Ethik. Wilhelm Vossenkuhl
als Spender betrachtet. Wir haben hier also zwei verschiedene Verfahren, wie Spenderorgane gewonnen werden können.
Ethik als „Konfliktwissenschaft“ tritt dort auf den Plan, wo es darum geht, wie bei knappen Gütern, etwa bei knappen Organen und einer größeren Nachfrage als vorhandenen Spenderorganen, die Zuteilung gerecht vollzogen werden kann. Der ethische Anspruch ist eine gerechte Verteilung. Wie ist das möglich?
Man hat eine Praxis entwickelt, die relativ unumstritten ist, aber nicht in jeder Einzelheit ethisch durchleuchtet werden kann, weil es viele Fragezeigen gibt. Um die geht es aber nun im Einzelnen gar nicht, aber einige möchte ich doch nennen: Wir haben eine Praxis, wo wir zwei verschiedene Zuteilungsprinzipien mischen. Das eine Prinzip besteht darin, dass wir sagen: Wer zuerst kommt, malt zuerst. Diejenigen, die sich auf einer Liste, der sogenannten „Warteliste“ eintragen, nachdem Ärzte festgestellt haben, dass sie dringend eine Niere brauchen, stehen auf dieser Liste und rücken so langsam nach. Ich muss vielleicht noch vorausschicken, dass in der Bundesrepublik pro Jahr etwa zwischen 800 und 900 Menschen sterben müssen, weil sie keine Spenderniere bekommen –abgesehen von anderen Organen, die dringend benötigt werden, Herzen, Lungen etc. „Knappheit“ ist ein abstraktes Wort für das, was da wirklich passiert: Menschen sterben. Wir haben also die Warteliste. Und dann haben wir auch noch ein ganz anderes Prinzip, das die Zuteilung gerecht regelt, nämlich die Dringlichkeit. Dringlichkeit und Warteliste – das sind zwei Zuteilungsprinzipien, die sich wie Feuer und Wasser vertragen.
Es genügt, wenn ich Ihnen ohne die technischen Details beschreibe, was ich da mit Feuer und Wasser meine: Dringlichkeit sticht immer. Wenn ein Patient ganz schwer erkrankt ist und ganz dringend eine neue Niere braucht, dann wird die Warteliste zurückgestellt. Diese Person bekommt das eine, verfügbare Organ. Aber ethisch gesehen muss man sich überlegen: Ist das denn gerecht? Was passiert eigentlich mit den Ansprüchen der anderen? Es kann ja sein, dass die Person, die ganz an der Spitze der Warteliste steht, vielleicht genau dadurch gefährdet ist. Aber das ist vielleicht nicht das primäre Problem, sondern das primäre Problem ist, dass alle Personen, die ein Organ benötigen, den gleichen ethischen Anspruch haben.
Natürlich sind die medizinischen Tatsachen nicht immer leicht mit dieser Gleichheit der Ansprüche in Übereinstimmung zu bringen. Aber wir müssen, wenn wir Ethik als „Konfliktwissenschaft“ betreiben, erst einmal überlegen: Was sind denn die Grundlagen der Ansprüche, um die es geht? Hier ist die entscheidende Grundlage, dass alle den gleichen Anspruch haben. Alle, die dringend ein Organ benötigen.
Sie sehen, es gibt dadurch Probleme, dass es medizinische Möglichkeiten gibt, Menschen zu helfen. Es will einem nicht so leicht in den Kopf, dass gerade die Möglichkeiten, die in der Medizin entwickelt werden, Menschen zu helfen, also ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, immer wieder auch Probleme erzeugen. Die gerechte Verteilung von Spenderorganen ist eines dieser Probleme. Es gibt viele andere. Man könnte jetzt beliebig tief in diese Problematik von Organspenden eintreten.
Es gibt nicht nur Organspenden, die von Toten für Lebendige gemacht werden, sondern auch von Lebenden für Lebende.
Nieren können zum Beispiel von Lebenden an Lebende übertragen werden. Es gibt also eine ganze Vielfalt von Möglichkeiten, Menschen, die eine Niere benötigen, zu helfen. Aber die ethischen Probleme sind ebenso vielfältig. Es ist nicht immer das gleiche Problem. Die „Lebendspende“ enthält eine ganze Reihe anderer Probleme als die sogenannte „post mortem“, also die Spende, die erst nach dem Tod des Spenders möglich ist. Welche?
Zunächst einmal sollen ja alle Spenden ohne ein wirtschaftliches Interesse angeboten werden. Das ist bei Patienten, die verstorben, verunfallt sind, kein Problem. Aber bei der Lebendspende ist es ein Problem. Es kann ja sein, dass jemand sein Organ verkaufen will oder dass jemand einen Vorteil erhält oder versprochen bekommen hat, wenn er ein Organ spendet.
Instrumentalisierungsverbot
Sie sehen: Hier kommt nun plötzlich etwas ganz Neues herein. Wir haben ein Gesetz in der Bundesrepublik Deutschland, das die Organspende unter der Bedingung, dass Organhandel betrieben wird, verbietet. Es darf auch nicht mit den Organen von toten oder gestorbenen Spendern Handel getrieben werden, vor allem aber auch nicht mit Lebendspendern. Man will verhindern – und das ist wiederum ein ethisches Interesse, ein sehr grundlegendes ethisches Interesse – dass die Not von Menschen zugunsten der Interessen anderer instrumentalisiert wird.
Natürlich gibt es diese Instrumentalisierung in Drittweltländern, das können wir von hier aus gar nicht verhindern, geschweige denn kontrollieren. Aber es gibt Menschen, die so in Not sind, dass sie für einen für ihr eigenes Leben sehr
hohen Betrag eine Niere spenden, um aus ihrer sozialen Not herauszukommen. Das schließt unser deutsches Gesetz aus. Wir wollen also verhindern, dass diese Menschen instrumentalisiert werden.
Sie werden sich fragen: Warum? Auch hier haben Sie wieder ein ethisches Argument im Hintergrund. Das ethische Argument leitet sich direkt aus der Menschenwürde ab. Die Menschenwürde enthält nämlich als einen Kernanspruch das „Verbot der Instrumentalisierung“ von Menschen durch Menschen. Menschen sollen andere nicht einfach nur als Mittel für den eigenen Zweck benutzen. Das gilt natürlich für viele Zusammenhänge. Die Organspende ist nur gerade mal ein Bereich.
Es gilt genauso in jedem Arbeitsverhältnis. Menschen dürfen andere auch in Arbeitsverhältnissen nicht einfach ausnutzen. Das Instrumentalisierungsverbot ist also sehr vielschichtig. Wir sprechen hier von „universalen Forderungen“, die in der Ethik eine ganz wesentliche Bedeutung haben. Universal deswegen, weil sie für alle Menschen in allen vergleichbaren Situationen gleich gelten. Diese Forderungen sind aber – wie wir eben gesehen haben – mit lokalen situativen Problemstellungen verbunden, für die wir jeweils auf der universalen Basis nach einer Lösung suchen müssen. Und solange wir es mit den Problemen, die ich geschildert habe, zu tun haben, kann die Ethik das auch schaffen.
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