Sturmgeflüster. Alexandra Walczyk

Sturmgeflüster - Alexandra Walczyk


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durch Unfall unter Alkoholeinfluss“ in seinen Abschlussbericht, bevor er mit Frau und Kindern zum Angeln in die Black Hills fuhr. Der Richter stempelte und unterschrieb. Sein Magenleiden hatte sich verschlechtert. Trotz der neuen Tabletten.

      Patricia Left Hand, die einzige Schwester des Toten, hatte die Welt schon lange vorher verflucht und es hieß, sie hätte das Reservat endgültig verlassen, um in Chicago unterzutauchen. Aktivisten der Indianerbewegung kamen vorbei, sahen sich um und fuhren anscheinend unverrichteter Dinge wieder ab. Die Zeit war noch nicht reif.

      Man vergrub Johns Asche neben den anderen Gräbern auf dem Anwesen der Left Hands in der Rosebud Reservation, verschloss die Tür des blauen Hauses und überließ es den Toten, mit der neuen Situation fertig zu werden.

       John machte es sich bequem und dachte, dass er es noch nie so gut gehabt hatte wie jetzt, da er tot war. Keine Sorgen mehr um Jobs und Geld. Kein Ärger mit der Regierung. Das Büro für Indianische Angelegenheiten ließ ihn in Ruhe und er war endlich frei, zu gehen, wohin er wollte, und zu sein, wer er war. Obendrein ein neues Haus vom Staat, nachdem er jahrelang darum gebettelt hatte: Die Urne war zwar klein, aber sauber und ordentlich. Gleich nebenan wohnten seine Eltern. John wollte ihnen erzählen, was geschehen war, aber sie wussten es bereits. Seine Mutter hatte sich gar nicht verändert, fand John. Sie lachte sogar mehr als früher. Und sein Vater! Es tat ihm richtig gut, dass er nicht mehr trank. Die Eltern freuten sich, verschwiegen ihrem Sohn aber, dass er gerade Vater geworden war. Er wirkte so gelöst und glücklich. Er würde es früh genug erfahren. John Left Hand jedenfalls war überzeugt, das große Los gezogen zu haben. Dass der Preis dafür sein Leben war, störte ihn nicht besonders. Er zuckte mit den Schultern. Die Kugel war gut gezielt und schnell gewesen. Der Gewinn war der Tod. Es hätte schlimmer enden können, dachte John und wandte sich an seine Mutter, um zu erfahren, wann es ihnen gestattet sein würde, die letzten fünf Schritte zu tun, um das Ende der Welt und ihre Vorfahren zu erreichen. Aber seine Mutter schüttelte nur lächelnd den Kopf und mahnte ihren Sohn zur Geduld. Eine Kleinigkeit wäre noch zu erledigen, aber die Zeit war noch nicht reif.

       New York, Ende Mai 1968

      Molly Walks Around The Water schnitt sich Zeitungsartikel aus. Zwei. Aus der New York Times und der Chicago Tribune. Noch bevor ihr Sohn eine Woche alt war, hatte seine Mutter bereits ein Album voller Fotos. Gewissenhaft hielt sie ihr neues Leben fest. Genauso gewissenhaft legte sie die beiden Zeitungsartikel über ungeklärte Todesfälle indianischer Bürgerrechtler in South Dakota zwischen die letzten Seiten des Albums und verklebte diese miteinander. Nur für den Fall, dass ihr etwas zustoßen sollte.

      Wenn der Junge den Grips seines Vaters geerbt hatte, würde er die notwendigen Schlüsse ziehen. Wenn nicht, auch gut.

      Molly begutachtete ihr Werk, zwirbelte einen Rest Klebstoff zwischen Daumen und Zeigefinger und sah für einige Minuten zum Fenster hinaus. John Left Hand hatte vermutlich keine Ahnung gehabt, dachte sie und lächelte. Dann setzte sie Wasser auf und holte zwei Steaks aus dem Gefrierfach ihres Kühlschrankes. Ihres Kühlschrankes. Ihrer. Eis im Sommer. Kaltes Fleisch statt Hunger. In einer Stunde würde Andrew von der Arbeit kommen. Ihr Mann. Er war das Gegenteil von John, aber er liebte dessen Sohn wie seinen eigenen. Molly mochte Andrew. Er kümmerte sich um sie. Molly warf einen Blick auf das Fotoalbum. Gut, dass sie die Artikel weggeklebt hatte. Gut, dass sich John Left Hand nicht weiter um sie gekümmert hatte. Jetzt konnte sie nur hoffen, dass Andrew keine Fragen mehr stellte und dass John blieb, wo er war. Molly schüttete den Reis ins kochende Wasser.

       New York, Februar 1973

      Molly rauchte mehr als je zuvor. Jahrelang hatte sie es geschafft, ihrer Vergangenheit den Rücken zu kehren. Sie hatte gelernt, sich ihrer Umgebung anzupassen. Und sie musste vor sich selbst zugeben, dass ihr das neue Leben nicht schlecht gefallen hatte. Wahrscheinlich war es leichter, sich an Annehmlichkeiten zu gewöhnen als Ungerechtigkeiten hinzunehmen. Seltsamerweise waren es jedoch die Ungerechtigkeiten, die sie irgendwann vermisste, und die Annehmlichkeiten, die sie mitunter zu langweilen begannen. Molly hatte angefangen auf etwas zu warten. Nichts Konkretes. Irgendetwas.

      Dann waren da plötzlich überall Zeitungsartikel und sie riss die letzten Albumseiten auseinander und versuchte vergebens, all die neuen Toten und Worte dort unterzubringen. Wohin sie auch sah sprangen ihr die Erinnerung und ihr früheres Leben ins Gesicht: Wounded Knee. Blutrünstige Rothäute. Staatsfeinde. Aufschrei der Unterdrückten. Mord und Totschlag. Wut. Verzweiflung. Trauer. Hoffnung und Leben. Auch der Name John Left Hand tauchte auf und griff nach Molly Walks Around The Water. Ein Opfer und viele Fragen.

      Molly zündete sich die siebte Zigarette in einer Stunde an. Sieben ist eine heilige Zahl, dachte sie dabei und starrte dem Rauch nach, der sich vor ihren Augen in ein blaues Haus verwandelte.

       Im Irgendwo der Ebene, im Rosenknospen Reservat, in der Einsamkeit des Graslandes steht ein blaues Haus. Die Farbe blättert bereits ab. Niemand wohnt mehr dort, doch die leeren Räume sind voller Stimmen. Das Haus liegt weitab von der Straße. Nur wer davon weiß und den Weg gut kennt, findet die Reifenspur, die zu dem blauen Haus führt. Irgendwann.

       Im Sommer, wenn das Land dürr ist, die Gräser trocken und hart, dann würde sich mit jedem Besucher eine Staubwolke nähern. Und im Winter, wenn das Land erstarrt ist, die Gräser begraben unter Schnee und Eis, dann steht das Haus blau und kalt in der weißen Einsamkeit. Die kahlen Pappeln verharren aufrecht vor dem Eingang und warten. Auf den Frühling. Auf ihre Blätter. Auf gelbe Staubwolken. Doch niemand kommt. Im Haus wird gesungen und gelacht. Irgendwann wird es Frühling. Die Blätter sprießen. Aber nur der Wind wirbelt Staub auf. Und John Left Hand ist nichts weiter als ein unsichtbarer Pappeltraum.

       Rapid City, South Dakota, April 1973

      „Hören Sie, Smith, Sie wissen doch mehr als Sie zugeben!”

      Der schwarzhaarige Mann Anfang dreißig, dessen wettergegerbtes Gesicht bereits von tiefen Falten des Kummers durchzogen war, sagte nichts, senkte aber den Blick und schüttelte den Kopf. Eine verzweifelte Geste? Der Anwalt glaubte nicht daran. Seit vier Stunden saß er nun mit Smith in diesem muffigen Motelzimmer und stellte ihm immer wieder die gleichen Fragen. Mit äußerst mäßigem Erfolg, wie er sich eingestehen musste. Sein weißes Hemd wies mittlerweile tellergroße Schweißflecke unter jedem Arm auf, während sein schütteres Haar, das normalerweise sorgfältig zurückgekämmt war, in schlaffen Strähnen um seine faltige Stirn hing. Er wusste nicht mehr weiter.

      Smith dagegen mochte zwar in zusammengesunkener Haltung auf der Bettkante kauern, die breiten Schultern wie ein Paar zu kurzer Flügel nach vorn geklappt, die arbeitsgewohnten Hände zwischen den Knien versteckt und den Kopf gesenkt, dennoch wirkte er ruhig und sicher im Vergleich zu seinem Gegenüber. Urquart, der Anwalt aus Minneapolis, spähte durch einen schmalen Spalt zwischen den zugezogenen Vorhängen und nahm Anlauf für einen letzten Versuch. Es musste ihm einfach gelingen, diesen dickköpfigen Farmer zum Reden zu bringen. Zu viel hing davon ab.

      „Smith, Sie haben doch eine kleine Tochter, nicht wahr?“

      Er drehte sich nicht um bei dieser Frage. Er fühlte, wie die Spannung in dem kleinen Raum beinahe unerträglich wurde. Hörte sie knisternd Wellen schlagen. Er wusste, dass Smith erschrocken den Kopf hob und er wusste, dass dessen Hände zwischen den Knien sich verkrampften, die gestutzten Flügel sich strafften. Hitze breitete sich vom Bett her im Zimmer aus und prallte gegen die nächste kühle Frage des Anwalts.

      „Cathy, nicht wahr? So heißt die Kleine?“

      Urquart fühlte die Augen, die sich durch sein Hemd in sein Herz bohrten. Er war ein Schwein. Nicht besser als die, die er des Mordes zu überführen hoffte. Doch er konnte nicht anders, wenn er die Mauer des Schweigens durchbrechen wollte.

      „Wollen Sie Cathy in diesen Schmutz mit hineinziehen? Was werden Sie ihr sagen, wenn sie erfährt, mit welchen Leuten ihr Vater gemeinsame Sache macht?“

      Urquart verstummte, nachdem er sein letztes Pulver verschossen hatte. Hinter ihm ertönte ein gurgelndes Geräusch, als Smith sich räusperte und mit rauer Stimme antwortete: „Ich mache keine gemeinsame Sache mit denen.“

      Der


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