Verletzte Gefühle. Alissa Ganijewa
haben wahrscheinlich auch ihren Leichenwagen, das würd’ mich nicht wundern«, grinste Nikolaj. Es erheiterte ihn auf einmal, dass er ohne jeden Hintergedanken, einfach so unversehens den Passagier am Haken hatte. »Und warum haben Sie nicht ›Uber‹ genommen?«
»Uber … Uber … damit die nachverfolgen können, wohin und woher? Nein, mir reicht es.«
»Wer ist denn hinter Ihnen her?«
Der Mitfahrer jedoch zog sich wieder in sich zurück und schwieg.
»Ein jeder hat seine Ängste«, sinnierte Nikolaj laut vor sich hin. »Manche haben Angst, das Telefon zu Hause zu vergessen. Meine Tochter ist so eine. Das hat sogar eine eigene Bezeichnung. Ich hab’s vergessen. Irgend so eine Phobie. Es gibt Angst vor Mikroben. Vorm Altern. Vor Maulwürfen, Flugzeugen, Gold, Blindheit. Angst davor, an Krebs zu erkranken, in Scheiße zu treten. Zu heiraten. Sich zu verlieben. Leute anzufurzen. Vor einer Menge im Rampenlicht zu stehen. Vor Ärzten, der Schwiegermutter, dem eigenen Spiegelbild. Vor Läusesucht, Strahlung, AIDS, Terroristen. Einzuschlafen und nicht wieder aufzuwachen, ein Haar im Abendessen zu finden. Vor Clowns, Computern, Zugluft. Mundgeruch. Leeren Räumen. Tunnels, Höhe, Wasser, Geld, Medikamenten. Bösen Geistern …«
»Was arbeiten Sie?«, unterbrach ihn der Passagier unvermittelt.
»Ich? In einer Baufirma. Und Sie?«
»In einer Baufirma?« Der Mann wurde lebhafter. »In welcher?«
»Sie etwa auch?« Nikolaj richtete von Neuem den Rückspiegel ein, um irgendwie das Gesicht des Gesprächspartners zu sehen zu bekommen.
Doch anstatt zu antworten starrte der Mann nur ins feuchte Dunkel.
»Wo sind wir da?«
»So wie Sie gebeten haben. Wir fahren jetzt außen herum, und dann ins Zentrum.«
Der Mann beruhigte sich anscheinend. Er wandte sich vom Fenster ab und sagte im Vertrauen: »Das mit den Ängsten … in letzter Zeit habe ich auch Angst vorm Telefon. Augen, überall Augen, verstehen Sie?«
Nikolaj schien verstanden zu haben. Getrübtes Urteilsvermögen. Verfolgungswahn. Wie heißt das noch mal, paranoide Schizophrenie. Schrittweise hat sie sich in die Stadt geschlichen und offenbar jeden Einzelnen in ihren Würgegriff genommen. Bekannte von Nikolaj setzten sich während Gesprächen immer öfter auf ihre Telefone, ließen sie unter ihren warmen Hinterbacken verschwinden, verklebten das Video-Auge der Notebooks mit Isolierband, bewegten sich auf Zehenspitzen im Netz, nur anonymisiert …
In Nikolajs Kopf tauchten kuriose alte Plakate auf. »Schwätze nicht am Telefon, den Schwätzer findet der Spion«. »Der Feind ist bös und schlau – mit beiden Augen schau« … Die Schwiegermutter kam ganz aufgeregt aus dem Krankenhaus. Es stellte sich heraus, dass die Urin- und Stuhlproben der Patienten in ein kommerzielles Labor geschickt wurden. Und von dort angeblich direkt an ausländische Agenten für irgendeine ungeheuerliche Sabotage. Welche genau, konnte niemand vernünftig erklären, doch das Labor wurde schon von Leuten aus den Diensten durchsucht. Die ganze Aufregung wegen einer einzigen zufälligen Mitteilung »an die Stellen«. Ein achtsamer Bürger. »Achtsamkeit ist des Feindes Leid« …
Nikolaj rief sich noch einmal das Bild der wie ein aufgeregtes Huhn gestikulierenden Schwiegermutter in den Kopf … Gut, er hat noch weit bis zur Pension. Eine fatale Sache. Grütze und Schwarzbrot. Er erinnerte sich an einen Witz, den er gestern von Stefan, einem Arbeitskollegen beim Generalunternehmer, gehört hat:
»Auskunft – was wollen Sie?« – »Hallo, Enkelchen, gib mir das Nümmerchen vom Telefon, wo sie, na, die Pension auszahlen.« – »Entschuldigen Sie, wir vermitteln keine Auslandsgespräche …«
Nikolaj wieherte vor Lachen, Beljaewa, die mürrische Schachtel, schielte missbilligend auf sie: Worauf, möchte ich wissen, spielt ihr da an.
Übrigens, mit der Arbeit hatte Nikolaj Glück, über einen Freund ist er hineingekommen. Beschaffungsabteilung, Großaufträge von der Stadt und der Regionalregierung. Unlängst wurde die Eishalle für das Sportfest übergeben. Blitzlichter, rote Bänder, Festtagsreden. Dann wurden die Wände feucht, die Fugen waren schlecht abgedichtet. Alles wurde auf den Sub-Unternehmer geschoben … »Man hätte es so wie die Chinesen machen sollen«, scherzte Stepan. »Als sie ihre Mauer bauten, haben sie gekochten Reis zum Zement getan.«
Reis mochte Nikolaj nicht, und ein Teil der für die Halle bestimmten Metalldachfliesen soll auf dem neuen Dach der Landvilla der Chefin entdeckt worden sein. Marina Semjonowa ist die Generaldirektorin. Junges Blut, gepflegteste Hände. Nikolaj hat sie erst einmal von Angesicht zu Angesicht gesehen, beim Silvesterbesäufnis. Dafür hing ihr Ölportrait im Empfangszimmer. Eine Arbeit des jungen Künstlers Ernest Pogodin. Zobelpelz, herausfordernder Blinzelblick. Leichtes Sfumato, lasuriert. Schwerer Goldrahmen. Stammkunden erhalten Rabatt.
Das Auto holperte voran, die dunkle Straße war mit Schlaglöchern übersät, die Räder durchfurchten schmatzend die Pfützen. Nikolaj fluchte. Der Asphalt war erst im Vorjahr erneuert worden – während Schneefalls und kunterbunt mit Dreck vermischt, nur damit es zum Stichtag fertig wurde. Und jetzt, bitte, nichts als Schlick und Gräben.
»Haben wir’s?«, keuchte der Passagier auf.
»Sie haben mich ja hierher gejagt, was grummeln Sie jetzt daher. Gleich steigen wir aus«, schnappte Nikolaj über die Schulter zurück.
Der Regen wurde heftiger, es prasselte hernieder und klatschte unverfroren auf das Wagenäußere, wie eine Männerhand auf einen Frauenschenkel. Die Scheibenwischer flogen tachykardisch rasend hin und her. An den Straßenseiten waren schon keine hölzernen Wohnbaracken mehr zu sehen, bloß noch eine Betonabzäunung. PO-2-Zaunelemente mit hervorspringenden Rhomben. Die Aufschriften waren in der hereinbrechenden Dunkelheit nicht zu erkennen, aber die paar größten hielten sich jahrelang, Nikolaj hatte sie sich gemerkt. Eine weit ausladender Anschlag »Tamada[1] und Akkordeonist« samt Telefonnummer, ein schiefes, halb verblichenes »Russland für die Traurigen!«
»Jetzt noch um die Ecke und wir drehen um. Wie geht es Ihnen?«, rief Nikolaj dem auf dem Rücksitz hin und her sackenden Passagier zu, doch der war anscheinend eingenickt und keuchte nur etwas Unverständliches.
»Das hat noch gefehlt, dass ihm womöglich schlecht wird«, dachte Nikolaj. Die Fahrbahn bot nun keinerlei Halt mehr, das Auto heulte auf, die Räder verwirbelten die Pfütze zu schmutzigem Schaum.
»Wir kommen nicht vom Fleck!«, schrie Nikolaj und stieg bis zum Anschlag auf das Gaspedal. Wieder und wieder. Der Reifen kratzte am abgebrochenen Rand des Asphalts, das schwere Vordergestell hob sich, der Wagen erzitterte mit Geheul, um schließlich kraftlos wieder zurück ins Schlammwasser zu rutschen. Es fehlte bloß ein Quäntchen mehr Antrieb. Wenn doch der Passagier für einen Augenblick ausstiege …
Nikolaj drehte sich um. Der Mann lag halb da, an die Seitentür gedrückt, und war, so schien es, gänzlich weggetreten.
»He, Alter«, rief Nikolaj, »wir sind steckengeblieben! Aussteigen!«
Schweigen. Keine Reaktion.
»Schei…benkleister«, stieß Nikolaj verärgert hervor, schlug den Mantelkragen hoch und stieg vorsichtig hinaus in das rauschende, nasse Etwas.
Er stand sofort bis zum Knie im kalten Wasser und fluchte noch lauter. Vorsichtig begann er, das abgesunkene Heck anzuheben, wobei er jeden erdenklichen Halt zu finden versuchte. »Dieser Ganter dort hinten ist ja schon ganz gaga, der schiebt mich nicht hinaus. Nun gut, allein schaffe ich es nicht, jemand wird schon anhalten und helfen«, dachte Nikolaj, den es am ganzen Leib fröstelte. Die Straße war allerdings schon vollkommen menschenleer, nur ein Ungetüm von LKW dröhnte vorbei, noch von der Ferne umgab es ihn mit grauen Schwaden.
Nachdem sich Nikolaj zur Hintertür durchgearbeitet hatte, klopfte er einige Male an die Scheibe, doch sein Mitfahrer rührte sich kein bisschen. Seine Nase war an die Scheibe gedrückt, eine weiß schimmernde, unförmige Knolle.
»Na komm«, knurrte Nikolaj, riss an der Türschnalle und öffnete die Tür auf Anschlag.
Da