Sturmgeflüster. Alexandra Walczyk

Sturmgeflüster - Alexandra Walczyk


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Dieser Dummkopf.

       Johns Mutter beruhigte ihn und meinte, dass ihr Enkel einfach nur Zeit brauchte. Er wäre zu lange weggewesen. Aber sie würden sich auf dem Powwow darum kümmern, dass alles wieder seine Richtigkeit haben würde.

       „Und dann?“ Johns Frage hallte durch die leeren Räume, so dass die Umstehenden die Köpfe hoben und sich nach ihm umsahen. „Dann“, meinte seine Mutter schmunzelnd, „dann wird es Zeit, dass wir uns auf den Weg machen.“

      Andrew Maclean versuchte sein Glück und wählte die Nummer der Auskunft. Auf die Frage, wie sie ihm helfen könnte, erklärte er der angenehmen Stimme am Telefon, dass er eine Nummer von South Dakota benötigte. Von einem Indianerreservat in South Dakota.

      „Welches Reservat, Sir?“

      „Äh, ich bin mir nicht sicher. Rosebud, glaube ich. Gibt’s das?“ Andrew war nervös.

      „Sicher, Sir. Rosebud Reservation. Den Namen, bitte.“

      „Mit dem Namen bin ich mir auch nicht sicher. Gibt es dort vielleicht ein Rathaus oder so?“

      „Einen Augenblick bitte, Sir.“

      Andrew wartete.

      „Sir? Da wäre das Rosebud Tribal Office. Soll ich Sie verbinden oder möchten Sie die Nummer?“

      Andrew zögerte. „Verbinden Sie mich, bitte.“ Sein Herz raste.

      Kurz darauf meldete sich erneut eine weibliche Stimme: „Rosebud Tribal Office. Alma Yellow Hat am Apparat.“

      „Ja, mein Name ist Andrew Maclean. Aus New York. Ich suche

      jemanden. Meinen Sohn. Oder besser, den Sohn meiner Frau. Ich …“

      Die Stimme am anderen Ende der Leitung schwieg und wartete. Andrew, der sich wie ein Idiot vorkam, riss sich zusammen und umfasste den Hörer fester. „Hören Sie, es ist wirklich wichtig. Meine Frau heißt … hieß Molly Walks Around The Water. Wir haben vor neunzehn Jahren geheiratet. Unser Sohn … ihr Sohn müsste sich derzeit im Reservat aufhalten. Er wollte dort nach seinem leiblichen Vater suchen. Jemand muss ihm sagen, dass seine Mutter gestorben ist.“

      Andrew schwieg erschöpft. Dies hier war seine letzte Hoffnung, die einzige Verbindung, die ihm zu Lewis geblieben war, seit er vor gut einem Monat plötzlich verschwunden war. Molly hatte sich geheimnisvoll gegeben und geschwiegen. Vor zwei Tagen war sie gestorben. Ein Unfall. Andrew glaubte es besser zu wissen. Er musste Lewis finden.

      „Mr Maclean?“ Die Stimme der Frau am anderen Ende seiner Welt rief ihn zurück in die Wirklichkeit. Zurück ins Hier und Jetzt. Andrew sog scharf die Luft ein.

      „Ja? Kennen Sie den Namen? Wissen Sie etwas über die Familie? Was …?“

      „Mr Maclean, wie heißt Ihr Sohn?“ Die Stimme blieb ruhig. „Lewis Alistair Left Hand Maclean.“

      „Einen Moment, bitte.“

      Andrew hörte, wie jemand eine Hand über die Sprechmuschel hielt und im Hintergrund mehrere Stimmen murmelten. Der Hörer wurde abgelegt und Andrew vermochte einzelne Stimmen zu unterscheiden, die sich jetzt aufgeregt miteinander unterhielten. Dann wurde der Hörer wieder aufgenommen und die dunkle Stimme eines Mannes war am Apparat.

      „Hallo? Mr Maclean? Sagten Sie, der Name wäre Left Hand?“

      „Ja, Left Hand. Zuerst dachte ich, Molly hätte den Namen als Vornamen gedacht, aber inzwischen vermute ich, dass es der Name von Lewis leiblichem Vater sein könnte. Liege ich damit richtig?“ Andrew wagte kaum zu atmen und bereute nicht zum ersten Mal in den letzten Tagen, dass er Mollys Verschwiegenheit in Bezug auf ihre Vergangenheit immer respektiert hatte.

      „John Left Hand Junior?“, unterbrach die Stimme seinen Gedankengang. Nicht gerade erfreut, so schien es Andrew. Besorgt hakte er nach. „Und? Was ist mit dem Mann? Ist er Lewis’ Vater?“

      „Nun“, meinte die Stimme bedächtig, „ zuerst einmal ist er tot. Und zwar seit fast zwanzig Jahren.“ Pause, dann: „Er starb, kurz nachdem Molly verschwunden war.“

      „Oh Gott!“ Andrews schlimmste Befürchtungen bestätigten sich. „Wie ist er denn gestorben?“

      „Wollen Sie die offizielle Version hören oder die Wahrheit?“ „Beides.“

      Und so erfuhr Andrew Maclean von Bernard Little Horse was damals geschehen war. Am Ende der Geschichte war Andrew davon überzeugt, dass die offizielle Version eine haarsträubende Verharmlosung der herrschenden Zustände war. Im Übrigen ging er auch davon aus, dass Mr Little Horse ihm von der Wahrheit nicht einmal die Hälfte erzählt hatte. Andrew war lange genug mit Molly verheiratet gewesen, um hinter das Schweigen blicken zu können.

      Als er Little Horse seine diesbezüglichen Überlegungen kundtat, meinte er ein verhaltenes Lachen am anderen Ende der Leitung zu hören.

      „Mir wird klar, warum Molly ausgerechnet Sie ausgesucht hat.“ Andrew stutzte. Wollte er mehr über Molly und ihre Beweggründe ihn zu heiraten erfahren? Wollte er mehr über John Left Hand wissen? Würde er überhaupt Antworten auf seine Fragen erhalten? Wieder unterbrach die Stimme von Little Horse seine Gedanken.

      „Hören Sie, Maclean, warum kommen Sie nicht einfach her? Am Wochenende findet unser alljährliches Powwow statt. Und wenn der Junge hier ist, kann es nicht schaden, wenn Sie gleich selbst mit ihm reden. Also?“

      Das Angebot kam überraschend. Ebenso der Gedanke, die Sache selbst in die Hand zu nehmen und vielleicht Mollys Familie zu treffen. Gemeinsam mit Lewis etwas über dessen Herkunft in Erfahrung zu bringen. Was immer Powwow auch bedeuten mochte, es klang aufregend. Andrew sehnte sich nach Ablenkung. „Machen Sie sich keine Sorgen, man wird Sie mit offenen Armen empfangen. Und wenn nicht, dann bin ich auch noch da!“ Little Horse lachte verhalten. Vielleicht konnte der Mann ja seine Gedanken lesen, schoss es Andrew durch den Kopf und er musste grinsen. Er holte tief Luft und antwortete dem Unbekannten, der tausend oder mehr Meilen entfernt war und dessen Einladung so unverhofft in seine Trauer einbrach, mit angehaltenem Atem: „Ja. Ja, ich würde gern kommen.“ Er stieß die Luft geräuschvoll aus und wartete.

      „Okay. Das Powwow beginnt morgen. Wir sehen uns dann!“

      Das Freizeichen ertönte.

      Prickelnde Aufregung und akuter Schlafmangel machten Andrew zu schaffen, als er am Freitag gegen ein Uhr mittags den kleinen Flugplatz von Pierre hinter sich ließ. Er saß in einem Mietwagen und fuhr, die ausgebreitete Straßenkarte von South Dakota neben sich auf dem Beifahrersitz, Richtung Süden. Nachdem Bernard Little Horse das gestrige Telefongespräch so abrupt beendet hatte, war Andrew nicht lange untätig geblieben, sondern hatte sich sofort nach einem Flug erkundigt. Mit viel Glück war es ihm gelungen, einen Sitzplatz in der kleinen Linienmaschine von Chicago nach Pierre zu ergattern. Der Nachtflug von New York nach Chicago war kein Problem gewesen. Nun war er hier.

      Zuerst kam es ihm so vor, als wäre er auf dem Mond gelandet. Die Eintönigkeit der Felder, die sich links und rechts von der Straße scheinbar endlos bis zum Horizont erstreckten, war schlicht und ergreifend überwältigend. Er fragte sich, wie das Reservat wohl aussehen mochte, als die Landschaft plötzlich ihr Gesicht veränderte. Die Felder wurden abgelöst von Gras. Gras, soweit das Auge reichte. Es spannte sich als ockergelber Teppich über die weite Ebene und rollte in grüner Pracht über die Hügel. Dann wieder stand es spröde und ausgedörrt auf trockener Erde, gesprenkelt mit Tausenden kleiner wilder Sonnenblumen. Andrew Maclean war fasziniert.

      Am Spätnachmittag erreichte er Rosebud.

      In die großartige Szenerie der Landschaft hatte sich erst wieder Eintönigkeit und später dann Trostlosigkeit eingeschlichen. Das Reservat glich einer Ansammlung von armseligen Hütten, schlechten Straßen, ein paar müden Rindern und herzlich wenigen Menschen. Kein Wunder, dass Molly auf und davon gelaufen war.

      Andrew hielt vor dem Tribal Office. Im Inneren des rötlichen Backsteingebäudes fragte er eine Frau, die gerade ihre Bürotür abschloss, nach Bernard Little Horse. Die Frau musterte ihn misstrauisch


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