Verletzte Gefühle. Alissa Ganijewa

Verletzte Gefühle - Alissa Ganijewa


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seine Arme waren unter dem Gewicht des Rumpfes unnatürlich verdreht. Die kurzen Beine in feinsten Lackstiefeletten verschwanden im schwarzen Wasser. Der Mann bewegte sich nicht.

      »Hören Sie!«, schrie Nikolaj, nervös schluckend, mit einer ihm fremden kreischenden Stimme. »Machen Sie da irgendwelche Spielchen?«

      Er hockte sich nieder und schüttelte den Mann an den Schultern. Sein Körper war völlig reglos, und von der Stirn floss Blut in einem dünnen Rinnsal, das alsbald vom Regen weggewaschen wurde. Ein Auge starrte leblos auf den Tanz der Regentropfen auf der Straße, das andere war zum Boden gedrückt. Unter leisem Zähneklappern legte Nikolaj seine Fingerkuppen auf den Kehlkopf des Mannes und tastete seitwärts bis zur weichen Vertiefung am Hals. Er hielt inne, wartete. Kein Puls zu spüren. Da durchfuhr es ihn: am Handy muss eine Taschenlampe sein; das Wichtigste jetzt ist, keinerlei Aufmerksamkeit zu erregen. Im Übrigen waren ohnehin keine Autos auf der Straße. Kein Arbeitstag, kaum bewohntes Gebiet. Keine Beleuchtung, keine Menschenseele.

      Er schaltete die Taschenlampe ein und richtete den Lichtstrahl auf das eine Auge. Die Pupille reagierte nicht. Über Nikolajs Brust rannen Schweißtropfen, obwohl ihm die Kälte durch und durch ging. Es musste etwas getan werden. Die Polizei anrufen? Da wird man ihm sofort einen Mord anhängen. Nein, kommt nicht in Frage. Die Jacke des Mannes durchstöbern, nach Ausweis, Telefon? In der Geldtasche des Toten müssen ja Kreditkarten sein … nein, geht nicht, das hinterlässt Fingerabdrücke.

      Die Flucht ergreifen, es blieb nichts anderes übrig! Nikolaj packte den Mann am Kragen seiner Lederjacke und zog ihn auf das, was ein Gehsteig sein sollte, geradewegs zum Zaun. Die nasse Jacke war ganz glitschig, fast wie flüssiger Teer, und rutschte aus den vor Anspannung verkrampften Fingern, das Herz pochte dumpf in seinem knöchernen Käfig. »Schneller, schneller«, hämmerte sich Nikolaj ein. Nachdem er den Leichnam weggeschleppt hatte, klopfte er die Taschen seines Mantels ab – alles da, nichts verloren in der Pfütze. Er lief zur Fahrertür. Sprang hinein, versperrte von innen, legte die Hände aufs Lenkrad, atmete durch und fuhr los.

      Es kam ihm in den Sinn, dass die Geldscheine, die der Tote ins Wageninnere geworfen hatte, jetzt unter seinem Sitz, unter dem tropfnassen Mantel, aufgeweicht sein müssen. »Warum nur hab ich diese seltsame Figur einsteigen lassen!«, ging es ihm wie eine Leier durch den Kopf. Er fuhr auf eine beleuchtete Straße und dann immer weiter durch den strömenden Regen, er wusste selbst nicht, wohin. Der im Regen wankende Unglücksvogel hatte sich in seinem Gedächtnis festgekrallt. Nun liegt sein Leichnam beim Betonzaun, mit dem Gesicht nach unten, die Nasenlöcher im Dreck. Der hat schon beim Petrus angeklopft … Hätte er zuvor zufällig noch gelebt, so wäre er jetzt sicher erstickt. Das Genick angehoben, der nasse Kragen der Jacke zerknautscht. Nikolaj musste daran denken, dass sich auch Tote noch bewegen können. Elektrochemie. Muskelkontraktionen. Spasmen der Gliedmaßen, Zusammenkrampfen der Finger. Scheinbare Kopfbewegungen infolge inneren Gasdrucks. Ein plötzlicher Stöhnlaut der von Luft umspielten Stimmbänder … Vielleicht machte auch der jetzt einen Katzenbuckel oder bog sich zu einem Rad.

      Im Handschuhfach klingelte das Telefon, langsamer Glockenton. Seine Frau suchte ihn. Nikolaj sollte schon längst zu Hause sein von seinem ehemaligen Institutskollegen. Der hatte ihn eingeladen in sein Häuschen, wie es sie viele gibt in der Stadt. Er wollte auf Freundschaftsbasis zum Großhandelspreis eine Spanndecke fürs Wohnzimmer bestellen.

      Motorsäge »Freundschaft« – erinnerte sich Nikolaj auf einmal und erschrak darüber, dass er an so einen haarsträubenden Unsinn dachte, doch dieser Unsinn klebte in seinem Gedächtnis fest. »Freundschaft«. Einzylinder-Verbrennungsmotor. Vier PS. Die Bezeichnung steht zu Ehren des dreihundertsten Jahrestages – 1954 – der Vereinigung der Ukraine mit Russland. Das Hetmanat und das russische Zarenreich. Das Vierundfünfzigerjahr also. Das heißt, sechs Jahrzehnte später … Zuerst die Herstellung der Freundschaft, dann die Herstellung der historischen Gerechtigkeit, dann … die Herstellung feuchten Gipskartons … »Zum Teufel, was geht mir da im Kopf herum?«, stöhnte er laut.

      Das Telefon läutete wieder und wieder. Nein, Nikolaj konnte jetzt mit niemandem sprechen … »Mit welchem Glockenton beginnt die Melodie?«, fragte er sich plötzlich besorgt. »Mit dem Ton der kleinen oder der großen Glocke? Wenn mit dem der Kleinen, dann ist es die Trauerstimmung. So ist es wohl – oder nicht?« Nikolaj spitzte die Ohren, als hinge von der Abfolge der Glockentöne seine Zukunft ab. Doch die Melodie brach unvermittelt ab.

      Er umrundete zum x-ten Mal das desolate Gebäude des ehemaligen Pionierpalastes und begriff, dass er um ein und dasselbe Viertel kreiste, über die immer selben Kreuzungen. Was, wenn ihn die Straßenkameras fixiert hatten? Obwohl, wegen der Regenfluten sind die wahrscheinlich nicht funktionstüchtig. Nikolaj hielt bei der nächsten Abzweigung an, stellte den Motor ab und stützte sich benommen an die verschwommene Windschutzscheibe. Seine Mutter hatte Regenallergie. Wenn es vom Himmel schüttete, röteten sich ihre Augen, die Stimme versagte und sie bekam Pickel. Sie hatte Angst vor Regen, schloss die Fenster, ging in das hinterste Zimmer. Sie hatte Angst … Dieser Mann hatte gesagt, er habe Angst.

      Nikolaj führte sich wieder und wieder das Bild vor Augen, wie der Unbekannte aus seinem Auto kippte. Mit der Stirn auf den Randstein. Den Randstein. Pressbeton … Nikolajs Hand löste sich vom Lenkrad und drückte krampfhaft auf die Hupe. Einige verschwommene Gestalten, die am Gehsteig vorbeihuschten, hielten kurz inne, um zu schauen, woher der Hupton kam, und verschwanden alsbald mit ihren zusammengeklappten Regenschirmen in ein Haus. Es war ein Café.

      Schon ein paar Minuten später saß auch Nikolaj drinnen. Er hörte, wie sich seine eigene Stimme, völlig unabhängig von ihm und ziemlich fest, an die Kellnerin wandte und eine Tasse Kaffee verlangte.

      »Und vergessen Sie die Milch nicht.«

      »Die Milch ist aus«, antwortete die Kellnerin. »Ich kann einen Americano anbieten.«

      Nikolaj nickte. Die Kellnerin war sehr jung, etwa im Alter seiner Tochter. Die Haare zu einem Zopf geflochten. Bordeauxfarbene Schürze. Leicht plattfüßig. Sie verschwand hinter den Tischen, an denen junge Leute die Köpfe zusammensteckten und fröhlich durcheinander plapperten. Das Café war gut besucht. In einer Ecke eine ausgelassene Männerrunde. Sie fletschten die Zähne vor Lachen, sodass die Goldkronen funkelnd zum Vorschein kamen. Aus irgendeinem Grund kam Nikolaj eine Freundin seiner Frau in den Sinn, die sich in der städtischen Zahnambulanz mit Hepatitis angesteckt hat. Colgate Zahnpasta. Angeblich heißt das aus dem Spanischen übersetzt »geh und häng dich auf«. Geh und … Nikolaj fasste sich an den Kopf, der ihm dröhnte und voll war von dummem Zeug, welches er einfach nicht losbekommen konnte. Bloß an irgendetwas denken, um sich nicht an den leeren, trüben Blick desjenigen zu erinnern, der jetzt in der Dunkelheit mit dem Gesicht nach unten im Regen lag. Nikolaj befühlte seine Hose – durch und durch nass, gleich wird es ihn frösteln und er sich verkühlen. Und wieder fuhr ihm so eine unnütze Frage durch den Kopf: Warum friert heißes Wasser schneller zu Eis als kaltes? … Was wird aus seinem verstorbenen Mitfahrer, wenn es in der Nacht friert und die Pfütze zu Eis erstarrt? Er wird wohl schon ganz unter Wasser sein.

      Die Kellnerin stand vor Nikolaj und klimperte mit der Kaffeetasse. Schwarzer Inhalt, weißer Rand. Sie drehte sich um und ging zur lachenden Runde, von wo man sie gerufen hatte. Der Lauteste von denen, der mit den Goldkronen, erzählt etwas Lustiges, sie wird verlegen und schwenkt ihren Zopf hin und her. Über ihnen laufen auf dem an der Wand befestigten Flachbildschirm tonlos die Nachrichten. Bild um Bild. Inspizierung der beschädigten Stromleitungen, ein Alte im Frotteemantel mit fleckigen Händen klagt, dass es kein Licht gibt, die streng frisierte Ansagerin bewegt unkoordiniert ihren Mund. Nikolaj nippte am Kaffee und zuckte, da er heiß war. Wieder blickte er auf den Bildschirm. Man zeigte irgendeinen Funktionär vor städtischem Hintergrund. Ein bekanntes, aber doch nicht zuordenbares Gesicht, ovale Figur, lässig aufgeknöpfte modische Jacke …

      Nicht doch! Plötzlich durchfuhr Nikolaj eine heftige, aufwühlende Ahnung. Er starrte auf das Gesicht des Sprechenden. Dass er ihn nicht gleich erkannt hat! Aus dem Bildschirm blickte und sprach zu ihm sein Mitfahrer von vorhin. Stimmt es wirklich? Nikolaj kniff die Augen zusammen und öffnete sie wieder. Ja, das war der nämliche Mann. Eben der, der auf der Straße dahingetorkelt war. Da gab es keinen Zweifel. Vor Aufregung nahm Nikolaj einen großen Schluck, verbrannte sich, spuckte


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