Ermordet zwischen Sylt und Ostfriesland: 6 Küstenkrimis. Alfred Bekker
Dröver starrte ihn lange an. „Du gehst jetzt besser!“
Sein Nachfolger marschierte zur Rückfront des Gebäudes und verschwand durch die Tür nach draußen.
Winkels blickte ihm nach, und auf seinem Gesicht wurde allmählich ein immer breiter werdendes Grinsen sichtbar.
Er beschloss, vorerst keine weiteren Gespräche in der Seniorenresidenz zu führen. Es war besser, seinen Nachfolger nicht übermäßig zu reizen. Also würde er die anderen Mitglieder dieser ominösen Gruppe zu einem späteren Zeitpunkt besuchen. Er war sicher, mit seinen Informationen schon einen gewissen Vorsprung zu besitzen.
Dann schnippte er mit den Fingern.
Walter Köhler lag in der Klinik. Mit ihm würde er reden können, ohne dass Dröver Wind davon bekam. Falls er überhaupt von der Existenz der Gruppe erfuhr, die bereits um ein Drittel geschrumpft war.
Tjade Winkels gab eine Menge auf seine Erfahrung und auf seine Gefühle. Und die sagten ihm, dass sich hinter dieser kleinen Rentnergruppe ein Geheimnis verbarg. Ein Geheimnis, das für zwei Todesfälle verantwortlich war.
*
Harms Bellen hörte er schon von der Straße. Winkels wusste nicht, ob sein Hund ihn roch oder ob er seine Schritte identifizieren konnte, als er auf dem Plattenweg zur Haustür ging. Sein Auto hatte er auf der Straße geparkt. Hier gab es genügend Platz. Er besaß zwar eine Garage auf seinem Grundstück, war aber zu faul gewesen, erst auszusteigen und das Gartentor zu öffnen.
Im Briefkasten befanden sich nur die Zeitung und zwei Werbebriefe.
Harm begrüßte ihn stürmisch und sprang an ihm hoch. Er wusste genau, dass es jetzt Futter gab und danach einen Spaziergang.
„Moin, Harm“, sagte Winkels.
Und Harm antwortet mit einem Bellen.
„Ich muss dir eine seltsame Geschichte erzählen, Harm.“
Der Hund bellte.
„Ein neuer Fall. Was? Interesssiert dich nicht?“
Harm bellte nochmal.
„Jau, du kriegst erstmal Futter.“
Harm wedelte mit dem Schwanz.
Tjade Winkels öffnete mit einem Ruck an dem Metallring die Dose mit Rindfleisch und schüttete ihren Inhalt in den Napf. Anschließend füllte er den Wassernapf auf. Während Harm seine Mahlzeit beäugte, zog Tjade den Plastikdeckel eines Fertiggerichts ab, das für ihn selbst gedacht war.
Es hatte eine merkwürdige Farbe.
Harm hob im gleichen Moment den Kopf, und sie blickten sich in die Augen.
„Wollen wir tauschen?“ fragte Tjade.
Der Hund sah ihn aufmerksam an, als würde er überlegen, ob er diese Möglichkeit in Betracht ziehen sollte. Dann beugte er sich wieder über seinen Napf.
„Du hast recht“, sagte Winkels mit einem Seufzer und warf die Packung in den Mülleimer. Ein belegtes Brot würde es auch tun.
Sein Blick streifte durch den Raum. Früher hatte seine Frau ihm das Abendessen zubereitet, und sie hatten besprochen, wie ihr Tag verlaufen war. Jetzt war die Küche leer, seit der Scheidung. Ein paar flüchtige Affären waren nur ein schwacher Ersatz für die Zeit seiner Ehe.
Er seufzte. Es hatte keinen Sinn, sich Gedanken über das Vergangene zu machen. Vorbei war vorbei.
Er ließ sich in seinen Sessel plumpsen und griff nach der mitgebrachten Zeitung. Ein tödlicher Leitersturz wurde ohne Namensnennung des Betroffenen erwähnt, doch von einem vermutlichen Mord war nicht die Rede.
Die Polizei wollte einen möglichen Täter in Sicherheit wiegen, solange die ersten Untersuchungen andauerten. Die Ergebnisse der Autopsie würden vermutlich auch erst am nächsten Tag vorliegen.
Tjade sah auf seine Uhr. Für den Besuch im Krankenhaus war es noch nicht zu spät, aber er hatte eigentlich keine Lust, noch einmal das Haus zu verlassen, nachdem er den Hund ausgeführt hatte. Er stemmte sich wieder hoch, griff nach der Hundeleine und befestigte sie an Harms Halsband.
„Du glaubst doch auch, dass es sich um Mord handelt, oder?“
Harm wedelte einmal mit dem Schwanz.
„Und dass es mit dieser Rentnertruppe zu tun hat, ist ja wohl auch offensichtlich, nicht wahr?“
Harm sah ihn aufmerksam an und setzte sich wieder. Der Schwanz klopfte einmal auf den Boden,
„Dann sind wir uns ja einig“, sagte Winkels und öffnete die Tür.
*
Der Mann trug schwarze Kleidung. Das war seine Lieblingsfarbe. Er stand bewegungslos am Rand der Wallinghausener Straße und starrte zu dem riesigen Klinik-Komplex hinüber.
Herauszufinden, wo sich sein nächstes Opfer aufhielt, war nicht besonders schwer gewesen. Ein Anruf im Altenheim hatte ihm alles gesagt, was er wissen wollte. Die Dame in der Verwaltung hatte noch nicht einmal gefragt, wer er überhaupt war und weshalb er Walter Köhlers Aufenthaltsort wissen wollte.
Das war also die Ubbo-Emmius-Klinik. Er war noch nie hier gewesen.
Er grinste. Krankenhäuser waren für etwas für Alte und Gebrechliche.
Entschlossen überquerte er die Straße.
Trotz des frühen Abends herrschte noch viel Betrieb, auch wenn die normale Besuchszeit sicher schon vorbei war. Viele Fenster waren erleuchtet. Krankenwagen fuhren vor, weißgekleidetes Personal eilte hin und her.
Die gläsernen Türen des Haupteingangs öffneten sich automatisch. Er zupfte an der Folie seines billigen Blumenstraußes vom Discounter, der schon etwas zerknittert wirkte. Er hielt den Strauß deutlich sichtbar vor sich, während er zur Rezeption ging. Eigentlich wäre es ihm lieber gewesen, seinen Besuch auf die Nachtstunden zu legen, aber das war ihm dann doch zu riskant erschienen. Er wäre eher aufgefallen, und man hätte sich an ihn erinnern können.
Doch genau das wollte er unbedingt vermeiden!
Die ältere Dame am Empfang hob unwillig den Kopf, als er vor dem Tresen stand und sich räusperte.
„Moin.“
„Ich möchte meinen Onkel besuchen, Herrn Walter Köhler.“
„Das ist aber nun ein bisschen spät“, kam die vorwurfsvolle Antwort.
„Ich musste lange arbeiten.“ Er legte so viel Freundlichkeit in die Stimme, wie er aufbringen konnte. „Es geht nur um diese Zeit. Ich habe es bisher noch nicht geschafft. Er wird sich freuen, mich endlich zu sehen.“
Sie ließ sich erweichen und tippte auf ihrer Tastatur.
„Kardiologie“, sagte sie, ohne ihn anzusehen. „Dort drüben den Gang entlang. Achten Sie auf die Hinweisschilder. In der Abteilung müssen Sie nochmal fragen. Dort wird man entscheiden, ob Sie ihren Onkel noch sehen dürfen.“
„Tschüss.“
„Man kann auch danke sagen!“
„Danke“, presste er heraus. Ein Wort, das ihm nicht besonders lag.
Er machte sich auf den Weg und erreichte in einem anderen Gebäudeteil endlich die Kardiologie. So weit, so gut.
Allerdings wollte er hier nicht erneut nachfragen, in welchem Zimmer Walter Köhler lag. Das wäre zu auffällig gewesen, und er hatte vor, keine Spuren zu hinterlassen.
Die Tür zur Kardiologie schloss sich lautlos hinter ihm, und er stand in einem breiten Gang. Es war niemand zu sehen. Gleich zur linken Seite stand eine Tür halb offen. Dahinter war eine Art Abstellraum zu sehen. Betten, Matratzen und Kissen vor allem.
Er schlüpfte hinein.