Sturmgeflüster. Alexandra Walczyk

Sturmgeflüster - Alexandra Walczyk


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Anfang Vierzig sein, hatte ein ausdrucksstarkes Gesicht und trug ein etwas enges, rotes T-Shirt mit dem Aufdruck 111th Annual Rosebud Sioux Tribal Fair. Andrew nannte seinen Namen und den Grund seines Hierseins. In den schwarzen Augen hinter den dicken Brillengläsern blitzte es kurz auf, dann kräuselte ein winziges Lächeln die Mundwinkel der Frau und schließlich streckte sie ihm ihre Hand entgegen, die er etwas zaghaft ergriff.

      „Dann sind Sie also gekommen. Bernie wollte nicht so recht dran glauben. Kommen Sie, ich bringe Sie zu ihm.“ Sie lächelte ihn jetzt offen an und ergriff seinen Arm. „Sie haben Glück, Mr Maclean, ich wollte gerade gehen. Alle anderen sind schon auf dem Powwow. Bernie Little Horse auch. Mein Name ist übrigens Alma Yellow Hat. Wir haben telefoniert.“

      Überwältigt von dem plötzlichen Redeschwall nickte Andrew automatisch mit dem Kopf und murmelte ein vages „Sehr erfreut“, als ihm die Hand auch schon wieder mit einem Ruck entzogen wurde und seine Gesprächspartnerin ihm den Rücken zukehrte.

      „Fahren Sie mir einfach hinterher!“

      Sie stieg in ihren alten Ford, schlug die Tür zu und wendete in einer gelben Staubwolke. Andrew sah sprachlos dem Geschehen zu, dann beeilte er sich, dem Befehl Folge zu leisten und preschte hinter Alma Yellow Hat her. Zumindest hoffte er, dass sich in der Staubwolke vor ihm noch immer Miss Yellow Hat befand, denn mittlerweile waren die Straßen des kleinen Ortes, die vorhin noch so menschenleer gewirkt hatten, mit einer Hundertschaft von Autos, Wohnmobilen und sogar Pferden bevölkert. Der Aufenthalt im Wilden Westen versprach aufregend zu werden.

      Kurze Zeit später bogen sie auf einen Platz am Ortsrand ein, auf dem quirlige Betriebsamkeit herrschte. Auf dem Schild, unter dem sie hindurchfuhren, prangte derselbe Text wie auf dem zu engen T-Shirt von Miss Yellow Hat. Rosebud Sioux Tribal Fair. Der Staub legte sich. Andrew war am anderen Ende der Welt angekommen.

       Rosebud Reservation, Powwow, August 1987

      Es war eine berauschende Pracht von wirbelnden Federn, flatternden Fransen, glitzernden Perlen und schwingenden Gewändern in allen Farben des Regenbogens. die Kleiderordnung spannte dabei einen lockeren Bogen von den perlenbestickten, schweren Festtagsroben des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts bis hin zur zwanglosen Jeansgeneration des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts. Nur eines schien unverändert: Die Gesichter seiner Leute.

      Dabei hatte Lewis eigentlich keine Ahnung. Was wusste er schon von seinen Leuten? Nichts, außer dem, was seine Mutter ihm erzählt hatte, und das war herzlich wenig gewesen. Ach ja, und natürlich die diversen Zeitungsartikel, die sie wie einen Schatz gehütet hatte und die er, Lewis, vor einigen Wochen zufällig entdeckt hatte.

      Da war er losgefahren. Er war so wütend gewesen! Auf seine Mutter, die ihm alles und doch nichts erzählt hatte. Auf seinen Vater, der sicher über alles Bescheid wusste und der ihn trotzdem geliebt hatte wie seinen eigenen Sohn. Und was war ihm geblieben? Eine Mutter, die sich selbst belog. Ein Vater, den er sein ganzes Leben lang gekannt hatte, der aber nicht sein Vater war. Ein Unbekannter, dessen Namen er trug und der noch vor seiner Geburt gestorben war. Und, zu guter Letzt, ein fremdes Volk, das sein eigenes war.

      Wenn Lewis etwas herausgefunden hatte in diesen vier Wochen, die er nun durch South Dakota fuhr, dann war das die ernüchternde Tatsache, dass er nicht hierher passte. Er war ein Beina- he-New-Yorker, der hier im Indianerland nach seinen Wurzeln suchte. Was für ein Witz! Alice im Wunderland. Nur schade, dass er nicht ihre blonden Locken und die himmelblauen Augen hatte! Lewis saß auf der Kühlerhaube seines alten Pontiac und suchte unter all den fremden Gesichtern das seiner Mutter. Er war sich sicher, dass er sie vorgestern gesehen hatte. Sie musste ihm nachgefahren sein. Seltsam war das gewesen. Nachträglich lief ihm ein Schauer über den Rücken, wenn er an diese Begegnung dachte. Lewis war auf der Suche nach dem blauen Haus von John Left Hand gewesen und musste wohl die Abzweigung verpasst haben, denn er hatte das Haus nirgends entdecken können. Da war plötzlich seine Mutter in einem Uraltwagen an ihm vorbeigefahren und hatte ihm zugewinkt. Weder sie noch das blaue Haus vermochte Lewis wiederzufinden.

      Es war ein seltsames Land und seine Bewohner waren Lewis beinahe schon unheimlich, so dass er es bisher nicht gewagt hatte, irgendjemanden um Hilfe zu bitten. Nun noch diese komische Sache mit seiner Mutter. Lewis seufzte und trank den Rest Cola aus der Büchse, die er sich bereits vor einer Stunde an einer der Imbissbuden, die den Powwow Platz umringten, gekauft hatte. Die braune klebrige Flüssigkeit schmeckte schal, warm und abgestanden. Genau wie mein Leben, dachte Lewis grimmig und zerdrückte die leichte Aluminiumdose mit seiner linken Hand. Das brachte ihn zum Lachen.

      Lewis rutschte von der Kühlerhaube, schmiss die Dose durch das geöffnete Fenster auf den Beifahrersitz und schlenderte langsam zum Tanzplatz. Dort stellte er sich neben eine der Trommlergruppen und bezog seinen schweigsamen Beobachtungsposten. So, wie er es auch bei den anderen Powwows getan hatte. Keiner störte ihn. Keiner sprach ihn an, obwohl die Leute durchaus nicht unfreundlich waren. Aber das war okay, auch wenn sich Lewis manchmal nach einem Zeichen sehnte, das ihm zu verstehen gegeben hätte, dass er dazugehörte. Auf den Gedanken, dass die Menschen lediglich seine abweisende Haltung respektierten, kam Lewis nicht. Er sah den Tänzern zu. Später würde er sich etwas zu Essen kaufen. Und dann? Er wusste es nicht.

      Da war sie wieder! Dieses Mädchen, das ihm schon zweimal aufgefallen war. Zuerst beim Powwow im Lower Brulé Reservat. Dann, eine Woche später, in Crow Creek. Sie sah nicht wirklich aus wie eine Indianerin. Ihr Haar war eine Spur zu hell, die Haut lediglich von der Sonne gebräunt. Nur die Augen wirkten ebenso dunkel wie die der anderen. Natürlich konnte sie eines der vielen Mischlingsmädchen sein, aber das glaubte Lewis nicht. Er war ein guter Beobachter, der viel Zeit damit verbracht hatte, sich die Bewegungen und typischen Gesten der Reservatsbewohner und Powwow-Besucher einzuprägen und ihre Gewohnheiten zu studieren. Das Mädchen gehörte genauso wenig hierher wie er, dessen war sich Lewis sicher. Aber im Gegensatz zu ihm schien sie sich einigermaßen wohlzufühlen. Immerhin ließ sie kaum einen Tanz aus und gehörte offenbar zu einer kleinen Familiengruppe, die Lewis nun auch schon das dritte Mal beobachtete. Zwei kleine Mädchen waren ganz vernarrt in die Fremde, die Lewis in ihren Bann gezogen hatte. Er hätte gern mit ihr gesprochen, verwarf den Gedanken jedoch wieder und schalt sich einen Idioten.

      Er ließ seinen Blick abermals wie ein Band durch die Menge gleiten, hielt da und dort auf einem Gesicht inne und versuchte, sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Plötzlich riss es ihn förmlich herum: Dort drüben saß sein Vater! Das konnte doch nicht wahr sein. Lewis rieb sich die Augen und schüttelte den Kopf, aber das Bild, das er sah, wollte nicht verschwinden. Praktisch genau ihm gegenüber saß Andrew Maclean inmitten wichtig wirkender Männer und Frauen und wirkte dabei nicht im Mindesten fehl am Platze.

      Wie im Traum trat Lewis zurück in den Schatten, den das Dach aus Zweigen rund um die Arena großzügig spendete, und fasste nach einem der Stützpfähle. Die Welt und seine Gedanken gerieten ins Taumeln. Er presste seine Stirn gegen das trockene, splitternde Holz auf der Suche nach Schmerz. Schmerz, der ihn erlösen und in die Wirklichkeit zurückbringen würde. Lewis krallte seine Finger um den Pfosten, als die trostlose Verlorenheit seines Lebens wieder nach ihm griff. Auf schwarzen Rabenflügeln glitt sie auf ihn zu, kreischend und kalt. Der Schweiß trat auf seine Stirn und er zitterte. Dort drüben war wieder seine Mutter. Sie stand neben einem Mann, den Lewis nicht kannte und doch zu kennen glaubte. Beide beobachteten ihn aufmerksam und besorgt. Lewis keuchte, als zwei spielende Kinder mitten durch seine Mutter und ihren Begleiter hindurchrannten. Das durfte doch nicht wahr sein! Halluzinationen. Die Hitze. Lewis würgte an seinem Speichel, der trocken und hart war wie Staub. Dann fühlte er eine Hand auf seiner Schulter und die Welt hörte auf, sich zu drehen. Von den Rabenvögeln in seinem Kopf blieb nichts als ein wirbelndes Häufchen schwarzer Federn. Molly und ihr Begleiter waren verschwunden.

      Lewis drehte langsam den Kopf und erwartete das Gesicht eines Toten zu sehen. Stattdessen stand das Mädchen, das seit geraumer Zeit seine Aufmerksamkeit erregte, neben ihm. Schüchtern und besorgt musterte sie ihn.

      „Alles in Ordnung?“ Ihre Stimme klang sonderbar.

      „Ja.“ Lewis gelang ein verzerrtes Lächeln. Er ließ den Pfahl los, den er noch immer umklammert hatte und holte tief Luft. Verrückt war das. Das Mädchen nickte nur und wusste offenbar nichts


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