Sturmgeflüster. Alexandra Walczyk

Sturmgeflüster - Alexandra Walczyk


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los war.“ Er schüttelte den Kopf und verscheuchte den letzten Rest Benommenheit. Seine Augen glitten an ihrem Körper entlang und er merkte, dass ihm das Blut in den Kopf schoss.

      „Schon gut.“ Die Worte waren leise und hastig aus ihrem Mund geschlüpft und Lewis sah, dass sie rot geworden war. Er lächelte. Sie senkte rasch den Kopf, murmelte etwas und wollte an ihm vorbeigehen. Lewis griff nach ihrem Arm. Die ganze Zeit schon hatte er mit ihr sprechen wollen. Jetzt war die Gelegenheit da und sein Hirn machte Pause. Fieberhaft überlegte er, was er ihr sagen konnte. Noch immer hielt er ihren Arm. Sein Herz raste. „Schönes Kleid.“ Bescheuert, aber immerhin.

      Sie drehte sich um und er glaubte, ein amüsiertes Glitzern in ihren Augen zu sehen, als sie ihn jetzt prüfend ansah.

      „Gefärbtes Betttuch.“

      Wollte sie sich über ihn lustig machen? Sie lachte, löste ihren Arm aus seinem Griff und ging weiter. Lewis starrte ihr nach, bis sie in der Menge verschwunden war. Komisch. Er fühlte sich besser. Froh irgendwie. Sein Herz beruhigte sich wieder.

      Dann war sein Vater da! Auch darüber war Lewis froh. Sein Vater. Ob sie nun blutsverwandt waren oder nicht, sie waren beide hier. Nichts sonst zählte im Augenblick.

      Andrew und Lewis hatten lange miteinander geredet. Andrew erzählte seinem Sohn Geschichten aus der Vergangenheit. Redete von Leben und Tod, von Liebe und Einsamkeit und wich der Wahrheit nicht mehr aus. Molly war tot. Sie war tot, weil sie es so gewollt hatte. Lewis nickte nur. Die Nachricht vom Tod seiner Mutter brachte die Dinge wieder ins Lot und zum milden Erstaunen seines Vaters schien Lewis eher heiter und gelöst auf die traurige Nachricht zu reagieren. Das machte es leichter für ihn zu sagen, was er zu sagen hatte:

      „Lewis, das hier ist Bernard Little Horse. Er ist Stammesratsvorsitzender. Es gibt da etwas, das du wissen solltest.“ Andrew räusperte sich und schwieg.

      Bernard Little Horse, ein imposant wirkender Mann um die Vierzig, schüttelte Lewis ohne erkennbaren Druck die Hand und meinte, er sollte sich keine Sorgen wegen der Leute machen. Sie würden ihn schon irgendwann mögen, sobald sie ihn erst besser kannten. Wenn nicht, würde er persönlich dafür Sorge tragen. Alle lachten. Dann wurde Bernard wieder ernst.

      „Was die Familie deines Vaters anbelangt, da gibt es niemanden mehr, außer vielleicht einer Tante, aber niemand von uns weiß, was aus ihr geworden ist.“ Er sah in die Runde. „Aber das Haus gehört nun dir. Du bist Johns Sohn. Sonst ist niemand da. Es handelt sich um Stammesland und der Stamm hat es nur verwaltet, nicht weiterverpachtet. Sobald deine Herkunft und Stammeszugehörigkeit geklärt sind, kein Problem. Wenn du willst, dann bleib!“

      Sie sahen ihn erwartungsvoll an und Lewis wusste nicht, was er sagen sollte. Zu schnell bewegten sich die Dinge plötzlich. Zu überraschend kamen die Angebote: Haus, Land, Volk. Hilfesuchend sah er sich nach seinem Vater um.

      „Ich kann dir nicht sagen, was du tun sollst, aber ich kann dir einen Rat geben.“ Andrew holte tief Luft. „Bleib. Zumindest für eine Weile. Lass dir Zeit. Lerne deine Leute kennen.“ Er dachte an Molly und fuhr fort: „Lewis, deine Mutter und ich waren Suchende. Wir belogen uns selbst und einander, indem wir so taten, als wären wir glücklich.“ Andrew lächelte entschuldigend. „Wir haben uns geliebt, Lewis, aber das hat nicht genügt.“ Andrew hielt inne und berührte liebevoll Lewis Arm. Der Junge sah ihm starr in die Augen und Andrew hatte das Gefühl, dass er bereits ahnte, was nun kommen würde. Das machte den Abschied leichter. Andrew fasste sich ein Herz: „Lewis, ich gehe zurück nach Schottland. Ich habe schon vor Monaten damit begonnen, mich dort nach einer Arbeit umzusehen. Vielleicht hat Molly etwas gemerkt und …“

      Lewis schüttelte lächelnd den Kopf. Er sah mit einem Mal ein blaues Haus in der Ferne und sich selbst, wie er darauf zufuhr und eine gelbe Staubwolke hinter sich herzog. Es gab keine Schuld und keine Schuldigen. Was geschehen war, war geschehen. Wichtig war das Hier und Heute, geboren aus der Vergangenheit. Andrew erwiderte das Lächeln erleichtert: „Wann immer du mich brauchst, werde ich da sein. Europa ist nicht aus der Welt, weißt du!“

      Das Mädchen hatte Lewis nicht aus den Augen gelassen. Es war das dritte Mal, dass sie ihn gesehen hatte. Zuerst in Lower Brulé, dann Crow Creek und jetzt hier. Sie hatte sich den Hals verrenkt, um ihn beobachten zu können.

      Auch dieses Mal hatte er nicht getanzt, sondern hatte mit stoischem Gesichtsausdruck und abweisender Haltung an einem der Pfähle gelehnt, um seinerseits die Menge zu betrachten und doch durch sie hindurchzusehen. Er war nicht von hier, das war ihr gleich aufgefallen. Sie hatte ihre Freundin nach ihm fragen wollen, unterließ es aber und sehnte sich doch danach, mit ihm zu sprechen. Als sich die Tänzer zwischen sie geschoben hatten, hatte sie ihn kurz aus den Augen verloren. Dann hatte sie ihn wieder entdeckt. Völlig verändert. Erschrocken hatte sie beobachtet, wie er entgeistert zuerst über die Arena und dann, als er sich in den Schatten der Zweige zurückzog, über den Platz mit den Imbissbuden gestarrt hatte. Sie war seinem Blick gefolgt.

      Da waren eine Frau und ein Mann gestanden. Sie hatten sich dicht beieinander gehalten und hatten irgendwie schwerelos gewirkt. Wie Gedanken, schwer zu fassen. Beide hatten den jungen Mann besorgt gemustert. Ebenso wie das Mädchen, das daraufhin den Kreis der Tanzenden verlassen und sich dem Mann genähert hatte. Sie war außerstande gewesen, etwas dagegen zu tun. Es war inzwischen mehr als nur Neugier gewesen, die sie dazu trieb. Es war vielmehr eine Bitte gewesen, die in ihrem Inneren widerhallte. Das seltsame Paar hatte sie aufmunternd angelä- chelt und damit ihre Angst vertrieben.

      Als das Mädchen den Mann erreicht hatte, umklammerte er krampfhaft den Pfahl. Sie hatte gesehen, wie er dabei zitterte. Also hatte sie die Hand ausgestreckt und ihn an der Schulter berührt, um ihm die Angst zu nehmen. Er war zusammengezuckt und herumgefahren. Aschfahl im Gesicht. Ungläubig hatte er sie angesehen und die dröhnende Stille war dem Dröhnen der Trommeln gewichen, als die Dinge wieder an ihren Platz gerückt waren.

       Auf dem Festplatz drehten Molly und John eine letzte einsame Runde, bevor sie sich an den Händen fassten und mit den letzten Sonnenstrahlen hinaus über den Horizont tanzten.

       Zweites Kapitel

       Lewis Left Hand Schneegestöber

       Rosebud Reservation, Winter 1987

      Lewis stand im Wohnzimmer des blauen Hauses. Dem Haus seines Vaters. Seinem Haus. Jetzt. Wann immer er im Sommer Zeit gefunden hatte, war er mit Renovierungsarbeiten beschäftigt gewesen, um das alte Haus wieder bewohnbar zu machen. Vor allem aber auch winterfest.

      Bernard Little Horse, der inzwischen so etwas wie ein guter Onkel für Lewis war, hatte seinem Schützling von den harten Präriewintern erzählt und stand ihm auch sonst mit Rat und Tat zur Seite. Auch Alma Yellow Hat geizte nicht mit ihrer Zuneigung und wurde nicht müde in ihren Bemühungen, Lewis die Eingewöhnung zu erleichtern. Allerdings hielt sich der Erfolg in Grenzen.

      Von der Familie seines Vaters existierte tatsächlich niemand mehr. Die geheimnisvolle Tante war und blieb spurlos verschwunden. Der Name Left Hand bürgte offenbar für Schwierigkeiten. Mit dieser Tatsache musste Lewis sich abfinden, als er die schmerzliche Erfahrung machte, dass die Familie seiner Mutter nichts mit ihm zu tun haben wollte. Das waren eine Menge Leute, von denen keiner einen besonderen Wert auf Lewis Anwesenheit zu legen schien. Anfangs hatte Lewis den Grund für dieses feindselige Verhalten bei sich selbst gesucht, weil er ein Fremder war, weil er sich wie ein Weißer benahm und weil er ein Besitzer im Land der Besitzlosen war. Aber das allein war es nicht. Diese Art von Abneigung ging tiefer.

      Lewis hatte mit Bernard darüber gesprochen, doch der hatte nur gelacht und gemeint, dass die Leute einfach ein bisschen Zeit brauchen, um sich an ihn und seine seltsamen Großstadtmanieren zu gewöhnen. Danach hatte Little Horse rasch das Thema gewechselt. Offensichtlich wollte er nicht mit Lewis über dessen verworrene Familiengeschichte reden. Keiner wollte das. Manchmal dachte Lewis, dass er ebenso gut in New York hätte bleiben können. Dort kannte ihn wenigstens niemand. Hier dagegen schon. Mieden sie ihn wegen seines Vaters? Wenn ja, warum? Von seinem anderen Vater, der bereits eine Woche nach ihrem Wiedersehen abgereist war, hatte


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