Tamy. Simone Kosog
ich die Autorität meiner Pflegeeltern nie infrage. Sätze wie «Ihr seid nicht meine richtigen Eltern!», habe ich nie gesagt und auch nie gefühlt. Unser Grundgerüst war stabil und tragfähig.
Mit meiner Mutter stritt ich nie. Wenn man sich nur fünf Tage am Stück sieht und dazwischen höchstens telefoniert, gibt es keinen Alltag, in dem der eine genervt vom anderen sein könnte. Es gibt immer nur Ausnahmesituationen. Meine Mutter war für mich die coolste von allen; ich fand sensationell, wen sie kannte, wie sie lebte, mit wem sie arbeitete; so wollte ich auch mal sein. Ich weiss noch, wie wir damals in der Schule ein Bild malen sollten, das uns selbst im Alter von 30 Jahren zeigt. Ich malte mich auf dem Laufsteg. In meinem Bild war Claudia Schiffer krank geworden, weshalb ich spontan für sie einspringen musste. Jeder Schüler präsentierte sein Bild vor der Klasse. Als ich meines vorstellte, erntete ich grosses Gelächter und ich wusste auf der Stelle, dass ich meinen Traum in Zukunft für mich behalten würde. Die Träume der anderen waren so handfest und real wie die Schweizer Berge.
Im Gegensatz zu heute wollte damals niemand Model werden, schon gar nicht in unserem kleinen Dorf. Es gab hier nicht die geringsten Berührungspunkte. Für mich gab es meine Mama, die zwar aktuell nicht mehr modelte, aber deren Leben nach wie vor funkelte und glitzerte. Ich durfte das selbst ein kleines fantastisches bisschen miterleben, als ich 2001 zum allerersten Mal zu ihr nach L.A. flog. Mit 16 alleine in den Flieger und ich würde fünf ganze Wochen bleiben. Damals arbeitete meine Mama gerade bei einem Videodreh der R&B-Sängerin Aaliyah mit. Aaliyah war 23 Jahre alt und gerade durch den Film «Romeo Must Die» zum Star geworden. Sie spielte darin nicht nur die weibliche Hauptrolle, sondern sang auch den Song «Try Again». «Romeo Must Die» wurde zu einem der erfolgreichsten Filme des Jahres und Aaliyahs Song schnellte hoch auf Platz eins der amerikanischen Singlecharts. Menschen auf der ganzen Welt wurden ihre Fans und ich war definitiv einer davon.
An vielen Tagen waren meine Mama und ich zusammen unterwegs, an anderen, an denen sie arbeiten musste, kümmerten sich meistens Freunde von ihr um mich oder meine Mutter setzte mich in der Mall ab, wo ich mir die Zeit vertrieb, auch mal ein paar Jungs kennenlernte, bevor sie mich abends wieder abholte. Eines Abends erzählte sie mir, dass sie mich am nächsten Tag mit ans Set nehmen würde. Es würde eine Szene gedreht, bei der ich sogar mitspielen könnte. Wow!
So gross wie meine Aufregung und Begeisterung gewesen war, war am nächsten Tag mein Frust, als wir mitten in L.A. im Stau standen und irgendwann klar wurde, dass wir den Termin definitiv nicht schaffen würden. Tatsächlich war die Szene schon abgedreht, als wir am Set ankamen, aber immerhin lernte ich Aaliyah persönlich kennen. Sie begrüsste mich, wir machten zusammen Fotos und sie wünschte mir noch viel Spass beim Zuschauen des Videodrehs. Das war mindestens genauso gut.
Ich war schon wieder zurück in der Schweiz, als Aaliyah mit einem Teil ihres Teams auf die Bahamas flog, um ein neues Video zu drehen: «Rock the Boat». Auf dem Rückflug, nur wenige hundert Meter nach dem Start, stürzte die Cessna ab, später hiess es, das Flugzeug sei überladen gewesen, ausserdem habe der Pilot Alkohol und Kokain im Blut gehabt. Drei Wochen, nachdem mir Aaliyah in L.A. die Hand gegeben hatte, war sie tot, genauso wie ihre Crewmitglieder, die mit im Flugzeug gesessen hatten. Danach verkauften sich ihre Platten kolossal. Für mich war das ein Schock. Es war so unwirklich, und obwohl wir uns ja nicht wirklich gekannt hatten, war ich traurig.
Auch mit den Rolling Stones, Britney Spears, Justin Timberlake oder Gwen Stefani arbeitete meine Mama zusammen, die Liste ist lang, alle Namen sind gross und bedeutungsvoll. Darunter auch genau die Rapper, deren Musik ich hörte. Zu meinem siebzehnten Geburtstag schickte sie mir eine kleine Filmkamera, eines der ersten Modelle mit Memory-Karte, die, wie ich feststellte, bereits einen Clip enthielt: Es strahlte mich Snoop Dogg an. «Hi Tamy my nizzy from Swizzy…» 50 Cent: «Hi Tamy your Mom is great, if you need anything my friends are your friends you heard me!» Dr. Dre: «Hi Tamy this is Dr. Dre sending you love all the way to Switzerland.»
Es kam damals immer wieder vor, dass Freunde mich fragten, ob ich denn nicht wütend auf meine Mutter sei und sich darüber aufregten, wie sie das denn machen könne, aber das liess ich nie gelten. Was wussten die schon. Ich verteidigte meine Mama vehement, erklärte, dass das voll okay für mich sei und ihre Entscheidung absolut richtig wäre. Das war meine Sicht auf mein Leben, die ich mir von niemandem nehmen liess. Und an Tagen wie diesen, als meine Mama dafür gesorgt hatte, dass all die angesagten Rapper meinen Namen sagten und mich persönlich grüssten, war ich mir sicher, dass ich es mehr als gut getroffen hatte. Mir reichte das völlig zum Glück!
In Zürich sprach ich bei einer Model-Agentur vor. Es wäre einfach genial, wenn das klappte, was würde wohl meine Mama sagen? Aber sie wollten mich dort nicht und das war es dann für mich mit dem Modeln für eine lange Zeit. Was solls – es gab noch viele andere Sachen, die mich interessierten.
Heinz und Charlotte taten weiterhin alles dafür, dass es mir gut ging. Sie hatten ihre klaren Vorstellungen von unserem Zusammenleben, aber waren nie streng, übten nie Druck aus und zeigten mir immer wieder, wie glücklich es sie machte, dass ich bei ihnen war, ohne die geringsten Zweifel – auch in diesen verstockten Teenager-Zeiten. In den wenigen Fällen, in denen Charlotte mir mal einen Wunsch nicht erfüllte, ging ich zu Heinz, der mir ganz sicher nichts abschlug. Das ging so weit, dass er seine BMWs weggab, weil ich die Autos nicht mochte, und stattdessen zwei neue Mercedes kaufte, wie er sie vorher auch schon gehabt hatte. Und auf unseren Reisen wohnten wir in den Hotels, die ich zuvor ausgesucht hatte. Dass Heinz auch die Sanierung der Schwimmhalle unseres Dorfes finanzierte, weil ich im Schwimmclub war, hatte er sich allerdings selbst überlegt. Eigentlich hätte die Halle aus Kostengründen in eine Turnhalle umgewandelt werden sollen – das wäre dann die dritte gewesen. Heinz sorgte dafür, dass es nicht so weit kam.
Seit ich als Kleinkind vergnügt in unserem Pool geplanscht hatte, liebte ich das Wasser. Mit zwei konnte ich schon gut schwimmen. Weil es mir soviel Spass machte, meldeten mich meine Pflegeeltern bald darauf erst zum Schwimmkurs und dann, ich war vier oder fünf Jahre alt, im Verein an.
Ich ging einmal die Woche hin, später zweimal und dann noch öfter. Das entwickelte sich fast automatisch: Das Schwimmen fiel mir leicht und ich war offensichtlich begabt. Wäre ich mittelmässig gewesen, hätte ich vermutlich bald wieder aufgehört, ganz sicher hätte ich schnell die Lust verloren. Wenn, dann wollte ich schon die beste sein. Meine Anatomie kam mir zugute: Ich war gross und hatte vor allem relativ grosse Handflächen, was beim Schwimmen ein entscheidender Vorteil ist. Auch meine Technik passte, sodass ich nicht gross kämpfen musste.
Die Trainer bestärkten und förderten mich und schlugen vor, das Training weiter zu intensivieren, was ich dann auch tat. Während sich meine Freundinnen aus der Schule für den Nachmittag verabredeten, zog ich meine Bahnen. Am Ende trainierte ich an fünf Tagen pro Woche acht Mal, davon sechs Mal nass und zwei Mal trocken, wie wir sagten. In meinen Spitzenzeiten schaffte ich 78 Liegestütze. Wenn meine Schulkameradinnen am Wochenende zusammen ausgingen, setzte ich mich in den Mannschaftsbus und fuhr mit den Jungen und Mädchen aus dem Club zu Wettkämpfen, und selbst einen Teil meiner Ferien verbrachte ich in Trainingslagern.
Keine Frage: Das Schwimmen machte mir Spass, es war mein Leben. Ich wollte das so. Wir waren der beste Club in der Schweiz, und es fühlte sich gut an, als Team aufzulaufen, alle in den gleichen Shorts und T-Shirts mit Vereinslogo. Schaut her, das sind wir. Aber das Training war auch hart. Manchmal, wenn wir im Trainingslager waren und das Schwimmbad im Freien lag, führten wir in unserem Schlafraum gemeinsame Rituale aus, um Regen und Sturm heraufzubeschwören, damit wir am nächsten Tag bloss nicht ins Wasser mussten. Einmal hat es danach tatsächlich so ein heftiges Gewitter gegeben, dass das Training abgesagt wurde. Wir jubelten über unseren wirkungsvollen Zauber.
Dazu kam, dass ich im Wasser völlig von der Welt abgeschlossen war. Du kommunizierst nur, wenn der Trainer dir sagt, was du als Nächstes tun sollst, dann tauchst du wieder ein und bist völlig mit dir und deinen Gedanken alleine. Nicht gerade unterhaltsam. Ich lebte auch während der vielen Stunden im Wasser in meiner Fantasiewelt, dachte mir Geschichten aus – und war weiter erfolgreich: Drei Mal wurde ich Schweizer Meisterin, wurde in das Kader der Schweizer Nationalmannschaft aufgenommen und im Jahr 2000 als jüngstes Teammitglied für die Olympiade in Sydney nominiert.
Stopp!
Für