Heldenstoff. Axel Rabenstein
sind Politik“, sagte mir Nazaré-Pionier McNamara über die immer skurriler anmutende Jagd nach dem nächsten Rekordbrecher: „Ich gehe in die Wellen, weil ich das Leben genießen will. Wellen haben eine rohe Energie, sie sind unglaublich kraftvoll. Wenn du auf ihnen stehst, fühlst du dich so klein und dennoch eng mit ihnen verbunden. Diese Nähe zur Natur hat etwas Magisches. Ich fühle mich in diesen großen Wellen einfach unglaublich wohl. Andere reiten auf einem wilden Stier, das würde ich niemals tun, das wäre mir zu riskant.“
Da die Surfer in den gigantischen Wellen voll austrainiert, akribisch vorbereitet und mit einem ganzen Stab an Betreuern unterwegs sind, kommt es in der Tat erstaunlich selten zu gravierenden Zwischenfällen. Natürlich steckt nach einem XXL-Waschgang mal eine Rippe in der Lunge; der Brite Andrew Cotton brach sich bei einem für seine Vehemenz mit einem Award ausgezeichneten Sturz in Nazaré den Rücken, steht aber längst wieder auf dem Brett.
Garrett McNamara, der wie die meisten seiner Kollegen vier bis fünf Minuten die Luft anhalten kann, musste in der kalifornischen Half Moon Bay 2016 mit ausgekugelter Schulter und gebrochenem Arm aus dem Weißwasser gezogen werden, nachdem ihn, McNamara war zu dieser Zeit schon 48 Jahre alt, ein Brecher am berüchtigten Surfspot Mavericks überrollt hatte. Todesfälle sind in den vergangenen Jahrzehnten jedoch an einer Hand abzuzählen, und das, obwohl die Natur an diesen Orten mit lebensbedrohlicher Wucht auftritt.
„Wenn eine Welle auf dich stürzt, gibt es eine Explosion. Es schleudert dich wie ein Sandkorn durchs Wasser, vollkommen außer Kontrolle. Eine große Welle kann dich im Bruchteil einer Sekunde mehr als zehn Meter tief unter Wasser drücken. Das geht auf die Ohren. Dir ist schwindlig, du weißt nicht mehr, wo oben oder unten ist. Du musst cool bleiben, Panik wäre kein guter Ratgeber. Irgendwann lässt dich die Welle los, dann suchst du die Orientierung, den Weg nach oben und schwimmst. Dabei benutze ich nur die Arme, weil die Beine zu viel Sauerstoff verbrauchen. Deine Lippen durchbrechen die Wasseroberfläche, du nimmst einen tiefen Atemzug, dann versuchst du, zu erkennen, ob eine weitere Welle anrollt und ob dein Partner auf dem Jetski in der Nähe ist, um dich aus der Gefahrenzone zu bringen.“
Und dann? Was ist dann? Warum müssen es die größten Wassermonster der Welt sein? – „Weil du hier die Gnade des Ozeans spürst. Und dich lebendiger fühlst als je zuvor.“
Wind ist magisch. Nichts als Luft, kann man ihn dennoch hören, fühlen und sehen.
Während Garrett McNamara in die Wellen paddelt oder sich von einem Jetski hineinziehen lässt, hat ein anderer Athlet den Wassersport mit einem Segel in der Hand geprägt. Der Windsurfer Bjørn Dunkerbeck gewann im Laufe seiner Karriere 168 Weltcup-Rennen sowie 42 Weltmeistertitel. Er gilt damit als der erfolgreichste Profisportler aller Zeiten.
„Meine Siege und Titel sind nach außen der wesentliche Bestandteil meiner Karriere“, sagte er mir, „es war aber auch immer wieder schön, den Wettkampf hinter sich zu lassen und das Lebensgefühl des Windsurfens zu genießen, diese reine und ungestörte Freude zu zelebrieren.“
Bjørn wurde in Dänemark geboren und wuchs auf Gran Canaria auf. Von hier aus brach er auf, um die Welt zu bereisen und das Neue zu suchen. „Ich bin über die Meerenge von Gibraltar nach Marokko gesurft, immer wieder weit hinaus aufs offene Meer gefahren, wo ich Haien, Pottwalen und Blauwalen begegnet bin. Ich war auf Fidschi, Tahiti und in Indonesien, unten in Chile, in Südafrika und auf vielen im Ozean verstreuten Inseln, um unbekannte Spots zu entdecken. Meistens waren wir mit Freunden unterwegs, sind nicht nur surfen, sondern auch tauchen und fischen gegangen, haben in einsamen Buchten stundenlang am Lagerfeuer gesessen und wunderbare Gespräche geführt.“
Es sind nicht die Wettkämpfe, von denen Bjørn besonders leidenschaftlich erzählt. Sondern seine Begegnungen und Erlebnisse inmitten der Natur, rund um den Globus, an wilden, unberührten und echten Orten. Es sind diese Momente, die zu unvergesslichen Erinnerungen wurden.
Ein interessanter Aspekt unseres Interviews war die Art und Weise, in der sich Bjørn Dunkerbeck über den Wind äußerte. Grundsätzlich nahe liegend, weil der Wind ihn rund um die Welt begleitet und ihm eine unvergleichliche Karriere ermöglicht hat; aber dennoch faszinierend, weil Surfnomade Dunkerbeck den Wind in detailliertem Facettenreichtum zu beschreiben vermag und dabei beinahe liebevoll über seinen treuen Weggefährten spricht.
„Das Schöne am Wind ist seine Vielseitigkeit, überall auf der Welt ist er anders. Ein warmer Wind ist schwächer als ein kalter. Ein Wind aus einem Tiefdruckgebiet ist böiger als ein Wind, der aus einem Hochdruckgebiet kommt. Der stärkste Wind ist immer zwischen 14 und 20 Grad Celsius. Bei höheren und niedrigeren Temperaturen wird er dünner und hat weniger Schub. Am liebsten surfe ich den Passat, der auf den Kanarischen Inseln, in Westaustralien oder auf Hawaii weht. Für mich ist der Wind wie ein komplexer Kumpel. Ich kenne ihn seit mehr als 30 Jahren und lerne trotzdem immer wieder neue Seiten von ihm kennen. Wind ist magisch. Nichts als Luft, nicht zu greifen. Dennoch kann man ihn hören, fühlen und sehen, wenn er über eine Düne pfeift, die Haare zerzaust oder das Meer aufwühlt.“
Ich möchte dieses Kapitel damit beenden, noch einmal darauf hinzuweisen, dass es überhaupt nicht darauf ankommt, die Natur mit all ihrer Macht an einem möglichst lebensfeindlichen Ort zu erleben. Wir müssen nicht auf einen Achttausender steigen. Wir müssen nicht bei sengender Hitze durch eine Wüste rennen. Wir müssen uns nicht von 20 Meter hohen Wellen beinahe erschlagen lassen. Es reicht, wenn wir die Natur an uns heranlassen und den Einklang mit ihr suchen.
Jeder auf seine eigene, ganz persönliche Weise.
1.3 NEUE ORTE IN UNS SELBST
Mit Faris Al-Sultan, Stefan Glowacz, Herbert Ranggetiner
Thomas Hellriegel, 1997 Gewinner des Ironmans® auf Hawaii, hat einmal gesagt, es gebe Minuten im Wettkampf, da könnten sich die Athleten „von innen sehen“.
Darauf angesprochen, erzählte mir der Triathlet Faris Al-Sultan 2006: „Eine Kamera habe ich mir, ehrlich gesagt, noch nicht eingeführt. Aber es gibt den Zustand höchster Anstrengung, wenn man neben sich steht und sich selbst als zweite Person wahrnimmt. Man ist wie im Rausch und nicht mehr Herr seiner Sinne. Es kann sein, dass man einen wildfremden Menschen, der an der Strecke steht und einen anfeuert, unglaublich intensiv wahrnimmt. So, als wäre sein Gesicht direkt vor dem eigenen. Und eine andere Person, die man vielleicht sehr gut kennt, sieht man überhaupt nicht. Das ist eine selektive Wahrnehmung, die ich nicht erklären kann.“
Al-Sultan wurde 2005 Ironman®-Weltmeister, coacht derzeit den zweifachen Ironman®-Weltmeister Patrick Lange, der 2017 und 2018 auf Hawaii triumphierte, wo einen auf dem Rad zumeist heftiger Wind drangsaliert, ehe es bei 40 Grad Celsius im Schatten auf einen Marathon durch vulkanische Landschaft geht, eine Strecke, auf der es allerdings keinen Schatten gibt.
„In der Hitze kommen die Theorien“, sagt Al-Sultan. „Am extremsten ist mir das aufgefallen, als ich 1999 zum Trainieren in den Emiraten war. Dort bin ich oft fünf bis sechs Stunden alleine auf dem Rad durch die Wüste gefahren. Niemand spricht, dazu kommen Nahrungsentzug und Dehydrierung. Da ist man plötzlich auf der Suche nach Gott. Kein Wunder, dass Religionen immer in der Wüste entstehen.“
Anstrengung, Hitze und äußerliche Widrigkeiten bringen uns an den Rand der eigenen Leistungsfähigkeit, weit entfernt von der Annehmlichkeit unserer Komfortzone. Das tut schon mal weh. Birgt aber eine besondere Energie in sich, weil uns das Überstehen solcher Situationen mit Stolz erfüllt.
Als Teenager machte sich Faris Al-Sultan eines Vormittags spontan auf den Weg und lief 70 Kilometer am Stück. In unserem Gespräch erzählte er mir davon so: „Ich war 18 und bin von Moosach nach Freising gelaufen, das sind hin und zurück 80 Kilometer. Schöne Strecke, direkt an der Isar entlang. Die letzten zehn Kilometer auf dem Rückweg war ich allerdings platt und bin in den Bus gestiegen.