Ethik. Wilhelm Vossenkuhl

Ethik - Wilhelm Vossenkuhl


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war, die nicht mit dem übereinstimmte, was die normalen Menschen auf dem Marktplatz unter „gut“ und „schlecht“ verstanden.

      Sokrates hat sich schon damals unbeliebt gemacht, indem er den Menschen – wir würden heute sagen – auf die Nerven ging, indem er sie fragte, „was bedeutet dies und jenes?“, oder „was würdet ihr denn da tun?“, „was ist denn gerecht und was ist richtig?“, oder „ist dieser oder jener mutig gewesen?“ und so fort.

      Man hat also damals schon angefangen diese so genannte „praktische Philosophie“, oder die „Philosophie der Praxis“, „Philosophie des Handelns“ zu entwickeln. Wir werden später noch sehen, was in jener Zeit an wichtigen Einsichten gewonnen wurde.

      Zurück zum Verhältnis Sitte-Ethik. In der Antike war dieses Verhältnis sehr eng. Denn was im ethischen Sinne als gut galt, sollte eigentlich auch sittlich vorbildhaft sein.

      Also, wenn jemand als Staatsmann, als Krieger besonders empfehlenswert war, war er sowohl im ethischen Sinne ein guter Mensch, ein gutes Beispiel ein guter Krieger, ein guter Feldherr, als auch im sittlichen Sinne. Man hat ihn also in beider Hinsicht für gut gehalten und er war in jeder Hinsicht ein Vorbild.

      Aber im Laufe der Jahrhunderte hat sich das Verhältnis zwischen Sitte und Ethik gelöst. Immer deutlicher trat hervor, dass die Ethik ihre spezielle Aufgabe nicht mehr in der Sprache, in dem Bewusstsein wahrnehmen konnte wie das üblicherweise bei Gesprächen auf dem Marktplatz oder unter Freunden möglich war. Es bildete sich eine spezielle Begrifflichkeit heraus. Die gab es allerdings auch schon in der Antike. Die normalen Menschen haben damals nicht so ohne weiteres zum Beispiel von Tugenden gesprochen. Aber sie wussten doch, was Tapferkeit oder Klugheit heißt.

      Die Begriffe, die dann in der Ethik die wesentliche Rolle spielten, lösten sich nach und nach aus dem alltäglichen Verständnis und Bewusstsein heraus. Sie nahmen immer mehr einen wissenschaftlichen Charakter an. Sie wurden immer mehr mit Wissen verbunden.

      Schon Platon hat die Ethik sehr eng mit dem Wissen verbunden. Aristoteles meinte sogar, dass für die Ethik ein ganz besonderes praktisches Wissen erforderlich sei. Auch diese großen „Köpfe“ der Ethik haben also schon sehr früh gewusst, dass Wissen und Ethik sehr eng miteinander zusammenhängen. Platon meinte sogar, dass man für die Ethik, um gut handeln zu können, sogar technisches Wissen, also Wissen, das zum Beispiel auch ein Handwerker einsetzt.

      Die Moderne hat diese Auseinanderentwicklung von Sitte und Ethik sehr stark forciert, weil mit der Moderne, also nach dem 15./16. Jahrhundert, vor allem aber im 18. Jahrhundert Staaten, Staatswesen entstanden, die immer mehr ethische Probleme nicht nur hatten, sondern auch erzeugten. Ethische Probleme, die deswegen Probleme waren, weil in dieser Zeit das entstand, was wir heute Individualismus nennen. Also Rechtsansprüche von einzelnen Personen, nicht mehr nur einfach von Gruppen – Priestern, Politikern, Adligen – sondern von einzelnen Menschen. In diesen Gesellschaften entstand ganz sprunghaft und rasch ein Interesse an Ethik und mit dieser Entwicklung löste sich das Vokabular und auch das Problemverständnis der Ethik immer mehr von der Sitte ab.

      Die herrschenden Sitten waren im, nehmen wir einmal das 18. Jahrhundert, noch immer von der sogenannten „Feudalgesellschaft“ geprägt. Sie war eine „Schichtengesellschaft“, in der die Adligen deutlich überlegen waren gegenüber den nicht Adligen. Es gab in Europa zwar keine Sklaven mehr, aber es gab „Leibeigenschaft“, also den Bauerstand, der eigentlich nicht wirklich frei war. Es war sogar so, dass der Bauernstand in dieser Zeit unfreier war, als im 11. Jahrhundert. Warum das so war, muss uns jetzt nicht interessieren, aber es ist ein interessantes Faktum.

      In dieser Zeit entstand das Bewusstsein der „Freiheit“. Dieses Bewusstsein ist ein typisches ethisches Bewusstsein. Ein Bewusstsein, ohne das die Ethik im modernen Sinne gar nicht denkbar ist. Es entstanden auch andere interessante, wichtige Ideen, die der Ethik ihre Gestalt gaben. Nämlich die Gleichheitsidee, das Gleichheitsbewusstsein. Und dann immer mehr auch die Gleichheitsforderung.

      Natürlich gibt es auch im Hinblick auf Freiheit und Gleichheit, im Hinblick auf diese wichtigen Forderungen, die der Ethik im 18. Jahrhundert ihren Charakter gaben, schon Vorbilder. Ohne das Christentum wäre der Gleichheitsgedanke sicherlich nicht entstanden. Also haben wir auch da wieder einen sittlichen Hintergrund.

      Das soll einmal, was die historische Seite des Verhältnisses von Sitte und Ethik betrifft, genügen.

      Nun zum heutigen Verhältnis. Noch immer hängen Sitte und Ethik eng miteinander zusammen. Wir leben in Gesellschaften, in denen wir, ob wir wollen oder nicht, ein sittliches Bewusstsein sozusagen mit der Muttermilch bekommen. Natürlich verändert sich das. Wir bleiben nicht immer beim gleichen Bewusstsein. Wir verändern dieses Bewusstsein zum Beispiel typischerweise durch unsere Ausbildung, durch die Erziehung in der Schule. Auch jeder Beruf hat ein bestimmtes sittliches Bewusstsein. Deswegen spricht man auch von „Standesbewusstsein“.

      Daran sieht man wiederum auch, wie eng das Verhältnis zwischen Sitte und Ethik ist. Das Standesbewusstsein hat immer auch einen ethischen Charakter. Nehmen wir zum Beispiel die Standesethik der Mediziner oder die Standesethik von Beamten oder Soldaten. Da sieht man, dass auch das normale sittliche Bewusstsein mit ethischen Vorstellungen verbunden ist.

      Ein Beispiel: Ein Arzt hat das sittliche und gleichzeitig ethische Bewusstsein, dass er Menschen nicht schaden darf. Vielmehr soll er für deren Wohl sorgen. Aber manchmal gibt es Probleme, gerade mit diesen beiden Forderungen. Denn im Hintergrund steht – wir haben gerade etwas von Freiheit gehört – ein Freiheitsanspruch des modernen, individuell denkenden Menschen, den man „Autonomie“ nennt, also Selbstbestimmung. Die Autonomie des Patienten ist ein ganz wesentlicher Anspruch. Aber auch hier haben wir den Zusammenhang zwischen Sitte und Ethik.

      Wir werden noch viele Probleme, gerade im Hinblick auf die Medizinethik kennen lernen. Aber wichtig ist, dass wir bei diesem ersten Schritt in die Ethik verstehen, dass es ohne eine Menge sittlicher Wurzeln keine Ethik geben würde. Zur Sittlichkeit, zu den Sitten gehört nicht nur der „Tirolerhut“ und die Art zu grüßen. Wesentlich gehört der mitmenschliche Respekt dazu, den wir nicht erst in der Schule lernen können. Den wir überhaupt nur dann wirklich erweitern und vertiefen können, wenn wir rechtzeitig den Sinn, das Gespür für den anderen Menschen und auch natürlich für uns selbst entwickelt haben.

      Das gehört zur Sitte. Ohne diese sittliche Basis würden wir nicht einmal im Ansatz verstehen können, was ethische Begriffe wie zum Beispiel Freiheit und Gleichheit eigentlich bedeuten. Wir brauchen also eine sittliche Basis, einen Sinn, ein Gespür um diese wissenschaftlich geprägte Art des Nachdenkens über das, was wir sollen, über das, was wir uns und den anderen schuldig sind, entwickeln zu können. Ohne die Herkunft können wir das sicherlich nicht. Aber nicht alles, was in den Sitten, die wir mit der Muttermilch mitbekommen, ist im ethischen Sinne „gut“. Wir werden schwierige und ernste Beispiele dafür kennenlernen. Aber zunächst einmal müssen wir festhalten: Das ist das Grundverhältnis und aus diesem Grundverhältnis Sitte-Ethik entsteht das, was man im modernen Sinn die praktische Wissenschaft der Ethik nennen kann.

      Das Verhältnis zwischen Sitte und Ethik ist deswegen so wichtig, weil die Ethik für alle ihre Forderungen einen Hintergrund, eine Grundlage, eine Wurzel benötigt, die sie selbst gar nicht herstellen kann. Da werden Sie sich sagen: Das ist ja eine schöne Wissenschaft, wenn sie nicht einmal ihre eigenen Grundlagen selbst produzieren kann. Allerdings stellt keine Wissenschaft ihre Grundlagen selbst her. Die Physik produziert doch nicht „Welt“, in der sie nach physikalischen Gesetzen sucht. Und genau


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