Sturmgeflüster. Alexandra Walczyk

Sturmgeflüster - Alexandra Walczyk


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vier Uhr nachmittags und außer Bernice war niemand mehr im Haus. Also schloss sie auch die Eingangstür, durch die Lewis vor ungefähr einer Stunde verschwunden war, hinter sich ab. Der Wind, der draußen über sie herfiel, war schneidend und bitterkalt, so dass es ihr die Tränen in die Augen trieb. Sie wickelte sich fester in ihren Mantel, zog den Schal vor das Gesicht und stieg vorsichtig die vereiste Treppe hinunter.

      Der Schneefall war dichter geworden und die anhaltende Dämmerung des Tages ging rasch in die Dunkelheit über. Bernice kratzte notdürftig die Scheiben ihres Wagens frei und ließ dabei den Motor laufen. Durchgefroren setzte sie sich schließlich auf den Fahrersitz und zog die Tür zu. Das Innere des alten Fords war noch immer eisig kalt und die Heizung röchelte und ächzte bei jedem warmen Luftstoß, der sich durch die Lüftungsschlitze quälte. Bernice, die ihre Hände in die Achselhöhlen gesteckt hatte, zog sie nun wieder hervor und steckte sie in ihre Fäustlinge, die sie auf die Lüftung gelegt hatte. Langsam lenkte sie das Auto vom Parkplatz, während sich ihre Gedanken überschlugen.

      Sie hatte sich nicht von seinem Lächeln täuschen lassen und war überzeugt davon, dass etwas Schlimmes geschehen würde. Man mischte sich eben nicht ungestraft in die Angelegenheiten anderer Leute ein. Das gehörte sich nicht. Wenn nur ihre Großmutter hier gewesen wäre. Die alte Frau hätte sicher einen Rat gewusst. Bernice hielt an der Kreuzung, obwohl weit und breit kein anderes Fahrzeug zu sehen war. Allerdings konnte man auch nicht mehr allzu weit sehen, da das Schneegestöber immer dichter wurde. Schließlich traf Bernice eine Entscheidung und bog nach links ab.

      Sie würde Left Hand nicht hinterher fahren. Ihr Verstand sagte ihr, dass das bei diesem Wetter Irrsinn wäre. Selbst wenn Lewis, wie sie vermutete, nicht direkt zu sich nach Hause gefahren war, was hätte sie schon tun können? Wo hätte sie ihn suchen sollen? Da ihr Gefühl jedoch eine andere Sprache sprach, hatte sie beschlossen, den Weg zwischen den beiden offensichtlichen Möglichkeiten zu gehen. Sie fuhr zum Haus der Little Horses.

      Ihre Hoffnung, Bernard dort anzutreffen, wurde gleich darauf enttäuscht, als ihr seine Frau die Tür öffnete und meinte, dass Bernhard vor ein paar Minuten angerufen hätte, um ihr mitzuteilen, dass alle Flüge von Minneapolis nach Rapid City oder Pierre wegen des Blizzards ausfallen würden.

      „Bernard ist in Minneapolis?“

      „Aber ja. Wussten Sie das nicht, Bernice?“ Eileen Little Horse musterte die junge Frau, die mit entgeisterter Miene vor ihr stand, und kam zu dem Schluss, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.

      „Kommen Sie herein, bevor wir beide auf der Treppe festfrieren! Kommen Sie!“

      Sie zog Bernice in die Wärme des Hauses, half ihr aus dem Mantel und drückte sie auf einen der Stühle in der Küche. Im Zimmer nebenan saßen zwei Mädchen im Teenageralter auf dem Sofa und sahen sich einen Videofilm an. Ein zehnjähriger Junge lag bäuchlings auf dem Boden, vor sich eine Tüte Kartoffelchips, und verfolgte wie seine beiden Schwestern gebannt das Geschehen auf dem Bildschirm. Die drei hatten kaum aufgesehen, als ihre Mutter mit dem unerwarteten Besuch in die Küche kam. Eileen Little Horse setzte Teewasser auf, warf einen flüchtigen Blick auf ihre Kinder und wandte sich ihrem Gast zu.

      „Was ist los, Bernice? Sie sehen aus, als hätten Sie einen Geist gesehen.“

      Ihr kleiner Scherz versickerte ungehört in der wachsenden Verzweiflung, die sich auf dem Gesicht von Bernice wiederspiegelte. Sachte berührte Eileen den Arm des Mädchens. Dann schloss sie die Schiebetür zum Wohnzimmer und forderte Bernice auf, ihr alles zu erzählen, was sie auch ihrem Mann gesagt hätte. Sie unterbrach Bernice, aus der die Worte nur so heraussprudelten, kein einziges Mal. Als der Wasserkessel pfiff, drehte sie sich lediglich um und zog ihn vom Herd. Erst als Bernice fertig war, stand sie nachdenklich auf und bereitete den Tee zu. Stark und mit sehr viel Zucker. Vielleicht machte sich Bernice grundlos Sorgen. Vielleicht stand ihnen aber auch eine lange Nacht bevor.

      Lewis fuhr durch die Nacht.

      Als er Rosebud verließ, war es Tag gewesen und er war Richtung Parmelee gefahren. Doch als er auf den Highway nach Westen einbog, setzte bereits die Dämmerung ein, obwohl es erst kurz nach vier Uhr nachmittags war.

      Lewis schaltete das Licht ein und die Scheibenwischer. Der Wind kam in immer heftigeren Böen aus Norden und peitschte Schnee und Eis vor sich her. Die Lichtkegel der Scheinwerfer schoben sich schwerfällig durch die weiße Flockenwand und wurden bereits wenige Meter vor dem Wagen von der Dunkelheit verschluckt. Es war Nacht geworden. Lewis fuhr durch die Nacht. Obwohl es ihm eigentlich egal war, wohin er fuhr, wusste er instinktiv, dass Pine Ridge und die Unterlagen über seinen Vater das Ziel dieser Reise waren. Sollte er auf dem Weg zu diesem Ziel allerdings erfrieren, auch gut. Wer wusste schon, was ihn in Pine Ridge erwartete? Unterlagen. Geister aus der Vergangenheit. Ein Vater, der ihn nicht haben wollte. Ein Volk, das er nicht verstand. Nichts. Niemand. Vor diesen letzten beiden fürchtete er sich am meisten.

      Lewis umklammerte das Lenkrad und kämpfte sich verbissen durch den schwersten Schneesturm dieses Winters. Er wusste es nicht, und wenn, dann wäre ihm auch das egal gewesen. Er merkte auch nicht, dass er sich nach einiger Zeit nicht mehr auf Reservatsland befand. Wäre es hell gewesen, hätte er die abgeernteten Felder sehen können, die sich nun anstelle des Graslandes zu beiden Seiten der Straße in die Nacht erstreckten. Übergroße Reklameschilder säumten seinen Weg. Doch er bemerkte es nicht.

      Erst als die Lichter von Martin durch den Sturm sickerten und Lewis auf kürzlich geräumten Straßen durch den größten Ort des Bennett County fuhr, vorbei an hell erleuchteten Geschäften und Schaufenstern, wurde ihm klar, dass er sich wieder in der Welt draußen befand. Er vermochte sein Glück kaum zu fassen.

      Lewis konnte es immer noch nicht fassen, als er in der dritten Kneipe ein Bier oder einen Schnaps zu viel trank und dem bärtigen Mann an der Theke neben ihm seine Faust mitten ins Gesicht rammte. Er fühlte Fleisch und Knorpel nachgeben, als das Nasenbein brach. Seine Fingerknöchel schmerzten und er beobachtete fasziniert, wie das Blut aus der gebrochenen Nase des Mannes schoss und ihm in die Mundwinkel lief. Lewis lachte. Dann wusste er nichts mehr von sich.

      Zwei Tage später, der Blizzard hatte sich ausgetobt und war weiter nach Süden gezogen, klingelte das Telefon im Büro der Stammespolizei von Rosebud. Minuten später wusste auch Alma Yellow Hat Bescheid: Lewis Left Hand saß wegen Trunkenheit und Körperverletzung im Gefängnis von Martin und verlangte einen Anwalt zu sprechen.

      Der Sheriff äußerte sein Befremden über einen juristisch wohlinformierten jungen Burschen aus dem Reservat, der offenbar seinen Platz in der Weltordnung noch nicht kannte.

      Bernard Little Horse, der noch immer in Minneapolis festsaß, wurde informiert und versprach, so schnell wie möglich zu kommen. Inzwischen machte sich Alma Yellow Hat von Rosebud aus auf den Weg nach Martin. Es war Sonntag und sie hatten Glück gehabt, dass das Sheriffbüro sie informiert hatte.

      „Mein Name ist Alma Yellow Hat. Ich komme aus Rosebud, um Lewis Left Hand zu besuchen. Man hat uns angerufen und zugesichert, dass ich heute noch eine Besuchserlaubnis erhalten würde.“

      „Ah ja. Miss Yellow Hat. Einen Augenblick, bitte.“

      Alma wartete, dann wurde sie von einer Beamtin gebeten, ihr zu folgen.

      „Sie haben zehn Minuten, Miss Yellow Hat.“

      „In Ordnung.“

      Alma betrat den kleinen Raum, der als Besucherzimmer diente, und setzte sich auf einen der beiden Stühle, die an dem Tisch in der Mitte des Raumes standen. Sie wartete und hatte Angst. Angst vor dem, was ihr in einem gefangenen Lewis begegnen mochte, und Angst, weil sie nicht wusste, was sie ihm sagen sollte. Es war aber gut gewesen, dass Bernice mit ihm gesprochen hatte. Auch wenn niemand mit diesem Ausgang hatte rechnen können. War vielleicht doch etwas Wahres an dem Spruch, dass ein Left Hand nichts als Ärger machte? Alma erinnerte sich an diese Worte, mit denen ihre Mutter sie vor John gewarnt hatte. Das war lange her. John war tot. Sein Sohn aber lebte.

      Die Tür wurde geöffnet und Almas Gedankengänge unterbrochen. Ein Polizeibeamter führte Lewis herein, verließ den Raum und stellte sich draußen neben die Tür. Wenn er wollte, konnte er durch das kleine Fenster in der Tür alles beobachten. Aber es interessierte


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