Der Erwerb des Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit. Tanja Rinker
orthografischen Regeln kennen Sie?
2 Welche dieser Regeln werden in dem Schüleraufsatz (Abb. 2.1) verletzt?
3 Bei Wortfehlschreibungen ist zu unterscheiden, ob es sich um Regelverletzungen handelt oder um falschgeschriebene Merkwörter. Finden Sie für beide Typen Belege im Text.
Aufsatz eines rechtschreibschwachen Fünftklässlers
Bildimpuls „Der Fahrraddieb“ (© Bryant/Erhard)
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Im vorhergehenden Kapitel 1 wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass zur besseren akustischen Wahrnehmung ungewohnter lautlicher Kontraste, Silbenstrukturen und AkzentmusterAkzentmuster parallel immer auch das Schriftbild als visuelles Stützsystem einzubeziehen ist.
Viele Deutschlernende sind bereits vertraut mit der einen oder anderen AlphabetschriftAlphabetschrift. Bei einer Alphabetschrift besteht eine enge Beziehung zwischen den Einheiten des Lautsystems, den Phonemen, und den Einheiten des Schriftsystems, den Graphemen. Im Idealfall lassen sich Phoneme und Grapheme eindeutig aufeinander abbilden. Im türkischen SchriftsystemSchriftsystem ist dies tatsächlich so. Das deutsche Schriftsystem ist von einem solchen lautgetreuen Abbild jedoch weit entfernt, sonst würden wir *lebm schreiben statt leben, *Nagl statt Nagel, *Lop statt Lob, *knalt statt knallt, *Hende statt Hände. Deutschlernende sollten also nicht der Illusion ausgesetzt werden, dass GraphemGraphem-PhonemPhonem-Korrespondenzen (GPK) zu einer zielsprachlichen Schreibung führen würden. Natürlich gibt es auch im deutschen Schriftsystem GPK-Regeln. Diese sind zum einen aber nicht ausreichend. Man denke beispielsweise an das Vokalsystem: Für 16 VokaleVokale stehen nur 9 Vokalgrapheme zur Verfügung (Bredel 2013: 375). Zum anderen werden die GPK-Regeln partiell überschrieben von prosodischen und morphologischen Regelhaftigkeiten.
Von zentraler Bedeutung für das deutsche SchriftsystemSchriftsystem ist der TrochäusTrochäus – das für das Deutsche mit Abstand wichtigste AkzentmusterAkzentmuster mit der Folge betonte SilbeSilbe, unbetonte Silbe (Eisenberg 2013: 31). Die meisten Wörter des Kernwortschatzes entsprechen in ihrer Stammform und/oder in flektierter Form diesem Fußtyp. Generell lässt sich sagen, dass Systematiken innerhalb des Schriftsystems vor allem dem Lesenden dienen. Sie sollen den Worterkennungs- und Leseprozess erleichtern. Abb. 2.3 veranschaulicht, wie dies bei der Visualisierung trochäischer Strukturen gelingt: Zunächst einmal signalisiert ein VokalgraphemVokalgraphem dem Auge eine zu lesende Silbe. Auch die unbetonte Silbe, in der lautsprachlich oft gar kein Vokal realisiert wird, enthält im geschriebenen Wort ein Vokalgraphem, und zwar immer <e>. Dieses GraphemGraphem wird nicht etwa [e] gesprochen. Es fungiert als verlässliche Markierung für die ReduktionssilbeReduktionssilbe. Damit ist die prosodische Struktur (betont – unbetont) im Schriftbild sofort erkennbar.
Der TrochäusTrochäus in Laut- und Schriftsprache
Wie bereits angesprochen, ist das Grapheminventar der VokaleVokale unterspezifiziert. Woher weiß man, ob die Vokalgrapheme <a>, <o>, <u>, <ü>, … im zu lesenden Wort dem kurzen oder dem langen Vokal entsprechen? (Nur das Digraphem <ie> steht verlässlich für [i:].) Ob der Vokal in der betonten SilbeSilbe ungespannt/kurz oder gespannt/lang gelesen wird, hängt maßgeblich von der SilbenstrukturSilbenstruktur ab. Ist die KodaKoda nicht belegt, (vgl. Abb. 2.4a), hat der Vokal – figurativ gesprochen – Raum sich auszudehnen. Der Vokal wird dementsprechend lang artikuliert. Ist die Koda besetzt und die Silbe damit geschlossen, vgl. (Abb. 2.4b), ist meist ein kurzer Vokal zu lesen. Eine visuelle Markierung zwischen Haupt- und ReduktionssilbeReduktionssilbe (Hü.te vs. Hüf.te, ha.ben vs. hal.ten, He.fe vs. Hef.te, Bo.gen vs. bor.gen, bö.se vs. Bör.se) kann Deutschlernenden am Anfang helfen, die Silbenstruktur schnell zu erfassen, denn von ihr hängt schließlich die Aussprache des Vokals ab.
Drei trochäische Typen in Laut- und Schriftsprache
Das in (c) von Abb. 2.4 dargestellte trochäische Muster weist ein SilbengelenkSilbengelenk auf: Der Konsonant besetzt sowohl die KodaKoda der ersten SilbeSilbe als auch den OnsetOnset der zweiten Silbe. Auch hier muss – wie in (b) – der Vokal wieder kurz gesprochen werden. Die Schriftsprache markiert ein Silbengelenk durch Verdopplung (Fachbegriff: GeminationGemination) des Konsonantengraphems (Hütte, Pappe, sollen, kommen). Diese Regel gilt allerdings nur für einfache Grapheme. Grapheme, die sich aus mehreren Buchstaben zusammensetzen, werden nicht verdoppelt: z. B. machen, waschen, Zange).
Die Schreibung der Doppelkonsonanz ist also in der SilbenstrukturSilbenstruktur begründet. Auch die folgende orthografische Markierung weist darauf hin, dass im deutschen SchriftsystemSchriftsystem die Erfassung der Silbenstruktur von zentraler Bedeutung ist. Das sogenannte silbentrennende <h> wird regelhaft dort eingesetzt, wo ansonsten zwei Vokalgrapheme zweier Silben direkt nebeneinander stehen würden: drohen statt droen, nähen statt näen, gehen statt geen. Dieses <h> wird nicht gesprochen. Es ist eine Art Lesehilfe, denn die Silbengrenze wird so leichter erkannt. (Das sogenannte silbenschließende <h> oder auch Dehnungs-hDehnungs-h wie in Boh.ne, Leh.rer, Höh.le. wird nur dann verwendet, wenn die zweite SilbeSilbe mit einem Sonoranten (m, n, l, r) beginnt – allerdings nur in jedem zweiten aller möglichen Fälle (Eisenberg 2013: 303), weswegen auf diese Schreibung hier nicht weiter eingegangen werden soll.)
Neben den GPK-Regeln und den in der SilbenstrukturSilbenstruktur begründeten Regularitäten gilt im deutschen SchriftsystemSchriftsystem das strenge Prinzip der StammkonstanzStammkonstanz. Durch eine gleichbleibende Schreibweise wird die Wortverwandschaft sichtbar und der Zugriff auf das mentale Lexikon erleichtert. So verknüpfen wir mit der Lautform [hɛlt] in Abhängigkeit ihrer Schreibung (hält, Held, hellt) unterschiedliche Bedeutungen (Noack 2010: 162). Dank der Stammkonstanz bringen wir hält und halten zusammen, denn einem VokalwechselVokalwechsel wird im Geschriebenen mit dem zugehörigen Umlautgraphem (Hand – Hände, FußFuß – Füße, Floh – Flöhe) entsprochen (Eisenberg 2013: 314).
Das Prinzip der StammkonstanzStammkonstanz greift auch bei der Doppelkonsonanz und dem silbentrennenden <h>. Diese im TrochäusTrochäus motivierten Schreibungen müssen auch dann bei verwandten Wortformen realisiert werden, wenn es in diesen keinen silbenbasierten Grund für die spezielle Markierung gibt. So liegt in knallt kein SilbengelenkSilbengelenk vor und in geht treffen keine zwei Vokalgrapheme aufeinander, die einer optischen Trennung bedürfen.
Der TrochäusTrochäus bestimmt auch darüber, welches Plosivgraphem in wort- bzw. silbenfinaler Position geschrieben wird (Held wegen Helden, Lob wegen loben). Die AuslautverhärtungAuslautverhärtung wird nicht verschriftlicht.1
TrochäusTrochäus als Basis für die Schreibung | Schreibung aufgrund des Stammkonstanzprinzips | |
GeminationGemination bei SilbengelenkSilbengelenk | wo ll en kö nn en | will, gewollt kann, könnte |
silbentrennendes <h>silbentrennendes <h> | dro h en se h en |
droht, bedrohlich
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