst, wie sehr sich meine Situation von der ihren unterschied. Ich folgte ihren Blicken und fand es beklemmend, mir vorzustellen, was sie wohl dachten und was sie wohl zu Hause erzählen würden. Es war mir auch unangenehm, vom Chauffeur zur Schule oder zum Schwimmunterricht gebracht zu werden, weshalb ich immer eine Strasse eher ausstieg, sodass mich keiner sah – heute hätte ich definitiv nichts mehr dagegen, von einem Chauffeur gefahren zu werden. Und ich regte mich darüber auf, dass Heinz und Charlotte nicht verheiratet waren! Als ich jünger gewesen war, hatte ich es noch lustig gefunden, dass wir alle drei verschiedene Nachnamen hatten. Auf Reisen hatte das immer wieder zu Verwirrung und kritische Blicken am Schalter geführt. Ich fand, dass die beiden einfach zusammengehörten – einerseits. Andererseits suchte ich auch hier möglichst viel Normalität. Alle anderen hatten auch verheiratete Eltern; warum konnte nicht wenigstens das bei mir genauso sein? Tatsächlich taten sie mir den Gefallen, was mir bis heute sehr leidtut, denn Charlotte sollte später, nach dem dramatischen Firmenscheitern und dem Tod von Heinz, dadurch ziemliche


Скачать книгу