Ethik. Wilhelm Vossenkuhl
passiert. Was für eine sittliche Tatsache ist das und ist sie anerkennenswert? Zunächst einmal ist das eine sittliche Tatsache, die in Frage gestellt werden muss, obwohl – und das zeigen Umfragen – eine große Mehrheit der Frauen in diesen Gesellschaften sich für die „Frauenbeschneidung“ aussprechen, weil sie eine wesentliche Bedingung für die soziale Integration der Frauen in die Gesellschaft ist. Es handelt sich um Stammesgesellschaften, in denen Regeln gelten, die aus einer menschenrechtlichen Perspektive nur zum Teil anerkennenswert sind.
Das ist das Stichwort: Wir haben es hier mit einem Beispiel zu tun, das zwar eine sittliche Tatsache ist, aber in einem scharfen Konflikt, ja Widerspruch mit anderen sittlichen Tatsachen steht. Und zwar sittlichen Tatsachen, die weltweit Anerkennung finden und verdienen – nämlich die Menschenrechte. Auch das sind sittliche Tatsachen.
Wie sieht dieser Konflikt aus? Warum ist es überhaupt ein Konflikt?
Nun, was passiert denn bei der „Frauenbeschneidung“? Sie ist eine Verletzung des unableitbaren sittlichen Anspruchs auf körperliche Unversehrtheit. Man nennt das mit dem Fremdwort „Integrität der Person“. Die Integrität der Person wird verletzt, körperlich und auch seelisch.
Es gibt Frauen, die darüber in Büchern berichten und man sieht, wenn man diese Bücher liest, sehr genau, was mit der „seelischen Verletzung“ gemeint ist. Ich brauche nicht ins Detail zu gehen. Sie werden sich das durch eigene Lektüre selbst verschaffen können.
Es geht um die Verletzung der Integrität, also die Verletzung eines grundlegenden Anspruchs der Menschen. Wir dürfen nicht zulassen, dass Menschen körperlich und seelisch verletzt werden. Und da es sich um Kinder handelt, wiegt diese Art von Verletzung sogar doppelt schwer, denn diese Kinder sind nicht „einwilligungsfähig“. Sie sind nicht in der Lage, sich selbst zu bestimmen und zu sagen: Ich will das, ich kenne die Risiken und so fort.
All das, was man zumindest intellektuell für diese menschenverachtende Praxis als entlastend anführen könnte, scheidet also aus. Es ist ein Verstoß gegen die Menschenrechte. An diesem Beispiel sieht man sehr deutlich, was passieren kann, wenn es sittliche Grundlagen gibt, sittliche Tatsachen, die gegen andere Tatsachen verstoßen. Da brauchen wir die Ethik. Denn die Ethik gibt uns das Instrumentarium an die Hand, zu entscheiden: Was ist nun eine schützenswerte, sittliche Tatsache? Welche Tatsache gilt es zu bewahren und welche nicht?
Trennung der Ethik von sittlichen Grundlagen
Es ist ein interessanter Prozess, der mit der Ablösung der Ethik von sittlichen Grundlagen zu tun hat. Die Ethik kann sich gegen bestimmte sittliche Grundlagen wenden. Indem sie zum Beispiel die Menschenrechte verteidigt. Indem sie den Anspruch der Menschenrechte gegen unmenschliche, in diesem Fall wirklich verwerfliche Praktiken vertritt.
Ich persönlich glaube, dass auch die „Todesstrafe“, die in vielen Gesellschaften ebenfalls eine sittliche Tatsache ist, weil diese Gesellschaften glauben, es sei richtig, dass, wenn jemand ein Leben genommen hat, ihm auch das seine genommen wird. Auch da kann man sich fragen, ob das nicht eine ethisch fragwürdige, sittliche Tatsache ist. Darf denn ein Straftäter nur deshalb auch getötet werden, weil er getötet hat?
Ich persönlich bin der Ansicht dass die Menschenwürde auch den Übeltäter schützt. Auch derjenige, der zurecht im Gefängnis sitzt, der verurteilt wurde, hat eine Würde, die gewahrt werden muss.
Ich glaube, dass selbst die Tötung dessen, der getötet hat, zumindest ethisch fragwürdig ist, weil der „Würdeanspruch“ dem „Tötungsverlangen“ der Justiz oder einer Gesellschaft entgegensteht.
Sie sehen, es gibt sittliche Tatsachen, die ethisch umstritten sind, obwohl diese sittlichen Tatsachen unabgeleitet sind, obwohl sie zum Teil große Anerkennung finden. Dennoch ist die Ethik aufgerufen, sich gegen diese sittlichen Tatsachen auszusprechen.
Natürlich wird das unmittelbar nichts bewirken. Es wird also etwa keine Änderung der Rechtsverhältnisse in diesen Gesellschaften geben, aber es gibt ein Bewusstsein, das sogar weltweiten Charakter annehmen kann, wie am Beispiel der Frauenbeschneidung. Da hat dieses Bewusstsein schon weltweite Verbreitung gefunden. Ein weltweites Bewusstsein, das darin besteht, diese Praxis als unmenschlich und nicht bewahrenswert zu verurteilen.
Die Ethik kann auch dazu beitragen, dass solche Grundlagen oder sittlichen Tatsachen, die nicht zurechtfertigen sind, weil ihre Konsequenzen schlecht sind – nicht weil sie unabgeleitet sind, sondern weil die Konsequenzen schlecht sind – in Frage gestellt werden. Die Ethik hat in diesem Sinne auch eine Aufklärungspflicht, eine Kritikpflicht; die sie in diesem Fall unbedingt wahrnehmen sollte.
Ethik – eine „Konfliktwissenschaft“
Ethik ist eine „Konfliktwissenschaft“. Das wird ihnen wahrscheinlich schon an den Beispielen, die ich soeben vorgeführt habe, klar geworden sein. Aber Konfliktwissenschaft heißt mehr, als nur da und dort einmal einen Konflikt lösen. Das beginnt eigentlich schon an dem Punkt, wo sich die Ethik von der Sitte löst, von ihr entfernt, oder vielleicht sogar gegen sie stellt. Denn immer, wenn Ethik benötigt wird, geht es um Konflikte. Ganz einfache Konflikte. Was soll ich jetzt eigentlich machen? Soll ich dies machen oder jenes – oder soll ich überhaupt nichts machen? Ganz simple Fragen sind immer irgendwie konfliktbeladen.
Die Frage „Was soll ich tun?“ ist im ethischen Sinne eben doch nicht so leicht zu beantworten. Genau deshalb brauchen wir die Ethik, sonst hätten wir ja genug mit der Sitte. Sonst wüssten wir ja eigentlich immer Bescheid. Aber das tun wir eben nicht.
Warum nun „Konfliktwissenschaft“? Lange dachten die Philosophen, die sich mit Ethik beschäftigten, dass es in der Ethik eigentlich fast ausschließlich darum gehe, zu klären, was wir Menschen „sollen“. Also: Was ist „gutes Handeln“? Was ist der „gute Wille“? Was sollen wir tun? Was sollen wir lassen? Was dürfen wir? Und man meinte, wenn man diese Fragen abstrakt einigermaßen geklärt hat, dann ist die Aufgabe der Ethik erfüllt.
Das ist aber nicht einmal die Hälfte der Aufgabe, die sie hat. Vielleicht ist das noch untertrieben. Es geht nicht um diese doch eher abstrakten, theoretischen Fragen, sondern es geht um konkrete Probleme. Die Ethik lebt aus konkreten Problemen und das interessante oder auch problematische ist, dass die Probleme vom Leben erzeugt werden. Welches Leben meine ich? Nun, das Leben in dem wir alle irgendwie stehen. Ein Leben, in dem es z. B. Wissenschaft gibt.
Gleiche ethische Ansprüche für alle
Vor der Entwicklung der Transplantations-Medizin gab es natürlich kein ethisches Problem, das man als „Verteilung von Spenderorganen“ bezeichnen könnte – es war ja gar nicht möglich, zu transplantieren. Irgendwann in der Mitte der 60iger Jahre hat ein südafrikanischer Chirurg namens Christiaan Barnard damit angefangen.
Die erste Herztransplantation war ein ziemlicher Fehlschlag. Die nächste, einige Zeit später, war schon besser, vielversprechender. Man hat also Techniken entwickelt, man hat damals überhaupt angefangen zu verstehen, was Abstoßreaktionen – Immunreaktionen – sind und wie man sie unterdrücken kann. Denn das ist ganz wichtig, wenn man Organe transplantieren will. Aber wir wollen uns jetzt nicht in die Belange der Medizin einmischen…
Durch die Fähigkeit der Medizin, Organe zu transplantieren, trat plötzlich das Problem auf, wer sie denn nun bekommen soll. Es gibt Länder, Gesellschaften, in denen es zum
Beispiel genügend Spendernieren gibt für diejenigen, die dringend eine Niere brauchen. Eines dieser Länder kennen Sie alle. Es ist Österreich. Oder ein anderes ist Spanien. In diesen Ländern gibt es erstaunlicherweise genügend Organe. Vor allem Nieren, aber auch Herzen usw.
Warum? Nun, weil es dort eine Voraussetzung für die „Gewinnung“ – das Wort ist nicht so ganz passend, aber erlauben sie es mir – der Organe gibt,