Verletzte Gefühle. Alissa Ganijewa

Verletzte Gefühle - Alissa Ganijewa


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Ledersack, aber nur für Kranke und Zahnlose.

      Nikolaj biss sich auf seine wulstige Lippe. Da, der nämliche Zaun mit den Rhomben. Plakatfetzen. Eines mit dem Foto einer Gemeinderätin »Bei den Frauen ist alles Herz, auch der Kopf«; ein großer Anschlag »Verkaufe Schweinefleisch«, aber sonderbarerweise mit einem Bild von Winnie Puuh. Wieder dachte er an die Schweinsrippen. Dem Guten tut man Gutes schlicht, dem Schlechten man die Rippen bricht. Schließlich gelangte er an jene Stelle, an der er gestern seinen Passagier zurückgelassen hatte. Dort machten sich einige Leute in zivil und unbestimmten Aussehens konzentriert zu schaffen, einer hatte wohl ein Maßband oder etwas Ähnliches dabei. Wer waren die Leute? Kriminalbeamte? Daneben, beim Graben, waren Autos geparkt – kein Blaulicht, keine Aufschriften. Nur nicht langsamer werden …

      Plötzlich schien es Nikolaj, als ob einer der Männer geradewegs zu ihm blickte. Rasch wandte er seinen Blick ab und schaute starr nach vorne, auf die Straße. Er erinnerte sich daran, dass man zum Stressabbau abwechselnd mit der Brust und dem Bauch atmen sollte. Aber nur der Bauch tat mit. Er blähte sich und sank wieder ein. Nikolaj wog neunundachtzig Kilo, er sollte abnehmen. »Im Gefängnis wirst du schon abnehmen«, grinste eine innere Stimme. Und wieder drehten sich die Rädchen zufälliger Assoziationen. Elvis Presley schlief einige Tage hintereinander, nur um nicht zu essen … Ljamzin war auch füllig. Jetzt schläft er, schläft den ewigen Schlaf. Ein achtjähriger Bub aus einem exotischen Land, der ein Mädchen mit einem Stein erschlagen hatte, erklärte, dass er sie schlafen legte. Die müden Spielsachen schlafen, die Bücher schlafen, wie es in dem Kinderlied heißt …

      Nikolaj spürte, wie seine Augen feucht wurden. Würde er gar weinen? Tränen von verheirateten Frauen vermischt mit Rosenwasser ergeben eine Heiltinktur. Balsam auf Wunden … Stepan hat sich einmal mit einem scharfkantigen Blatt Papier das Auge verletzt, er musste zum Schutz der Hornhaut eine Linse tragen. Sollte er Stepan alles erzählen? Nein, der würde es nicht verstehen und es nur ausplaudern.

      Er fuhr weiter durch die Gegend, hatte vergessen, dass er hungrig war und dass er eigentlich in die Firma zurück sollte. Wenn Angst tatsächlich zu riechen ist, spüren dann die Leute, dass er Angst hat? Wäre es nicht besser, sich zu stellen? Einfach zu erzählen, wie alles kam? Er hat Ljamzin doch nicht umgebracht, sondern nur im Auto mitgeführt.

      Das Telefon vibrierte. Nikolaj hob ab. Seine Frau schnatterte: »Koljuschka, so ein Saustall! Man hat versprochen, dass es in der Früh wieder Strom gibt, und was ist passiert? Nichts! Und Wasser gibt es auch keines! Stell’ dir das vor, Kolja, Kolja, hörst du mich?«

      »Ich höre dich«, gab Nikolaj matt zur Antwort.

      »Du kannst doch was unternehmen? Ich habe bei der Hausverwaltung angerufen, dort kriegst du nur eine freche Antwort. Die halbe Stadt sei ja ohne Strom, wegen des Regens. Wer hat sie denn geheißen, groß etwas vorzuflunkern und zu versprechen, dass bis Mittag alles wieder in Ordnung sein wird. Die Aufräum- und Reparaturarbeiten abgeschlossen. Zu Mittag! Und schau, wie spät es jetzt ist!«

      »So ist es nun einmal, mein Sonnenschein, die halbe Stadt ist ohne Strom«, versuchte Nikolaj sie zu beruhigen, aber seine Stimme klang abwesend.

      »Wo bist du eigentlich?«, fuhr die Frau hoch.

      »Ich fahre zum Mittagessen. Eine Kleinigkeit. Hast du gehört, dass man einen Minister tot aufgefunden hat?«

      »Den Ljamzin? Natürlich! Was sagt man denn bei euch in der Firma? Weiß eure Chefin, was da wirklich passiert ist? Eure Fiffi, die Semjonowa?«

      »Was hat die damit zu tun?«

      »Er hat sie ja angeblich ausgehalten. Du hast es mir doch selbst gesagt.«

      »Ich? Das hatte ich schon vergessen …«, murmelte Nikolaj schwach.

      »Komm, seine Frau hat ihn ums Eck gebracht. Aus Rache. Sie hatte es wahrscheinlich satt, dauernd betrogen zu werden. Hat ihn erdrosselt und am Schlafittchen zum Zaun bugsiert«, vermutete Nikolajs Frau, halb im Spaß und halb im Ernst. »Vergiss am Abend nicht einzukaufen, ich habe dir die Liste gegeben.«

      »Fleisch am Knochen?«

      »Unbedingt! Und dreimal Perlgraupen. Die sind jetzt in Aktion. Zwanzig Prozent billiger. Koljuschka, bitte nicht vergessen!«

      Nikolaj nickte, als könnte die Frau ihn sehen. Er verabschiedete sich, nun schon mit fester Stimme. Er verstand plötzlich, dass er sich unweigerlich stellen müsse. Sofort, augenblicklich, auch ohne gegessen zu haben, damit seine Entschlossenheit nicht schwinde. Er beschleunigte auf ein höheres Tempo, wie in Entsprechung zu seiner Stimmung. Die feuchtnassen Straßen mit ihren Passanten flogen vorüber. Er fuhr vorbei an sich gegenseitig missmutig etwas zurufenden Elektromonteuren mit ihren orangen Helmen, an vom Regen abgerissenen Leitungen, und an Schuhputzläden, die von Armeniern oder Assyrern betrieben wurden. Dann weiter vorbei an einer ganzen Reihe von Wohnhäusern aus der Stalinzeit mit ihren verrotteten Balkonen, am mit Plakaten vollgehängten Kino »Morgenröte« mit seinem neuen, aber schon nicht mehr funktionierenden Außenbildschirm, und schließlich an der Sportanlage für Kinder, welche die neunziger Jahre überlebt haben und wo man ihm einmal die Nase gebrochen hat. Rhinokyphose, sagte man. Das wird ein effektvolles Häftlingsbild abgeben. Nasenhöcker, römisches Profil. Fahndungsfoto.

      Und wenn auch. Besser, jetzt alles auf den Tisch zu legen, als später dann, wenn die große Aufregung herrschen wird. Und ein Anwalt muss her. Sorge um seine Tochter hat sich eingenistet, wie ein Hamster in seinem Bau. Sie wird außer sich sein, sich für den Vater schämen, was werden die Kolleginnen sagen … Wäre es nicht besser, es zunächst mit der Familie zu besprechen? Nein, die Frau würde einen Heulkrampf bekommen. Sie bat, Perlgraupen zu kaufen …

      Nikolaj spürte auf der Zunge deutlich den Geschmack von Rassolnik[2] mit Perlgraupen auf Basis von Rindsbouillon. Und dann noch Sauerrahm dazu …

      Der Wagen erhielt einen starken Schlag, und in seinem eisernen Unterbauch brach unter Ächzen die Vorderachse. Er war mit einem Rad in ein tiefes Loch geraten.

      »Ach du heiliger Bimbam!«, zischte Nikolaj, während er weiter unvermittelt aufs Gas stieg. Das Auto steckte jedoch in der Grube, und der Motor heulte und rauchte bloß. Nikolaj sah, wie einer der neugierigen Passanten ihm zu Hilfe eilte, aber in diesem Moment ertönte ein ohrenbetäubendes Gehupe und von links nahte etwas Riesiges und Unabwendbares und krachte donnernd in sein Auto. Die Zeit dehnte sich und verfloss tropfenweise, langsam und unerbittlich. »Ein Kamaz![3]«, wurde es Nikolaj noch klar. »Das darf doch nicht sein!« Doch schon platzte und schnalzte etwas in seinen Ohren, und Nikolaj war zermalmt.

      3

      Kapustin atmete heftig, schob ihr den Rock hoch und fuhr mit seinen dicken Fingern ungeschickt am spitzenbesetzten Strumpfgürtel herum. Marina Semjonowa dachte schwermütig daran, wie diese widerliche Hand nun hinaufrutschen würde, sie sich entwinden und Kapustin auf die Schultern schlagen muss, und der sich dann noch drängender an sie drücken, wütend werden und alles schließlich mit einem Streit enden würde. Und Streit mit dem Oberstaatsanwalt des Gebiets brauchte sie wahrlich nicht.

      »Wie bist du so widerspenstig«, zischte Kapustin in das sich rötende Ohr Semjonowas, fasste sie an ihren dichten Haaren am Hinterkopf und drängte mit seiner fleischigen Zunge zwischen Marinas erschrocken zusammengepresste Lippen.

      »Warum auch nicht?«, dachte sich Semjonowa einen Augenblick lang, doch die Zunge des Staatsanwalts war derart unangenehm, kalt und dick, und es tat so weh, wie er an den Haaren am Hinterkopf nach unten zerrte, sodass sie unterdrückt stöhnte und auf einmal den Vergewaltiger mit unerwartet rasender Wut von sich stieß.

      »So, also«, murmelte Kapustin beleidigt, nachdem er die Beute losgelassen und wie ein Elefant nach dem Baden geschnauft hatte, »Andrej Iwanowitsch durfte, und ich darf nicht.«

      »Ich habe ihn geliebt«, antwortete Marina Semjonowa aus irgendeinem Grund, und begriff sofort, wie dumm das klang.

      Kapustin wurde fröhlicher und grinste schlau: »Wie auch nicht, Marina Anatoljewna. Der Verstorbene hat Ihnen Ihr ganzes Business auf dem goldenen Tablett serviert. Sie lebten wie eine Made im Speck … wenn der Vergleich erlaubt ist.«


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