Sturmgeflüster. Alexandra Walczyk

Sturmgeflüster - Alexandra Walczyk


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diesen ganzen Aktenmüll hinausgeworfen, aber hier …“ Mary-Ann zögerte und strich sanft mit den Fingern über das abgegriffene Leder des Buches. Schließlich wischte sie energisch ihre Erinnerungen beiseite und hob den Kopf. „Dieser Fall war eine Ausnahme. Ich weiß nicht viel über die Fakten, es ist sehr lange her, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass dieser Fall hier die Ursache für Vaters Tod war. Zumindest indirekt.“

      Sie reichte Raymond die Akte und das Buch mit den Worten: „Ray? Versprich mir, dass du vorsichtig sein wirst. Wir sind vielleicht nicht besonders gut miteinander ausgekommen, aber ich will nicht, dass du endest wie Dad!“

      Burns schluckte trocken, drückte die Akten an sich und musterte Mary-Anns zweifelndes Gesicht. Er räusperte sich und amüsierte sich über ihre Sorge, antwortete aber ernst: „Annie, dein Vater hat Selbstmord begangen. Wieso sollte das ausgerechnet etwas mit diesem Fall zu tun gehabt haben, um Himmels Willen? Das war vor zwanzig Jahren. Aber dein Vater hat sich erst viel später umgebracht, oder etwa nicht?“

      Mary-Anns Zweifel und ihre Sorge hatten sich bei den Worten ihres Exmannes umgehend in Ungeduld und Zorn verwandelt. Es hatte sich nichts geändert und so zischte sie ihm jetzt zwischen zusammengebissenen Zähnen zu: „Dad wollte den Fall wieder aufrollen, du Idiot!“

      „Was?!“

      „Er war auf irgendetwas gestoßen. Reiner Zufall. Er ging zum FBI, stellte denen eine Menge Fragen, fuhr sogar nach South Dakota und nahm sich die dortigen Akten noch einmal vor, bis er sich vier Wochen später auf einem Parkplatz in Rapid City erschossen hat.“

      „Rapid City? Was redest du da? Er ist doch hier in seinem Büro gestorben?“

      „Nein, ist er nicht.“

      Mary-Anns Stimme klang seltsam tonlos. Erschöpft zog sie sich einen Stuhl heran, ließ sich müde darauf sinken und bat Raymond um ein Glas Whiskey. Vorsichtig nippte sie daran und verzog das Gesicht. Burns wartete.

      „Okay“, meinte sie schließlich. „Ich sehe ein, dass es jetzt kein Zurück mehr gibt, oder?“

      Raymond nickte und trank einen Schluck aus der Flasche. Mary-Ann überlegte. „Wo fange ich an? Die sechziger Jahre. Wir waren Kinder und haben wohl nicht viel mitgekriegt außer der Mondlandung.“ Pause. „Die sechziger Jahre müssen mörderisch gewesen sein für manche Menschen. Na ja, wahrscheinlich nicht nur die Sechziger. Egal. Nicht nur die schwarzen Bürgerrechtler gingen auf die Straße, sondern auch die Indianer meldeten sich zu Wort. Aber das brauche ich dir als Anwalt in Sachen Bürgerrechte nicht zu erzählen.“

      Sie schwieg einen Moment und ließ ihm Zeit, sich an gemeinsame Zeiten zu erinnern. Ihr Vater und später auch ihr Mann hatten sie ihm Stich gelassen, um für ihre höheren Ideale zu kämpfen. Ihre Ehe war dabei auf der Strecke geblieben. Aber das war vorbei. Vielleicht war es nun an der Zeit, dass sie sich selbst um einige Ideale kümmerte. Mary-Ann trank aus.

      „Vater hatte einen Fall angenommen, der ihm schon bald über den Kopf wuchs. Das American Indian Movement war an ihn herangetreten und hatte ihn gebeten, sich einige von ihnen zusammengestellte Fakten und Beweise zum Tod eines Sioux-Indianers namens John Left Hand anzusehen. Dad wollte zuerst ablehnen, überlegte es sich aber dann anders. Left Hand war nämlich kein Unbekannter. Das FBI hatte Berge von Akten über ihn, das heißt über seine Aktivitäten zu seinen Lebzeiten, aber nichts über seinen Tod. Zumindest nichts Offizielles. Es schien aber so, als hätte Left Hands Tod einige Dinge ins Rollen gebracht, die später zur Besetzung von Wounded Knee führen sollten. AIM behauptete, es wäre kein Unfall, sondern Mord gewesen. Und zwar nicht der einzige.“

      Mary-Ann lehnte sich zurück und hielt Raymond ihr leeres Glas entgegen. Er beeilte sich nachzuschenken. Sie trank und schloss für einen Moment die Augen.

      „Dad erhielt mehrere Warnungen. Dabei konnte er sowieso nicht viel unternehmen, da es keine Leiche mehr gab. Das Sheriffbüro, das FBI … alle arbeiteten zusammen, um den Fall Left Hand aus dem Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit herauszuhalten. Er wurde als Unfall eingestuft und kam nicht einmal vor Gericht. Fünf Jahre später kam es im Sioux-Reservat Pine Ridge zum Wounded-Knee-Desaster und Dinge wurden ans Licht gezerrt, von denen keiner hören wollte. Plötzlich stand auch der Name Left Hand in allen großen Zeitungen des Landes und Dad, der über all die Jahre penibel Tagebuch geführt hatte, witterte Morgenluft und arbeitete wieder eng mit verschiedenen AIM-Füh- rern zusammen, die einen Prozess anstreben wollten, was natürlich gar nicht gerne gesehen wurde. Eines Abends sagte Dad beiläufig, dass er für einige Zeit nach South Dakota müsste, um lose Fäden zu verknüpfen und einen Zeugen zu sprechen. Tja, das nächste, was wir von ihm hörten, war, dass er Selbstmord begangen hätte. In seinem Büro, wie du schon sagtest. Was aber nicht stimmte.“

      „Was soll das heißen?“ Raymond hatte sich vorgebeugt.

      „Wir wussten, dass er in Rapid City war. Außerdem ist denen ein peinlicher Fehler unterlaufen.“ Mary-Ann lächelte freudlos.

      „Bevor das FBI kam, erhielt Mutter einen Anruf von der örtlichen Polizeidienststelle in Rapid City. Sie teilten ihr mit, dass ihr Mann sich erschossen hätte und fragten, was mit der Leiche geschehen sollte. Keine Stunde später, wir waren in Tränen aufgelöst und Mutter packte schon ein paar Sachen, da stand das FBI vor der Tür. Zwei Agenten teilten uns mit, dass Vater tot in seinem Büro aufgefunden worden wäre.“ Mit Mühe hielt Mary-Ann nun ihre Tränen zurück. „Mutter brach zusammen. Sie fragte nicht und wollte von nichts wissen. Alles war so schnell gegangen.“

      „Warum habt ihr zu niemandem etwas gesagt?“ Raymond schüttelte fassungslos den Kopf. „Warum hast du mir nie etwas davon gesagt, Mary-Ann? Dein Vater war mein Chef, mein Mentor … ich, wieso habt ihr mir nicht vertraut?“

      „Man hat uns sehr deutlich nahegelegt, die Sache für uns zu behalten. Wir waren gerade mal ein Jahr verheiratet, Ray, und es stand damals schon nicht mehr zum Besten. Du warst nie da, wenn ich dich brauchte. Was Vater anbelangt, so glaube ich, dass er dich aus allem heraushalten wollte, was deiner Karriere längerfristig hätte schaden können.“

      Mary-Ann schluckte und versuchte nicht an die Schrecken der Vergangenheit zu denken, aber sie ließen sich nicht mehr verdrängen. Nicht, nachdem sie ausgesprochen waren. Nicht, nachdem Namen genannt worden waren, die für immer hätten verschwiegen werden sollen. Mary-Ann stützte den Kopf in die Hände und dachte an ihre Mutter, die sich bis heute weigerte, die Anordnungen des FBI in Frage zu stellen. Die sich geweigert hatte, mit den Vertretern von AIM zu sprechen, und die ihrer Tochter verboten hatte, die Entscheidungen ihrer Mutter anzuzweifeln. Und nun?

      Raymond war aufgestanden und tigerte aufgeregt durch ihre Wohnung. Er gab sich Mühe, das eben Gehörte zu verdauen und begann sich zu fragen, was ihm seine Frau und sein Schwiegervater noch alles verheimlicht hatten. War er wirklich so blind gewesen? In all den Jahren? Was für eine Art von Anwalt war er eigentlich? Mary-Ann schien seine Gedanken zu lesen und lächelte ihm wehmütig zu.

      „Du bist ein guter Anwalt, Ray. Aber du hattest von Anfang an mehr für deine Karriere übrig als für deine Familie. Dad war tot, daran war nichts mehr zu ändern. Mom wollte mit der Kanzlei nichts mehr zu tun haben und du hattest deine Fühler gerade nach Washington ausgestreckt. Das war’s dann. Alles, was von damals geblieben ist, hältst du in Händen.“

      „Wie bist du zu der Akte und dem Tagebuch gekommen? Nach dem, was du mir gerade erzählt hast, hätte ich angenommen, das FBI hätte alles beschlagnahmt.“

      „Haben sie auch. Sogar Dads private Unterlagen.“

      „Also?“

      „Hm, eine Woche nach dem Tod meines Dads erhielt ich ein Päckchen aus South Dakota. Kein Absender. Es enthielt die Akte und das Tagebuch, sonst nichts. Ich habe es behalten, aber ich brachte es nicht über mich, es zu lesen. Darum …“ Sie hob die Schultern in einer hilflosen Geste und sah ihn forschend an.

      Raymond nickte nur und meinte: „Schon gut. Ich verstehe.“

      „Tust du das wirklich, Ray?“

      Mary-Ann wusste nicht, ob sie wirklich wollte, dass er das alles erfuhr. Aber sie wusste, dass dies womöglich die letzte


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