Der Erwerb des Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit. Tanja Rinker
mal versuchen, eine ganz besonders schwierige Aufgabe zu lösen . Sie ist schwierig, aber lösbar . Das heißt man kann es schaffen, sie zu lösen . (…) Ok, jetzt haben wir die Lösung gefunden – wir haben die schwierige Aufgabe gelöst . Ich schreibe die Lösung oder am besten gleich den ganzen Lösungsweg nun noch mal an die Tafel. Nächste Woche bringe ich uns wieder eine schwierige, aber lösbare Aufgabe mit.
Der Auszug in (8) enthält mit lösbar, Lösung, Lösungsweg drei Wortbildungsprodukte zum Verb lösen und sensibilisiert zunächst einmal für Wortverwandtschaften. Die Lernenden nehmen den gleichen StammStamm in verschiedenen Kontexten war. Auf ähnliche Weise würde man in anderen Situationen weitere Instanzen der -bar und -ung-Derivationen verwenden, um beim Lernenden erst einmal mehrere Vertreter eines Wortbildungsmusters mental zu verankern und möglicherweise erste Wiedererkennungseffekte zu stimulieren.
Die (vermutlich) noch als unanalysierte ganze Einheiten (als Chunks) wahrgenommenen Wortbildungsprodukte können dann zu gegebener Zeit zusammen mit weiteren nach dem jeweiligen Muster gebildeten Beispielen wieder aufgegriffen werden, um nun gezielt den Analyseprozess anzustoßen bzw. voranzubringen. Durch das Präsentieren mehrerer Vertreter eines Wortbildungsmusters wird der/dem Lernenden die Struktur des komplexen Wortes bewusst und spezifische Regularitäten können erkannt werden, wie etwa die WortartWortart der Basis und die Wortart des Derivats. Sprachspiele, die sich überdies sehr leicht mit Wortschatzarbeit verbinden lassen, eignen sich hervorragend, um das jeweils zugrundeliegende Bildungsmuster zu durchschauen und zu verinnerlichen, vgl. Tab. 3.2. Anschließend könnte man gemeinsam eine Wortbildungsregel formulieren und die Funktion und Bedeutung des Suffixes -bar reflektieren.
Fragen nach dem Muster: | Antworten nach dem Muster: |
Was kann man essen? / Was ist essbar? | X kann man essen. / X ist essbar. |
mit (oder ohne) Vorgabe von einzusetzenden Objekten | |
weitere Verben: trinken – waschen – abschließen – genießen – lesen – … |
Tab. 3.2:
Übungsvorschlag zur DerivationDerivation mit -bar
Bei einer Wiederholung des Sprachspiels könnte man Objekte vorgeben, die unterschiedliche Ansichten evozieren und zu Diskussionen anregen, bei denen die Zielstrukturen dann in authentischen Kontexten Anwendung finden (z. B. nicht genießbar, weil …; genießbar nur, wenn ...).
Sind die Lernenden einigermaßen vertraut mit besonders häufig vorkommenden Wortbildungsmustern, geht man zu komplexeren Wörtern über, die das Produkt mehrerer verschiedener Wortbildungsprozesse sind. Da es deutschen MuttersprachlerInnen oft gar nicht bewusst ist, wie viele und welche Wortbildungsoperationen in einem rezipierten oder selbst produzierten Wort stecken, soll der nächste Absatz einmal beispielhaft für die morphologische Komplexität sensibilisieren, mit der wir täglich umgehen und an die auch die Deutschlernenden sukzessive heranzuführen sind, damit sie sich selbstständig komplexe Wörter in Zeitungen oder Lehrbüchern erschließen können. Als Beispiel sei das bereits am Anfang erwähnte Wort Unabhängigkeitserklärung gewählt. Tab. 3.3 schlüsselt auf, welche Prozesse hier involviert sind.
KompositionKomposition | N + N → N | Unabhängigkeit | + | Erklärung |
DerivationDerivation | A + Naff → N | unabhängig + -keit | ||
DerivationDerivation | Aaff + A → A | un- + abhängig | ||
DerivationDerivation | V + Aaff → A | abhäng- + -ig | ||
PartikelverbbildungPartikelverbbildung | Part + V → V | ab- + häng- | ||
DerivationDerivation | V + Naff → N | erklär- + -ung | ||
DerivationDerivation | Vaff + V → V | er- + klär- |
Tab. 3.3:
Wortbildungsprozesse im Wort Unabhängigkeitserklärung3
Ein Vorschlag, sich derart komplexen Wörtern zu nähern und Deutschlernende (der Sekundarstufe) zu befähigen, diese in ihrer Struktur „aufzuknacken“, wäre der Einsatz des (nach Bedarf zu vereinfachenden) linguistischen Strukturdiagramms. Man spricht auch von einer Baumstruktur, wobei der Baum auf dem Kopf steht und nach unten hin verzweigt. Diese Darstellungsweise kann man den Lernenden leicht mit Wörtern, die nur zwei Wortbildungsprozesse enthalten, nahebringen, vgl. Abb. 3.2. Zunächst lässt man das Wort in seine Bestandteile (Morpheme) sequenzieren (a), um dann im nächsten Schritt erst einmal die Wortstämme zu identifizieren und nach Wortarten zu kategorisieren (b). Bei der Kategorisierung der Präfixe (c) sollte die Lehrkraft mit unterstützenden Fragen helfen (z. B. Was wird aus dem Verb? Welche WortartWortart entsteht, wenn man -ung mit dem Verbstamm verbindet?). Im letzten Schritt (d) wird gemeinsam überlegt, welche Bestandteile sich in welcher Abfolge verbinden und welche Zwischenergebnisse dabei entstehen. Der (umgedrehte) Baum wird von unten nach oben in binären Strukturen entwickelt. Eine Ausnahme hierzu bildet die KonversionKonversion, bei der sich ohne Hinzufügen eines Elements die Wortart verändert – auch dies lässt sich anschaulich mit dem Modell darstellen, vgl. Abb. 3.3.
Morphologische Analyse des Wortes Lösungsweg in Teilschritten
Morphologische Analyse