Sturmgeflüster. Alexandra Walczyk

Sturmgeflüster - Alexandra Walczyk


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ihr zu folgen. „Ich fürchte, für einen Außenstehenden ist das …“, sie stockte abermals und wich seinem Blick aus. „Tut mir leid, ich …“

      „Schon gut“, beruhigte er sie. „Du hast ja recht, ich bin ein Fremder. Vollblut hin oder her.“ Lewis grinste verschmitzt. „Ich bin doch ein Vollblut, oder? Keine weiteren Überraschungen?“ Bernice atmete erleichtert auf.

      „Nein, solche Überraschungen nicht“, sagte sie leise und wagte nicht, ihm in die Augen zu sehen, aus Angst, er könnte vielleicht ihre Gedanken lesen.

      Ja, Lewis, du bist ein Vollblut-Lakota, auch wenn du dich benimmst und sprichst wie ein weißer Mann, dachte sie. Und vielleicht fürchten sich die Leute vor dem, was du glaubst, wissen zu müssen. So, wie deine Mutter sich gefürchtet hat. Sie sagen, du würdest aussehen wie dein Vater. Sie denken, vielleicht ist er wiedergekommen. Bernice beobachtete Lewis unter gesenkten Lidern.

      „Übrigens sind verworrene Familienstammbäume nichts Neues für mich. Ich sagte dir doch, mein Dad kommt aus Schottland.“ Lewis war seinen eigenen Gedankengängen gefolgt und sie sah ihn verständnislos an. Dabei spürte sie, wie sich Lewis nach Zugehörigkeit sehnte, wie sehr er danach suchte. Aber das war etwas, das er selbst finden musste. Niemand konnte ihm dabei helfen. Er hatte aufgehört von Schottland zu sprechen.

      „Wer war mein wirklicher Vater? Was ist damals passiert? Warum ist er gestorben?“

      „Dein Vater war ein aufmüpfiger Bastard!“ Sie beobachtete seine Reaktion und beeilte sich, die Wirkung ihrer Worte zu mildern.

      „Das sagt jedenfalls mein Vater.“ Bernice dachte nach und legte sich das, was sie nun sagen wollte, sorgfältig zurecht.

      „John Left Hand war zweiundzwanzig, als er nach dem Tod seiner Großtante aus Pine Ridge herkam und begann, in ihrem Haus zu leben. Er war allein und meine Mutter sagt, er hätte sämtlichen Mädchen den Kopf verdreht, ohne eines auch nur ein zweites Mal anzusehen, sobald er hatte, was er wollte.“

      „Meine Mutter? War Molly eines dieser Mädchen?“

      „Ich glaube eher, dass meine Mutter keines davon war.“

      „Du meinst …?“

      „Ich weiß es. Großmutter hat es mir erzählt. Sie findet, dass sich meine Mutter noch immer wie ein kleines Mädchen benimmt, dem man sein Lieblingsspielzeug weggenommen hat.“

      Lewis konnte bei ihren Worten unschwer erkennen, dass die Dinge im Hause Miller nicht unbedingt zum Besten standen. Bernice hielt auch jetzt den Kopf gesenkt und spielte nervös mit ihrer leeren Tasse. Das sah ja beinahe so aus, als hätten sie beide schon lange darauf gewartet, sich aussprechen zu können.

      „Und dein Vater?“, wagte Lewis zu fragen.

      „Mein Vater ist auf niemanden gut zu sprechen, der weiß, was er will und dessen Familie eine Geschichte hat.“

      „Eine Geschichte?“

      „Nun ja, einen Name, den das Volk kennt. Einen Name, der etwas zählt.“

      „Und die Left Hands haben eine solche Geschichte? Gut oder schlecht?“

      „Beides.“

      Bernice erhob sich plötzlich, nahm ihm seine Tasse ab und begann, das Geschirr in dem kleinen Waschbecken, das verloren an der großen weißen Wand hing, zu spülen. Dabei drehte Bernice Lewis den Rücken zu und schwieg. Ende des Gespräches.

      „Was ist los?“ Frustriert hob er die Hände. „Habe ich was Falsches gefragt?“

      Bernice stellte die Tassen wieder ordentlich neben die Kaffeemaschine und trocknete sich sorgfältig die Hände ab, bevor sie sich umwandte und Lewis, dessen Blick sie kaum zu ertragen vermochte, fest in die Augen sah. Sie hoffte, dass er verstehen würde, warum sie ihm nicht alles sagen konnte. Warum er seine eigene Version der Geschichte finden musste. „Du solltest heute lieber nicht mehr nach Pine Ridge fahren.“

      Sie zwang ihre Stimme in einen neutralen Tonfall.

      „Der Wetterbericht hat einen Blizzard angekündigt und du würdest Pine Ridge frühestens gegen zehn Uhr abends erreichen. Da ist alles dicht. Die Papiere laufen dir nicht weg.“

      Hoffte sie zumindest und verschränkte ihre Finger zu komplizierten Mustern. Sie fröstelte trotz der Wärme, die die Heizung ausstrahlte. Musste sie ihm alles erklären? Sah er denn wirklich nicht ein, dass es an ihm war, die Wahrheit zu finden? Er wusste die einfachsten Dinge nicht, hatte keine Ahnung, wie die Dinge hier liefen. Sie zögerte.

      „Ich könnte aber noch dort anrufen und denen sagen, dass du in den nächsten Tagen vorbeischaust“, bot sie ihm an, doch Lewis rührte sich nicht, sondern sah sie nur verständnislos an. Dann stand er plötzlich auf und ging zur Tür. Bernice hielt ihn nicht auf, sah nur zu, wie er das Zimmer verließ und die Tür leise hinter sich schloss. Da sprang sie auf.

      „Lewis!“

      Zuerst ging er einfach weiter, doch dann blieb er stehen und wandte sich um. Sein Gesicht zeigte denselben gleichgültigen Ausdruck wie vorhin, als sie ihn das erste Mal angesprochen hatte. Bernice lief Lewis ein zweites Mal hinterher und blickte ihm abschätzend in die Augen. Sie erkannte Selbstmitleid, wenn sie es sah.

      „Lewis? Ich kann dir nicht mehr sagen. Aber wenn du willst, können wir gemeinsam nach Pine Ridge fahren.“ Was redete sie denn da? War sie verrückt geworden?

      „Nein. Schon gut, Bernice.“

      Lewis gelang es, seine starren Gesichtszüge neu zu ordnen. Er merkte selbst, dass er sich wie ein schmollender Junge benahm und konnte es Bernice nicht verübeln, wenn sie die Geduld verlor. Immerhin hatte sie ihm in einer Stunde mehr erzählt als er in den letzten drei Monaten in Erfahrung gebracht hatte. Vielleicht lag es ja wirklich an ihm. Vielleicht sollte er einfach etwas tun, anstatt immer nur abzuwarten. Vielleicht gehörte er aber einfach nicht hierher. Ja, er gehörte nirgendwohin. Fast wünschte er, er wäre tot.

      „Danke für den Kaffee und das Gespräch. Hat mich gefreut.“ Lewis hatte gelernt höflich zu sein, wenn es die Situation erforderte. Höflich und überzeugend. Bernice Miller sollte sich keine Sorgen machen und auch sonst nichts, was seine Person betraf. Er lächelte.

      „Ein Anruf ist wohl nicht nötig. Ich denke, ich fahre in den nächsten Tagen nach Pine Ridge.“ Sie hob zweifelnd ihre Augenbrauen und er beeilte sich weiterzusprechen, um ihren Argwohn zu zerstreuen. „Keine Sorge. Ich muss nur noch einmal über alles nachdenken. Also, nochmals vielen Dank. Bye.“

      Lewis schüttelte ihre Hand, die sie ihm willenlos überlassen hatte und die nun für einen kurzen Moment schlaff zwischen seinen Fingern hing. Dann ließ er sie los und wandte sich endgültig ab. Bevor die Tür hinter ihm zuschlug, rief er über die Schulter zurück, dass sie Alma von ihm grüßen möchte. Dann war er fort und die Tür schloss sich mit einem saugenden Geräusch. Ein paar Schneeflocken, Vorboten des Sturmes, landeten vor Bernices Füßen, wo sie innerhalb von Sekunden schmolzen und sich mit den feuchten, braunen Flecken vermischten, die frühere Besucher an diesem Tag hinterlassen hatten.

      Bernice starrte durch die Scheiben der Glastür und beobachtete, wie Lewis Left Hand in seinen verbeulten Wagen stieg, den Motor anließ und langsam vom vereisten Parkplatz des Tribal Office schlingerte. Sie hob fröstelnd die Schultern und ging zurück in ihr Büro, wo sie sich steif und ungelenk an ihren Schreibtisch setzte, den Computer einschaltete und gedankenverloren die Wellen beobachtete, die über den blauen Bildschirm krochen.

      Lange Zeit saß Bernice einfach nur da. Niemand störte sie. Obwohl oder gerade weil das Büro an diesem Tag unterbesetzt war. Viele Leute hatten die Grippe. Manche hielten es für besser, das Haus heute nicht zu verlassen, sondern vorsichtshalber den angekündigten Blizzard abzuwarten. Es war nichts los. Bernice schaltete kurzerhand den Computer wieder aus und entschloss sich, früher nach Hause zu gehen. Zu dieser Jahreszeit brauchte sie mindestens eine Stunde zum Haus ihrer Eltern. Wäre Alma hier gewesen, hätte sie Bernice jetzt auch losgeschickt, damit sie noch vor der Dunkelheit daheim ankam. Sie räumte auf, schlüpfte in ihren Mantel und schloss das Büro


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