Sturmgeflüster. Alexandra Walczyk
geschehen war.
Es war nicht nur der Umzug. Es war mehr. Viel mehr. Zu viel.
Das Fundament der Familie bröckelte so wie das Fundament des Farmhauses, das sie seit vier Generationen ihr Eigen genannt hatten, und das mehr gewesen war als nur ein Haus. Jetzt war es weg. Alles. Heimat, Haus, Arbeit, Zukunft. Weggeblasen bis auf die Grundmauern. Marks Bruder war die einzige Lösung gewesen. Eine Lösung, die keine war, wie Irene sich eingestehen musste. Sie saßen fest. Alle miteinander. Mittellos, fremd und krank. Krank vor Sorge, sie selbst. Krank von all den Jobs, die er fand und wieder verlor, ihr Mann Mark. Krank vor Heimweh, Cathy, ihre Tochter.
Nichts war mehr so wie in den fünfzehn Jahren bisher. Gar nichts, dachte Cathy jeden Tag auf dem Weg zu ihrer neuen Schule, wo sie niemanden kannte und sich linkisch und dumm vorkam. Ängstlich. Nicht mehr sie selbst. Stundenlang stromerte sie durch den Stadtteil, wo sie im Haus ihres Onkels gestrandet waren. Schiffbrüchige. Dann entdeckte sie eines Tages etwas, das sie kannte. An der Bushaltestelle sah sie die Jugendlichen zum ersten Mal. Sie saßen auf der einzigen Grünfläche weit und breit. Hinter dem Reklameschild für teure Autos. Inmitten von leeren Flaschen und anderem Müll. Ohne sich darum zu scheren. Als Cathy sie lachen hörte, ertappte sie sich bei einem Grinsen, das sich verschämt auf ihrem Gesicht breitmachte. Cathy vergaß, zur Schule zu gehen. Sie hing mit ihren neuen Freunden im Indian Community Center ab und leerte selbst einige Flaschen unter dem Reklameschild.
Ihr Vater tobte. Ihre Mutter resignierte zum ersten Mal in ihrem Leben.
An ihrem sechzehnten Geburtstag, nach einem heftigen Streit mit ihrem Vater, in dessen Verlauf Mark in besinnungsloser Wut auf seine Tochter, die Indianerhure, einschlug, verließ Cathy ihre Familie und die Stadt Minneapolis. Sie wusste nicht viel über ihre Zukunft, aber sie würde es schaffen. Zuerst hatte sie daran gedacht, zurück nach South Dakota zu gehen. Ihre Freundin Sarah hätte sie sicherlich aufgenommen. Doch die Red Eagles hatten auch ohne eine minderjährige Ausreißerin, die im dritten Monat schwanger war, genug Probleme. Außerdem hätte sie sich dort praktisch nicht auf die Straße wagen können, da jeder sie kannte und ihre Eltern benachrichtigt hätte. Nein, sie würde in Chicago untertauchen. Vielleicht Sarah Bescheid geben, dass alles in Ordnung war. Ihren Highschool-Abschluss in Abendkursen machen. Weiter wollte sie nicht vorausdenken. Konnte sie nicht vorausplanen. Viel später, wenn sie mit sich selbst ins Reine gekommen wäre, würde sie zurückgehen. Zu ihren Eltern, zu Sarah, nach South Dakota. Vielleicht.
New York, General Hospital, Sommer 1987
Molly träumte.
Draußen, auf dem Flur der Intensivstation, sprach der Arzt mit ihrem Ehemann, den man nach dem schweren Autounfall seiner Frau im Büro verständigt hatte. Der Anrufer hatte Andrew Maclean nicht viel Hoffnung gemacht und auf dessen verzweifelte Fragen nur geantwortet, Mr Maclean solle so schnell wie möglich kommen.
„Es tut mir sehr leid“, sagte der Arzt gerade. „Ich fürchte, Ihre Frau wird nicht mehr aus dem Koma erwachen.“ Er legte mitfühlend eine Hand auf Andrews Schulter und fuhr vorsichtig fort.
„Die inneren Verletzungen sind zu schwer. Gibt es noch weitere Angehörige?“
Andrew schüttelte benommen den Kopf und sah den Arzt mit leeren Augen an.
„Nein. Doch, natürlich. Unseren Sohn. Lewis. Ich habe versucht ihn zu erreichen, dabei weiß ich gar nicht, wo er ist.“ Andrew legte beide Hände an die Glasscheibe, die ihn von seiner Frau trennte. „Vermutlich ist er jetzt bei seinen Leuten.“ Er klang erleichtert.
Der Arzt, der einer der wenigen Ärzte dieser Welt zu sein schien, die über Zeit verfügten, wartete geduldig. Mehr als der Tod, dem er so häufig begegnete, erschütterte ihn stets die Trauer der Hinterbliebenen. Viel zu selten fand er Gelegenheit, denen Trost zu spenden, die ihm so sehr am Herzen lagen. Er wandte sich dem Mann zu, dessen Leben mit dem Tod seiner Frau gerade jeden Sinn verlor. Keine Angehörigen. Nur ein unauffindbarer Sohn. Sanft drückte der Arzt Andrew auf einen Stuhl.
Molly träumte.
Sie war glücklich, als sie erkannte, wohin sie fuhr. Die Reifenspuren, die zu dem blauen Haus führten, waren kaum noch zu erkennen, doch sie hatte sie ohne Schwierigkeiten wiedergefunden. Sie saß im alten Pick-up ihres Vaters, der sicherlich nicht damit einverstanden war, dass sie John Left Hand besuchte, diesen Nichtsnutz und Herumtreiber. Seltsamerweise beschwingte Molly diese Vorstellung. Heiter und unbeschwert zockelte sie auf der staubigen Piste ihrem Ziel entgegen. Sie war lange unterwegs gewesen. Wo, das wusste sie nicht mehr so genau. Es war auch nicht wichtig. Vorhin, auf der Landstraße, hatte sie im Vorbeifahren ein bekanntes Gesicht gesehen. Das war ihr Sohn gewesen. Lewis. Er hatte sie erschrocken angeschaut, so dass sie ihm beruhigend zugewinkt hatte. Der Junge war viel zu ernst für sein Alter. Immerhin, er war hier. Schlauer Kopf. Wie sein Vater. Vor sich, in der schimmernden Ferne, konnte Molly schon die Pappeln erkennen, die das blaue Haus umgaben. Sie sah das Blau durch die Bäume blitzen. Blauer als der Himmel. Endlich! Molly trat das Gaspedal durch.
John fiel aus allen Wolken, als Molly aus dem Wagen stieg. Er blinzelte. Sie lachte ihm kokett ins Gesicht. Die Überraschung war ihr gelungen.
Johns Eltern waren auch da. Sie freuten sich, auch wenn Johns Mutter den leichten Dunst von Alkohol, der Molly umschwebte, missbilligte. Johns Vater kam ihr zu Hilfe und meinte, dass so was schon mal vorkommen könnte im Eifer des Gefechts. Seine Frau warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, legte aber den Arm um Mollys Schultern und ging mit ihr ins Haus. Kaffeeduft empfing sie dort.
„Hier, trinken Sie das.“ Dr. Greenfield reichte Andrew einen Becher voll Kaffee. Andrew blinzelte und sah sich verwirrt um. Kannte er den Mann mit dem Kaffee? Träumte er?
„Was ist los?“ Eine Frage schien so sinnlos wie die andere.
„Sie stehen unter Schock. Kaffee hilft manchmal.“
„Dann war es kein Traum?“ Die Hoffnung in Andrews Augen erlosch und er sank kraftlos in sich zusammen.
„Nein, tut mir leid, kein Traum.“ Der Arzt klang traurig.
„Was ist eigentlich passiert? Was für ein Unfall war das?“ Andrew riss sich zusammen.
„Hm.“ Greenfield lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Hatte Ihre Frau irgendwelche Probleme? War sie depressiv?“
„Was wollen Sie damit sagen? Nein, Molly hatte keine Probleme!“
„Hatten Sie welche? Mit Ihrer Frau?“ Der Arzt nahm seine Brille ab und betrachtete sie nachdenklich, bevor er fortfuhr: „Sehen Sie, Mr Maclean, Ihre Frau war betrunken, als sie frontal gegen einen Baum fuhr.“ Pause. „Gegen den einzigen Baum weit und breit. Und zwar um acht Uhr morgens.“
„Was für ein Baum war es?“
„Wie bitte?“ Andrews Frage brachte Greenfield aus der Fassung. „Bestimmt war es eine Pappel. Und sie hat nicht die Kontrolle verloren. Nicht Molly.“ Andrews Gesicht leuchtete, während ihm die Tränen über das Gesicht liefen. Er schluchzte.
„Molly ist nach Hause gefahren.“
Molly schnalzte missbilligend mit der Zunge. Nicht nur außen am Haus blätterte die Farbe ab, sondern auch innen rollte sich die Tapete von den Wänden.
„John, wie konntest du das Haus so verkommen lassen?“
John, der alle Hände voll zu tun hatte, um für das Wohl der zahlreich erschienenen Gäste zu sorgen, warf Molly einen überraschten Blick zu und sah sich erstaunt um. Sie übertrieb wieder einmal maßlos. So schlimm war es doch gar nicht, gemessen an den allgemein herrschenden Lebensumständen im Reservat. Er beobachtete, wie sie angewidert mit dem Finger durch die dicke Staubschicht fuhr und eine tiefe Spur darin hinterließ. Nun ja, vermutlich war sie inzwischen Besseres gewohnt. Aber er selbst war schon ewig nicht mehr hier gewesen. Zwanzig Jahre. John schüttelte den Kopf. Abgesehen davon hatten sie ohnehin Wichtigeres zu tun.
Molly hatte ihm erzählt, dass ihr gemeinsamer Sohn hier war.