Fokus SEIDENPLANTAGE. Paul Fenzl
erzählte mir am Abend, dass sie eine ganz in Schwarz gekleidete Person auf dem leeren Parkstreifen hier vor dem Anwesen sah. Sie hat sich noch gewundert, warum die Person sogar einen Mundschutz trug. Innerhalb der SEIDENPLANTAGE ist ein Mundschutz selbstverständlich Pflicht, inzwischen ja auch drunten in großen Teilen der Stadt, aber in der freien Natur? Noch dazu, wenn niemand unterwegs ist? Übrigens ebenfalls in Schwarz. Der Mundschutz meine ich.«
»Handelte es sich um einen Mann, oder eine Frau?«, fragte der Köstlbacher, sichtlich interessiert.
»Im morgendlichen Dämmerlicht schien das nicht deutlich erkennbar gewesen zu sein. Petra betonte noch, dass es nicht zu unterscheiden war, ob die Person ein Mann oder eine Frau gewesen ist. Die Person schien auf jemanden zu warten. Zumindest blickte sie immer wieder hinunter in Richtung Friedhof. Aber meine Frau schien ihn oder sie zu irritieren. Jedenfalls entfernte sich die seltsame Erscheinung plötzlich eilig.«
»Wissen Sie, in welche Richtung?«
»Nein! Das müssen Sie meine Frau fragen. Wir haben das Thema nicht vertieft. Schien zu dem Zeitpunkt ja auch nicht wirklich wichtig.«
Der Köstlbacher brummte nur etwas Unverständliches, was seinen Unmut zum Ausdruck bringen sollte. Aber Recht hatte dieser Herr Müller sicherlich. Warum hätte ihn eine dunkel gekleidete Person, egal ob Mann oder Frau, interessieren sollen. Heutzutage laufen schließlich viele Leute in diesem Einheitsschwarz herum.
»Ihre Frau ist zu Hause, sagten Sie?«
»Vermutlich inzwischen im ›Dayspa‹. Ich erwähnte das bereits. Aber noch sind keine Kunden hier. Wenn Sie wollen?« Herr Müller machte eine einladende Handbewegung und ging dem Köstlbacher voraus in die heiligen Hallen im Erdund Untergeschoß der SEIDENPLANTAGE, in denen dieses ›Dayspa‹ etabliert war.
Der Köstlbacher gab dem Baldauf schnell noch einige Anweisungen und folgte dann dem Herrn Müller und seinem Hund, der freudig mit seinem Schwanz wedelte, weil er sich endlich wieder bewegen durfte. Wenig später bekam er einen ersten Eindruck von dem, was ein ›Dayspa‹ war. Und, das wurde dem Köstlbacher schnell klar, es war ein ›Dayspa‹ der absoluten Luxusklasse.
Schwer beeindruckt von der orientalisch anmutenden Schönheit der teilweise schon vom Eingangsbereich aus einsehbaren Räumlichkeiten im Anwesen der SEIDENPLANTAGE, stoppte er schon nach wenigen Schritten, da er mit seinen verschmutzten Straßenschuhen das eigentliche Heiligtum selbstverständlich nicht betreten durfte. Frau Petra Herrmann kam ihm entgegen. Ihr Mann Carlo hatte sie via Handy vorabinformiert.
Kommissar Köstlbachers erster Eindruck war wie ein Déjàvu. Frau Herrmann erinnerte ihn spontan an seine Staatsanwältin, Frau Dr. Simone Becker. Zugegeben, Frau Herrmann war älter. Aber mindestens ebenso attraktiv. Und das lag absolut nicht nur an ihren blonden Haaren, der wohl größten Übereinstimmung mit Frau Dr. Becker.
»Sie wollten mich sprechen?«, begrüßte Frau Herrmann den Kommissar.
Der zuckte erst, wollte ihr die Hand schütteln, rief sich aber schnell wieder die Corona-Regeln ins Bewusstsein, nickte und stellte sich vor:
»Kommissar Köstlbacher. Kripo Regensburg. Vermutlich hat Ihnen Ihr Mann schon gesagt, was passiert ist. Ich hätte da noch ein paar Fragen an Sie.«
»Gerne! Entschuldigen Sie, wenn ich Sie nicht hereinbitte. Die Hygienevorschriften. Sie verstehen?« Dabei wanderte ihr Blick deutlich erkennbar hinab zu seinen Schuhen, deren Verschmutzung vermutlich den dünnen Überziehern aus Folie, die für Gäste bereitlagen, nicht Stand gehalten hätte.
Der Köstlbacher verstand den Wink mit dem Zaunpfahl, erweiterte den Abstand zu Frau Herrmann, schob seine etwas verrutschte Maske wieder zurecht und meinte:
»Kein Problem! Zum augenblicklichen Zeitpunkt habe ich ohnehin nur wenige Fragen. Ihr Mann sprach eine Beobachtung an, die Sie beim Gassi führen ihres Hundes gemacht hätten?«
»Er meint vermutlich das mit der in schwarz gekleideten Person? Ja, es stimmt, sie fiel mir auf. Eigentlich fiel sie mehr Gino auf als mir. Wenn er nicht spontan zu bellen angefangen hätte, hätte ich die Person vermutlich gar nicht gesehen. Sie hob sich zum noch dunklen Hintergrund in der Morgendämmerung kaum ab. Aber als Gino bellte, bewegte sie sich. Erst irgendwie unentschlossen. Dann aber fast wie von einer Tarantel gestochen. Gino hat aber auch immer heftiger zu bellen begonnen. Das macht er eigentlich eher selten.«
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte der Köstlbacher.
»Nun, entweder er freut sich sehr. Dann klingt das Bellen aber anders. Oder er hat Angst. Dann klingt es auch wieder anders.«
»Und wie hat es gestern geklungen?«, wollte der Köstlbacher wissen.
»Gestern? Irgendwie aggressiv. Er mochte die dunkle Gestalt offensichtlich nicht. Hunde sind diesbezüglich sehr sensibel. Gino ist schon alt. Er sieht kaum noch. Seine Welt besteht aus Gerüchen. Und das, was er hier in die Nase bekam, schien ihm nicht gefallen zu haben.«
Der Köstlbacher machte sich dazu ein paar handschriftliche Notizen in ein kleines schwarzes Büchlein, das an ein Gebetsbuch erinnerte.
»Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?«
»Ich habe es ja viel mit Menschen zu tun, aber sehr eigenartig fand ich, dass ich nicht unterscheiden konnte, ob es sich um eine Frau oder um einen Mann handelte. Schon seltsam, oder? Aber vielleicht war doch nur das schlechte Licht daran schuld. Und ganz ehrlich, ich habe dann auch nicht weiter darüber nachgedacht, weil die Person hinab in Richtung Friedhof im Halbdunkel verschwand, während ich mit Gino die andere Richtung einschlug.«
»Hm! Vorher schon einmal gesehen haben Sie diese Person nicht?«
»Definitiv nicht. Daran würde ich mich erinnern.«
»Ach ja, Ihr Mann sagt, Sie kennen diese Joggerin vielleicht?«
»Kennen ist nicht der richtige Ausdruck. Ich habe sie schon hin und wieder gesehen und das eine oder andere Mal ein ›Hallo!‹ mit ihr gewechselt. Mehr nicht.«
»Und sie kam immer bergauf hier vorbei?«
»Ob sie das immer so machte, das kann ich nicht sagen. Aber ich habe sie nie anders hier vorbeikommen sehen. Vielleicht drehte sie eine Runde. Aber bezeugen kann ich das nicht, weil ich so gut wie nie im Laufe des Vormittags mit Gino rausgehe. Zudem sind später so viele Leute hier unterwegs, dass man auf eine einzelne Person nicht mehr achtet.«
»Hm!«, brummte der Köstlbacher erneut, nicht besonders zufrieden mit dem, was er zu hören bekommen hatte. Weitere Fragen würden im Moment zu nichts führen. Daher bedankte er sich und verließ das Anwesen. Am immer noch offenstehenden Tor kam ihm der Baldauf entgegen.
»Die Kollegen von der Streife haben ihren Wagen gefunden. Einen Mini. Jetzt wissen wir auch, um wen es sich bei der Toten handelt.«
Kapitel 5
Die Kommissarin Martina Cuscunà hielt im Präsidium der Kripo in der Bajuwarenstraße 2c die Stellung. Ihr Chef, der Köstlbacher, war mit dem Baldauf immer noch oben in der SEIDENPLANTAGE, die Kommissarin Koch mit ihrer Hündin unterwegs zu ihm. Und alle anderen Kollegen und Kolleginnen hatten Ortstermine wegen anderer Ermittlungen. Seit Wochen ein seltener Zustand, dass jeder einer Beschäftigung nachging, die nicht nur zum Todschlagen von Dienstzeit angeordnet worden war.
Nicht etwa, dass das Nichtstun bei der Polizei, insbesondere bei der Kripo, der Normalzustand wäre. Es ist in der Tat eher der Ausnahmezustand. Aber seit dieses Virus das öffentliche Leben derart lahm legte, passierte einfach nicht mehr so viel. Zumindest nicht bei der Kripo. Die in den Straßen patrouillierende Polizei hingegen musste Überstunden schieben. Letztendlich eine Begleiterscheinung von COVID-19, zumindest der daraufhin angeordneten Einschränkungen und Vorschriften, deren Einhaltung es zu überwachen galt. Natürlich stieg im Vergleich zu der Zeit vor der Pandemie die häusliche Gewalt, die ein Einschreiten der Kripo allerdings nur in Ausnahmefällen nötig machte. Zumindest dem Köstlbacher seine Truppe wurde in aller Regel erst gerufen, wenn schwere Körperverletzung vorlag, und der Tathergang nicht eindeutig