Sturmgeflüster. Alexandra Walczyk

Sturmgeflüster - Alexandra Walczyk


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Augen kurz an und schwieg. Alma erschrak beim Anblick von Lewis Gesicht, das in allen Regenbogenfarben schillerte, und holte tief Luft.

      „Was ist passiert?“

      Lewis versuchte zu blinzeln, was ihm angesichts der Blutergüsse um beide Augen nicht so recht gelingen wollte. Er fuhr sich mit der Zunge über seine aufgeplatzte Unterlippe und brachte, trotz der Schmerzen, ein bescheidenes Grinsen zustande.

      „Ich habe über jemanden gelacht, der meine Späße gar nicht komisch fand.“

      Alma lächelte vorsichtig zurück und wiederholte ihre Frage.

      Er schien sie zuerst gar nicht wahrnehmen zu wollen, aber dann überlegte er es sich anders. Er war froh, dass sie da war. Froh, dass sich jemand um ihn sorgte. Trotz allem.

      „Ich habe mit Bernice Miller über meinen Vater gesprochen.“

      „Ja, ich weiß. Sie macht sich Vorwürfe deswegen.“

      Lewis sah seine Besucherin erstaunt an. „Aber das braucht sie nicht! Ich war froh, endlich mit jemandem darüber reden zu können.“ Er sah, wie Alma schuldbewusst den Kopf senkte, und beeilte sich fortzufahren.

      „Bernice trifft keine Schuld an dieser Sache hier. Das habe ich mir selbst eingebrockt, okay?“ Lewis sah an Alma vorbei und fixierte einen imaginären Punkt an der gegenüberliegenden Wand so intensiv, dass Alma versucht war, sich umzudrehen.

      Lewis redete weiter. „Möchten Sie vielleicht den Witz hören, den ich in der Bar zum Besten gegeben habe?“

      Alma verschluckte das Nein, das ihr auf der Zunge lag und nickte widerstrebend. Der Junge wirkte völlig verändert, aber sie war sich keineswegs sicher, ob ihr die Veränderungen gefielen oder nicht. Sie wartete auf den Witz.

      „Ich habe denen erzählt, dass ich ein Vollblut-Sioux auf Entdeckungsreise bin und hier nach meinem toten Daddy suche. Die Pointe ist mir leider entfallen, aber der Mann neben mir lachte und sagte etwas von einem ‚roten Hurensohn‘ und einem ‚Scheißindianer, der sich gefälligst verpissen sollte, bevor sie ihm auf die Sprünge helfen müssten‘. Da habe ich rot gesehen und zugeschlagen.“ Lewis lachte bitter auf und hustete.

      Es trat eine betretene Stille ein. Alma hielt den Blick noch immer gesenkt und saß reglos auf ihrem Stuhl. Lewis tastete vorsichtig nach seinem zugeschwollenen linken Auge und verlagerte sein Gewicht, so dass er die Ellbogen auf den Tisch legen konnte, um seinen schweren Kopf mit den Händen halten zu können. Er hatte höllische Kopfschmerzen.

      „Es war das erste Mal seit Langem, dass ich mich wieder geprügelt habe“, nuschelte er kaum hörbar. „Ich fand Schlägereien schon immer idiotisch. Vom Saufen ganz zu schweigen.“

      Lewis schien sich jetzt mit der Tischplatte zu unterhalten, aber Alma hob den Kopf und sah ihn forschend an. Sie lauschte dem Klang seiner Stimme nach, denn sie glaubte etwas darin gehört zu haben, das sie zutiefst erschreckte. Zuerst hielt sie es für Müdigkeit, Nachwirkungen seines Rausches und der Schlägerei, doch je länger sie ihm zugehört hatte, desto mehr bestätigte sich ihr Verdacht. Lewis Left Hand hatte endlich aufgehört, sich selbst zu bedauern, weil er plötzlich einen Ersatz für dieses Gefühl gefunden hatte. Lewis Left Hand hatte resigniert. Aufgegeben.

      Alma widerstand dem Drang, ihn an den Schultern zu packen und durchzuschütteln. Stattdessen fasste sie sich ein Herz. „Dein Vater wurde in einer Kneipe wie dieser erschossen. Anschließend schafften sie seine Leiche nach Pine Ridge, legten sie in ein Auto und schoben den Wagen über eine Klippe in den Badlands.“ Alma schickte ein wortloses Gebet in die heiligen vier Richtungen und bat um Hilfe für sie beide, bevor sie noch hinzufügte: „Es hieß, John Left Hand hätte in betrunkenem Zustand die Kontrolle über den Wagen verloren und einen tödlichen Unfall in unübersichtlichem Gelände gehabt.“

      Lewis hob das Gesicht aus seinen Händen und starrte Alma an, als wäre sie ein Geist. Der Geist redete unbeirrt weiter.

      „Aber es war kein Unfall. Es war Mord!“

      Lewis bewegte die Lippen und brachte keinen Ton heraus. Alma schluckte.

      „Und dein Vater war mit Sicherheit nicht betrunken.“

      Lewis räusperte sich und fand seine Stimme wieder. „Warum erzählen Sie mir das? Jetzt?“

      „Ich denke, du solltest es wissen.“ Alma sah ihm fest in die Augen und hielt seinem verletzten Blick stand. „Es steht nicht viel in den Unterlagen, die in Pine Ridge liegen, aber es gibt Hinweise und eine Akte über deinen Vater … und andere. Das FBI und … und andere wissen Bescheid. In nächster Zeit wirst du jedoch kaum Gelegenheit erhalten, dich darum zu kümmern. Und es wäre unklug, dir die Papiere hierher zu bringen oder …“

      Der Wärter drehte den Schlüssel im Schloss und Alma zuckte zusammen. Lewis lehnte sich vor und griff nach ihren Händen. Seine Stimme war ein heiseres Flüstern.

      „Warum haben Sie mir das alles nicht früher erzählt, verdammt nochmal?“

      Alma blickte ihm ruhig in sein wutverzerrtes Gesicht, bemerkte die mühsam unterdrückten Tränen in seinen Augen, die er verzweifelt zurückzuhalten versuchte, und löste vorsichtig ihre Hände aus seinem fordernden Griff. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit.

      „Es ist nicht unsere Art, Lewis. Schlimme Dinge sind geschehen. Aber du musst deine eigene Wahrheit finden, dann findest du auch dich selbst.“

      Die Tür öffnete sich und der Beamte betrat den Raum. „So Leute, die Besuchszeit ist um.“

      Alma erhob sich. Lewis stand langsam auf und hielt ihren Blick fest. Sie lächelte ihm zu. „Keine Sorge, es gibt einen Weg. Und wir werden dich hier rausholen!“

      An der Tür drehte sie sich noch einmal um. Ihr Herz machte einen erschrockenen Hüpfer, als ihr John Left Hand in Gestalt seines Sohnes in die Augen sah. Hatten sie ihn auch so zugerichtet, bevor sie mit ihm fertig waren? Almas Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Hastig ging sie hinaus.

       Minneapolis, Winter 1987

      Am Sonntagmorgen hatte das Sheriffbüro die Stammespolizei informiert und gleich nach ihrem Besuch bei Lewis setzte sich Alma mit Bernard Little Horse in Minneapolis in Verbindung. Dieser wandte sich ohne zu zögern an den Anwalt Raymond Burns, von dessen Engagement für die Indianer Bernard sehr angetan war. Burns hatte schon öfter mit Fällen zu tun gehabt, bei denen latenter bis offener Rassismus im Spiel war. Sein besonderes Interesse galt dabei den Ureinwohnern, deren Bevölkerungsanteil in manchen Städten wie Minneapolis relativ hoch war. Trotz eigener Community und sichtbaren Verbesserungen während der letzten Jahre, stellten sie dennoch nur eine Minderheit dar, die sich verzweifelt gegen die stetig steigende Kriminalität zur Wehr zu setzen versuchte.

      Burns Engagement kam dabei nicht von ungefähr, denn sein Schwiegervater und ehemaliger Arbeitgeber hatte sich zu seinen Lebzeiten mit Haut und Haaren der Bürgerrechtsbewegung verschrieben, und dabei auch immer wieder Mitglieder von AIM, dem American Indian Movement, vertreten.

      Als Bernard Little Horse, Stammesratsmitglied der Brulé Lako- ta, persönlich um Burns Rechtsbeistand für einen jungen Mann namens Left Hand bat, klingelten bei dem Anwalt die Alarmglocken. Der Name erregte Raymonds Aufmerksamkeit und so rief er vor seinem Termin mit Little Horse seine Exfrau Mary-Ann an.

      Am frühen Nachmittag tauchte Raymond wie verabredet bei Mary-Ann auf, um sie mit Fragen nach einem ehemaligen Klienten ihres Vaters zu löchern. Ob sie den Namen Left Hand schon einmal gehört hätte? Ob sie die alten Akten ihres Vaters aufbewahrt hätte?

      Mary-Ann stand mit verschränkten Armen in der Küche und wartete darauf, dass ihrem Ex endlich die Luft ausging und sie ihm sagen konnte, was sie von ihm und ihrem Vater hielt. Während sie sich den Namen durch den Kopf gehen ließ, musste sie widerwillig zugeben, dass er tatsächlich eine Erinnerung geweckt hatte. Abrupt entfaltete Mary-Ann ihre Arme und ließ Raymond einfach stehen. Bevor er sich von seiner Verblüffung erholen konnte, kam sie bereits mit einem Aktenordner und einem schmalen, ledergebundenen Buch wieder zurück.

      „Hier, das ist alles, was ich


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